Keine Anerkennung einer Berufskrankheit Nr. 2106 BKVO (Druckschädigung der Nerven) in der gesetzlichen Unfallversicherung bei einer MdE-Einschätzung von unter 20 v.H.
Tatbestand
Im Streit steht ein Anspruch auf Rente.
Die Beklagte erkannte bei dem 1956 geborenen Kläger das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2106 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung (BK 2106) an mit den Folgen: Zustand nach operativer Dekompression des Nervus ulnaris links, Atrophie im Bereich der linken
Ellenbogenseite, leichtgradige Sensibilitätsstörungen im Bereich des linken Ring- und Kleinfingers und diskrete motorische
Einschränkungen der Daumen-/Kleinfingeropposition beim Greifen und Tragen schwerer Gegenstände. Einen Anspruch auf Rente verneinte
sie (Bescheid vom 25.08.2015), gestützt auf ein neurologisch/psychiatrisches Gutachten von Prof. Dr. U, Direktor der neurologischen
Klinik und Poliklinik des berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums C C, vom 25.06.2015 (Untersuchung einschließlich
elektrophysiologischer Zusatzdiagnostik vom 18.06.2015), der den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 10 v.H.
eingeschätzt hatte. Auf das Gutachten wird Bezug genommen.
Mit seinem Widerspruch vertrat der Kläger die Auffassung, die MdE sei zu niedrig eingeschätzt und müsse mindestens 20 v.H.
betragen. Er könne seine Tätigkeit als Trockenbauer und andere handwerkliche Berufe künftig nicht mehr ausüben. Der Gebrauch
der linken Hand sei erheblich eingeschränkt.
Nach Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme von Prof. Dr. T wies die Beklagte den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid
vom 22.03.2016). Der Nervus ulnaris sei nicht vollständig ausgefallen. Es seien leichtgradige Sensibilitätsstörungen ohne
neuropathisches Schmerzsyndrom sowie allenfalls geringfügige motorische Einschränkungen der Daumen-/Kleinfingeropposition
festgestellt worden. Dies rechtfertige keine höhere MdE-Einschätzung. Eine Anhebung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit
im Sinne des §
56 Abs.
2 S. 3 des
Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII) komme nicht in Betracht, denn in dem vom Kläger ausgeübten Anlernberuf eines Trockenbauers habe er keine besonderen beruflichen
Kenntnisse und Erfahrungen im Sinne dieser Vorschrift erworben, durch die er eine besonders günstige Stellung im Erwerbsleben
erlangt habe.
Hiergegen hat der Kläger am 13.04.2016 Klage erhoben und weiter eine höhere MdE von mindestens 20 v.H. für zutreffend gehalten.
Dafür hat er sich auf ein in einem um die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) geführten Rechtsstreit (Sozialgericht Münster,
S 16 SB 875/15) eingeholtes Gutachten des Orthopäden Dr. T1, Oberarzt am St. G-Hospital N, bezogen. Dieser hatte den Gesamt-GdB mit 20 bemessen,
analog Teil B Ziff. 18.14 der "Versorgungsmedizinischen Grundsätze", wonach der vollständige Ausfall des Nervus ulnaris proximal
oder distal mit einem GdB von 30 zu bewerten sei. Der Kläger hat außerdem ein Protokoll über seine Beschwerden der linken
Hand in einem 2-wöchigen Zeitraum vorgelegt, wonach wiederholt Verkrampfungen aufgetreten seien und die Vermeidung von Verkrampfungsereignissen
seinen Alltag bestimme. Auf die Anlage zum klägerischen Schriftsatz vom 19.07.2017 und auf das Gutachten von Dr. T1 wird Bezug
genommen.
