Verpflichtung zur Gewährung höherer Leistungen nach SGB II wegen Mehrbedarfs für erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte
Antrag auf Gewährung von Mehrbedarf zur Teilhabe am Arbeitsleben
Umschulungsmaßnahme zum Immobilienkaufmann als Maßnahme der "beruflichen Rehabilitation"
Voraussetzungen für einen Anspruch auf Mehrbedarf zur Teilhabe am Arbeitsleben
Tatbestand
Im Rahmen eines Zugunstenverfahrens begehrt der Kläger die Gewährung von höheren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) wegen Mehrbedarfs für erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte.
Bei dem am 00.00.1963 geborenen Kläger ist ein Grad der Behinderung von 60 festgestellt. Er leidet u.a. an Morbus Chron, einem
Wirbelsäulensyndrom, einer Bandscheibenschädigung sowie einem Kniegelenksleiden. Der Kläger ist gelernter Schlosser, war jedoch
seit über 20 Jahren nicht mehr in seinem erlernten Beruf tätig. Er nahm daher in der Zeit vom 29.06.2009 bis 28.06.2011 an
einer Umschulung zum Immobilienkaufmann bei der D GmbH in E mit einer regelmäßigen wöchentlichen Umschulungszeit von 37,5
Stunden teil. Ausweislich des Bescheids vom 12.06.2009 förderte der Beklagte diese Umschulung durch Übernahme von Lehrgangs-
und Fahrtkosten als Leistung für die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme gemäß §§
77,
80,
81 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB III).
Der Kläger stand ferner seit 2005 im laufenden Leistungsbezug. In diesem Rahmen bewilligte der Beklagte ihm mit Bescheid vom
27.08.2009 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 17.12.2009, 27.01.1010 und 15.09.2010 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.09.2009 bis 28.02.2010 bestehend aus der Regelleistung i.H.v. 359 EUR, einem Mehrbedarf für kostenaufwändige
Ernährung i.H.v. 36,00 EUR sowie Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU). Am 27.11.2009 stellte der Kläger ergänzend einen
Antrag auf Gewährung von Mehrbedarf zur Teilhabe am Arbeitsleben, den der Beklagte mit Bescheid vom 27.01.2010 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2010 ablehnte. Der Kläger erhalte mit der Umschulung zum Immobilienkaufmann Leistungen
zur Förderung der beruflichen Weiterbildung nach §§ 77ff
SGB III und keine der in Paragraph 21 Abs. 4 SGB II genannten Leistungen. Ferner erfolge die Umschulungsmaßnahme nicht aufgrund der Behinderung des Klägers, sondern weil er
seit 27 Jahren nicht in seinem erlernten Beruf gearbeitet habe. Daher seien die Voraussetzungen für die Gewährung des Mehrbedarfs
nicht gegeben.
Hiergegen wandte sich der Kläger mit seiner Klage vom 25.06.2010, der das Sozialgericht mit Urteil vom 07.11.2014 für die
Zeit vom 01.09.2009 bis 28.02.2010 entsprochen hat. Der Beklagte sei zu verpflichten, die den Zeitraum betreffenden Leistungsbescheide
nach § 44 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu ändern und dem Kläger für die Zeit vom 01.09.2009 bis 28.02.2010 über die gewährten Leistungen hinaus weitere Leistungen
in Höhe von monatlich 125,65 EUR zu gewähren. Die den Zeitraum betreffenden bestandskräftigen Bewilligungsbescheide seien
insoweit rechtswidrig. Dem Kläger stünde ein Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II in der genannten Höhe zu. Die Anspruchsvoraussetzungen hätten vorgelegen. Bei dem Kläger handele es sich um eine erwerbsfähige
behinderte Person. Im Übrigen stelle die Umschulungsmaßnahme eine sonstige Hilfe zur Erlangung eines geeigneten Platzes im
Arbeitsleben im Sinne des § 21 Abs. 4 SGB II dar. Entgegen der Auffassung des Beklagten bedürfe es für die Gewährung eines Mehrbedarfs nach der Vorschrift keiner weiteren
Tatbestandsvoraussetzungen. Insbesondere müsse die Maßnahme weder einen unmittelbaren Bezug zu der bestehenden Behinderung
aufweisen noch müsse es das alleinige Ziel der jeweiligen Maßnahme sein, die behinderungsbedingten Vermittlungshemmnisse zu
beseitigen oder zu verringern. Die Vorschrift gewähre pauschalierend eine Erhöhung der Regelleistung und zwar unabhängig davon,
ob tatsächlich ein Mehrbedarf angefallen sei. Soweit das Begehren des Klägers im Klageverfahren auch auf die übrige Zeit des
Besuchs der Umschulungsmaßnahme gerichtet sei, sei dies nicht zulässig. Der angefochtene Überprüfungsbescheid vom 27.01.2010
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2010 beziehe sich allein auf den Bewilligungsabschnitt von September 2009
bis Februar 2010. Die sich auf die Folgezeiträume beziehenden Bewilligungsentscheidungen seien bestandskräftig.