Das Sozialgericht (SG) ist von dem Antrag des Klägers ausgegangen,
unter Abänderung des Bescheides vom 25.08.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.03.2016 die Beklagte zu verurteilen,
ihm wegen der Folgen der BK 2106 Rente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu
gewähren.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat weitere medizinische Unterlagen der behandelnden Ärzte des Klägers und ein von ihr im Rahmen einer Nachuntersuchung
eingeholtes neurologisches Gutachten des Prof. Dr. T2, Leitender Arzt der Klinik für Neurologie - Bewegungsstörungen und Neuromodulation
- der I-Universität E, vom 21.04.2017 vorgelegt. Prof. Dr. T2 hat sein Gutachten, auf dessen näheren Inhalt Bezug genommen
wird, auf der Grundlage einer klinisch-neurologischen Untersuchung und neuropsychologischer Zusatzuntersuchungen vom 20.12.2016
erstattet. Dabei hat er den Beschwerdevortrag des Klägers berücksichtigt, wonach dieser ein Taubheitsgefühl am Endglied des
linken Ringfingers und am End- und Mittelglied des linken kleinen Fingers sowie ein bei motorischer Belastung zunehmendes
Verkrampfungsgefühl mit häufigerem Zucken der Muskeln im linken Kleinfingerballen habe. Die Kraft sei im Wesentlichen normal,
aber bei bestimmten Tätigkeiten könne der Arm manchmal ausschlagen. Bei längeren Haltetätigkeiten, z.B. beim Posaunenspielen,
könne es zu krampfartigen Schmerzen kommen, so dass er die Haltung aufgeben müsse. Prof. Dr. T2 hat die funktionelle Beeinträchtigung
durch das Sulcus-ulnaris-Syndrom als gering eingestuft. Die MdE betrage 10 v.H. seit dem 23.03.2015.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens nach §
109 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) von Dr. G, Oberarzt der orthopädischen Klinik des Sankt G-Hospitals N, auf dessen näheren Inhalt verwiesen wird. Auch dieser
hat die MdE auf 10 v.H. eingeschätzt und hervorgehoben, dass er in der Einschätzung der Befunde und der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit
im Wesentlichen mit den Ausführungen von Prof. Dr. U im Gutachten vom 25.06.2015 und Prof. Dr. T2 vom 21.04.2017 übereinstimme.
Das SG hat mit Urteil vom 09.08.2018 - im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§
124 Abs.
2 SGG) - die Klage abgewiesen und sich dafür auf die Gutachten von Prof. Dr. U und Prof. Dr. T2 gestützt, die beide die MdE mit
10 v.H. eingeschätzt hätten und deren Ergebnis auch Dr. G bestätigt habe. Diese Einschätzung stimme mit den Erfahrungswerten
in der gesetzlichen Unfallversicherung überein. Der vollständige Ausfall des Nervus ulnaris bedinge eine MdE um 20 v.H. (Bezug
auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., Seite 252). Bei dem Kläger bestehe jedoch
kein vollständiger Ausfall, sondern eine als gering einzustufende funktionelle Beeinträchtigung. Weitere Beweiserhebung, etwa
die vom Kläger angeregten Belastungstests, seien nicht erforderlich.
Gegen das dem Kläger am 17.08.2018 zugestellte Urteil richtet sich dessen Berufung vom 12.09.2018. Der Kläger beanstandet,
dass das SG sich nicht selbst ein Bild vom Kläger gemacht und die Sachverständigen in mündlicher Verhandlung angehört habe. Er beanstandet
ferner, dass kein Belastungstest durchgeführt worden sei. Bei ihm stellten sich bei Belastung unvorhersehbar in den linken
Unterarm und die linke Hand einschießende Schmerzen ein, die zu einer Verkrampfung der linken Hand führten. Sein Arm zucke
dann unkontrollierbar in unterschiedliche Richtungen. Den Schmerz und das Zucken könne er nicht kontrollieren und willentlich
steuern
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des SG Münster vom 09.08.2018 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihren Bescheid vom 25.08.2015 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 22.03.2016 aufzuheben und dem Kläger eine Verletztenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen
zu zahlen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie legt den ärztlichen Abschlussbericht vor über eine berufsgenossenschaftliche stationäre Weiterbehandlung vom 07.08.2018
bis zum 28.08.2018 in der Klinik N, Bad S. Auf den Bericht vom 06.09.2018 wird verwiesen.
Der Senat hat mit Richterbrief vom 17.12.2018 darauf hingewiesen, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme mit einer Zurückweisung
der Berufung zu rechnen sei und dass damit zu rechnen sei, dass diese Zurückweisung durch Beschluss nach §
153 Abs.
4 SGG erfolgen werde, wenn die Berufsrichter des Senates übereinstimmend zu dem Ergebnis kommen, dass die Berufung unbegründet
und eine mündliche Verhandlung entbehrlich sei. Der Klägerbevollmächtigte hat um Verlängerung der bis zum 31.01.2019 gesetzten
Stellungnahmefrist bis zum 22.02.2019 gebeten. Ein Posteingang war nicht zu verzeichnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze
und den weiteren Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte die Berufung durch Beschluss zurückweisen, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung
nicht für erforderlich hält. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil der Fall keine Schwierigkeiten in tatsächlicher
oder rechtlicher Hinsicht aufweist und zur Gewährung effektiven Rechtschutzes eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich
erscheint. Die Beteiligten sind dazu schriftlich angehört worden. Der Entscheidung durch Beschluss steht nicht entgegen, dass
auch das Sozialgericht ohne mündliche Verhandlung (§
124 Abs.
2 SGG) entschieden hat, denn die Beteiligten haben in erster Instanz auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Bescheid vom 25.08.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.03.2016 ist rechtmäßig
und beschwert den Kläger nicht in seinen Rechten (§
54 Abs.
2 Satz 1
SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen der anerkannten BK 2106.
Nach §
56 Abs.
1 Satz 1 und
2 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Rente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles - hier: einer BK 2106
- über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. oder bei Vorliegen eines Stützrententatbestandes um 10 v.H. gemindert ist.
Bei Verlust der Erwerbsfähigkeit wird Vollrente, bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wird Teilrente geleistet.
Sie wird in der Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festgesetzt, der dem Grad der MdE entspricht (§
56 Abs.
3 SGB VII).
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen kann der Kläger keine Rente beanspruchen, denn ein Grad der MdE von wenigstens
20 v.H. wird durch die BK-Folgen nicht verursacht. Ein Stützrententatbestand liegt nicht vor. Die MdE aufgrund der anerkannten
und von den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gehörten Ärzten und Sachverständigen bestätigten Unfallfolgen ist entgegen
der Auffassung des Klägers nicht mit mehr als 10 v.H. zu bemessen. Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung
des Gerichts, das diese gemäß §
128 Abs.
1 Satz 1
SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (st. Rspr., z.B. BSG, Urteil vom 18.01.2011, - B 2 U 5/10 R, SozR 4-2700 § 200 Nr 3; vom 5.9.2006 - B 2 U 25/05 R - SozR 4-2700 § 56 Nr 2). Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind
dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche,
gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (vgl. BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 14/03 R - BSGE 93, 63 = SozR 4-2700 § 56 Nr 1).
Deshalb kann im Rahmen der MdE-Einschätzung zunächst der Vorschlag eines GdB von 20 durch Dr. T1 keine Berücksichtigung finden.
Denn schon der von ihm aufgrund der "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" für eine vollständige distale oder proximale Ulnaris-Lähmung
angesetzte Vergleichswert eines GdB von 30 liegt höher als in der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin,
a.a.O. S. 252: Ulnaris-Ausfall proximal 25 v.H., distal 20 v.H.).
Zu Recht hat sich das SG darum in seiner klageabweisenden Entscheidung allein auf die übereinstimmende Einschätzung sämtlicher im die BK-Folgen betreffenden
Verwaltungs- und Klageverfahren gehörter Ärzte und Sachverständigen stützen können. Diese haben alle den Grad der MdE beim
Kläger in Anwendung der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Erfahrungswerte unterhalb einer rentenberechtigenden
MdE von 20 v.H. gesehen. Ihnen allen waren dabei die Beschwerden und Einschränkungen, unter denen der Kläger zu leiden hat,
durchaus bekannt, ohne dass - etwa im Gutachten von Prof. Dr. T2 - Zweifel am Wahrheitsgehalt der Schilderungen des Klägers
deutlich geworden wären. Dem Gutachter des Vertrauens Dr. G lag bei seiner Einschätzung sogar schon das unter dem 19.07.2017
vorgelegte Langzeitprotokoll des Klägers vor. Gerade Dr. G hat aber auch ausführlich begründet, warum die MdE von 20 v.H.
nicht erreicht wird, nämlich weil höhergradige motorische oder sensible Störungen der linken Hand fehlen, weil die für die
Handfunktionen besonders wichtigen drei radialen Finger Daumen, Zeige- und Ringfinger keine Funktionsstörung zeigen und weil
auch im Vergleich mit Fingerverlusten der Kläger günstiger gestellt ist, als Verletzte, bei denen eine MdE von 20 v.H. erreicht
wird. Eine Anhebung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit im Sinne des §
56 Abs.
2 S. 3
SGB VII kommt aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Widerspruchsbescheides nicht in Betracht.
Aus dem Bericht der Klinik N vom 06.09.2018, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine
wesentliche Verschlechterung der BK-Folgen. Im Gegenteil ist von einer etwas rückläufigen Schmerzsituation - Schmerzen im
Ellenbereich seien nicht mehr vorhanden - und geringfügig nachlassenden Verkrampfungen in den letzten 2 Jahren die Rede. Weitere
Beweiserhebung drängte sich vor diesem Hintergrund nicht auf.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.