Das dem Beklagten am 05.12.2014 zugestellte Urteil hat dieser mit der Berufung vom 17.12.2014 angefochten. Der Kläger habe
keinen Anspruch auf die Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 4 SGB II. Zunächst sei festzustellen, dass dem Kläger durch die Umschulungsmaßnahme kein konkreter Mehrbedarf entstanden sei. Solcher
sei aus der Aktenlage und dem Vortrag des Klägers nicht zu erkennen. Ferner handele es sich bei der Umschulung zum Immobilienkaufmann
nicht um eine Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben, denn die Maßnahme sei nicht mit dem Ziel durchgeführt worden, die wegen
seiner Behinderung beeinträchtigte Erwerbsfähigkeit des Klägers zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen. Die Umschulung
sei nur deshalb erforderlich gewesen, da der Kläger seit 27 Jahren nicht in seinem erlernten Beruf gearbeitet habe. Das BSG verlange als Anspruchsvoraussetzung einen unmittelbaren Bezug der Maßnahme zur Behinderung des Betroffenen. Dem ist der Kläger
entgegengetreten. Er hält das angefochtene Urteil des Sozialgerichts auch in seiner Begründung für zutreffend.
Wegen der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten, die der
Senat beigezogen und deren Inhalt er seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat, sowie auf den Vortrag der Beteiligten im Übrigen
verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte durch Beschluss nach §
153 Abs.
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) entscheiden, da die Beteiligten mit Schreiben vom 15.06.2015 auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind. Streitgegenstand
im Berufungsverfahren ist allein die Zeit vom 01.09.2009 bis 28.02.2010. Im Übrigen ist das Urteil rechtskräftig, da es von
dem Kläger nicht angefochten wurde. Der Senat kann daher dahinstehen lassen, ob die Entscheidung insoweit zu beanstanden wäre.
Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, die den
streitgegenständlichen Zeitraum betreffenden Leistungsbescheide zu ändern und dem Kläger zusätzlich einen monatlichen Mehrbedarf
i.H.v. 125,65 EUR zu gewähren. Die Bescheide waren insofern rechtswidrig, als dem Kläger ein Anspruch auf Bewilligung des
Mehrbedarfs nach §
21 Abs.
4 SGB III versagt blieb. Die Verpflichtung des Beklagten auf Änderung der Bescheide ergibt sich aus § 44 SGB X. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insofern auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts verwiesen. Der Senat
schließt sich diesen nach Überprüfung der Sach- und Rechtslage an (§
153 Abs.
2 SGG). Auch die Ausführungen des Beklagten im Berufungsverfahren führen zu keinem anderen Ergebnis.
Anspruchsgrundlage für den Mehrbedarf ist vorliegend § 21 Abs. 4 SGB II in der vom 01.08.2006 bis 02.06.2010 gültigen Fassung. Danach erhalten erwerbsfähige behinderte Hilfebedürftige, denen Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben nach §
33 SGB IX sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Hilfe zur Ausbildung für eine sonstige
angemessene Tätigkeit erbracht werden, einen Mehrbedarf von 35 vom 100 der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung.
Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger in der maßgeblichen Zeit. Er ist unstreitig eine behinderte Person im Sinne der Vorschrift,
denn bei ihm ist eine Schwerbehinderung im Sinne des §
2 SGB Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) festgestellt. Die Feststellung und deren Richtigkeit werden von dem Beklagten nicht in Zweifel gezogen. Auch der Senat hat
dazu keinen Anlass. Offenbleiben kann insofern, ob auch bei Vorliegen eines geringeren Grades der Behinderung oder fehlender
Feststellung der Behinderung durch die zuständige Behörde die Voraussetzung erfüllt sein kann.
Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die sonstige Voraussetzungalternative des Erhaltens einer Leistung zur Teilhabe
am Arbeitsleben nach §
33 SGB IX vorliegt. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist hierzu zunächst zu fordern, dass nur die tatsächliche Durchführung
der Maßnahme den Anspruch auslöst. Ferner wird die Teilnahme an einer regelförmigen Maßnahme vorausgesetzt, die sich innerhalb
eines organisatorischen Rahmens vollzieht, der eine Bezeichnung als Maßnahme rechtfertigt. In Abgrenzung hierzu genügen lediglich
kurze Gespräche nicht den geforderten Qualitäten. Daneben ist unerheblich, ob die Leistung durch den Grundsicherungsträger
durch Verwaltungsakt bewilligt worden ist; ausreichend ist vielmehr, dass die Leistungsgewährung auf Veranlassung des Grundsicherungsträgers
oder eines anderen Sozialleistungsträgers erfolgt (vgl. zu den Voraussetzungen insgesamt BSG, Urteil vom 25.06.2008, B 11b AS 01.09.2007 R; BSG, Urteil vom 06.04.2011, B 4 AS 3/10 R). Diese Voraussetzungen liegen hier unstreitig vor.
Bei der Umschulungsmaßnahme zum Immobilienkaufmann handelt es sich ferner um eine solche zur Teilhabe am Arbeitsleben nach
§
33 SGB IX. Für die Bestimmung ist allein auf den Inhalt und Schwerpunkt der Maßnahme abzustellen. Es kommt allein darauf an, ob die
Maßnahme final auf die in §
33 Absatz
1 SGB IX umschriebenen Ziele der Sicherung der Teilhabe am Arbeitsleben Leben ausgerichtet ist. In einem solchen Fall stellt sie eine
Maßnahme der "beruflichen Rehabilitation" dar, deren Besuch den Anspruch auf Mehrbedarf auslöst (BSG, Urteil 06.04.2011, B 4 AS 3/10 R). Dies ist bei der Umschulung zum Immobilienkaufmann unzweifelhaft der Fall. Sie dient nahezu ausschließlich der Vermittlung
von Kenntnissen und Fähigkeiten, die den Kläger in die Lage versetzen sollen, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Sie ist damit
unzweifelhaft eine Maßnahme der beruflichen Rehabilitation unabhängig davon, ob bei der Leistungsgewährung die Behinderung
des Klägers oder seine fehlende Beziehung zum Arbeitsmarkt im Vordergrund stand. Der formale Grund der Leistungsbewilligung
tritt bei der vorzunehmenden Abgrenzung in den Hintergrund. Käme es darauf an, hätte auch das BSG in dem von ihm entschiedenen Fall die nach den oben dargestellten Grundsätzen erfolgte Prüfung nicht durchführen müssen sondern
allein auf die Bewertung der Rechtsgrundlagen für die bewilligte Maßnahme abstellen können. Denn die dort einzustufende Leistungsbewilligung
erfolgte unzweifelhaft als Maßnahme zur Behandlung einer akuten Erkrankung und basierte auf einer entsprechende Ermächtigungsgrundlage
aus dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuches (
SGB V).
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§
160 Abs.
2 SGG). Die Einzelfallentscheidung orientiert sich an der ständigen Rechtsprechung des BSG.