Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im sozialgerichtlichen Verfahren; Vorwerfbarkeit des Fristversäumnisses; Verschulden
Gründe:
I. Bezüglich des Sachverhalts nimmt der Senat nach §
142 Abs.
2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) auf die zutreffenden Gründe (I) im Beschluss des Sozialgerichts (SG) Altenburg vom 29. September 2010 Bezug. Ergänzend führt der Senat hierzu wie folgt aus: Der Beschluss vom 29. September
2010, mit dem das SG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (Az.: S 30 KR 1169/10) gegen den Bescheid vom 15. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2010 abgelehnt hat, ist dem Beschwerdeführer
am 2. Oktober 2010 mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden. Laut Aktenvermerk vom 3. November 2010 hat die Steuerberaterin
des Beschwerdeführers - A. L. - an diesem Tag bei der Geschäftsstelle der 30. Kammer des SG in Gera angerufen und dort erklärt, sie habe bereits am Vortag beim SG in Altenburg angerufen und die Auskunft erhalten, dass die Geschäftsstelle in Gera zuständig sei. Weiter hat sie ausgeführt,
der Beschwerdeführer habe sich an sie gewandt mit der Bitte, sich um den Fall zu kümmern. Er habe ihr nur das Anschreiben
des SG zur Verfügung gestellt, das dem Beschluss beigelegen habe. Sie hat nach Möglichkeiten angefragt, etwas gegen den Beschluss
zu unternehmen und um Rückruf gebeten. Der Vorsitzende der 30. Kammer hat Frau Lorenz laut Aktenvermerk in einem am gleichen
Tag geführten Telefongespräch auf die Notwendigkeit der Vorlage einer Prozessvollmacht hingewiesen und ihr allgemein erläutert,
dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Wiedereinsetzung erfolgen kann. Am 3. November 2010 haben die Prozessbevollmächtigten
eine vom Beschwerdeführer am 3. November 2010 unterzeichnete Prozessvollmacht per Fax an das SG übermittelt. Mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2010 haben sie sich erneut an das SG gewandt und ausgeführt am 2. November 2010 sei beim Verwaltungsgericht Gera Wiedereinsetzung beantragt worden. Der Beschwerdeführer
sei der Ansicht gewesen, dass die Frist für die Beschwerde erst am 4. November 2010 ende, da er davon ausgegangen sei, dass
hier ähnlich wie im Steuerrecht, eine Postlaufzeit von drei Tagen angenommen werde und damit der 4. November 2010 (gemeint
wohl der 4. Oktober 2010) als Tag der Bekanntgabe gelte. Am 6. Januar 2011 ist der Rechtsstreit beim Thüringer Landessozialgericht
eingegangen.
Die Berichterstatterin hat den Beschwerdeführer mit Verfügung vom 13. Januar 2011 darauf hingewiesen, dass die Beschwerde
nicht innerhalb der Frist des §
173 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) erhoben wurde und Gründe für eine Wiedereinsetzung nicht ersichtlich sind.
Die Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers haben nach Hinweis, dass eine Vertretung nach §
73 Abs.
2 Nr.
4 SGG nicht möglich ist, das Mandat mit Schriftsatz vom 11. März 2011 niedergelegt.
Der Beschwerdeführer hält an seiner Ansicht fest.
Er beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Altenburg vom 29. September 2010 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen
den Bescheid vom 15. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2010 (Az.: S 30 KR 1169/10) und die Aufhebung der Vollziehung anzuordnen.
Die Beschwerdegegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf die Gründe (II.) des Beschlusses des SG vom 29. September 2010.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Beschwerdeakte, der beigezogenen
Gerichtsakte des SG Altenburg (Az.: S 30 KR 1169/10) und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beschwerdegegnerin Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidung war.
II. Die nach § 172 Abs. 1 statthafte Beschwerde ist unzulässig.
Nach §
173 SGG ist die Beschwerde binnen eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung beim Sozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift
des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen; § 181 des Gerichtsverfassungsgesetzes bleibt unberührt. Die Beschwerdefrist
ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des
Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.
Der mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung versehene Beschluss des SG Altenburg vom 29. September 2010 wurde dem Beschwerdeführer
nach der in der Akte enthaltenen Postzustellungsurkunde am 2. Oktober 2010 durch persönliche Übergabe (§
177 der
Zivilprozessordnung (
ZPO)) zugestellt. Die Frist zur Einlegung der Beschwerde endete somit am 2. November 2010 (§
64 Abs.
2 SGG). Eine Beschwerde ist bis zum Ablauf des 2. November 2010 beim SG oder beim Thüringer Landessozialgericht nicht eingegangen.
Der Beschwerdeführer hat auch keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §
67 Abs.
1 SGG.
Nach §
67 SGG ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand zu gewähren (Abs. 1). Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die
Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung
nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (Abs. 2).
Es kann dahinstehen, ob die telefonische Anfrage der Steuerberaterin des Beschwerdeführers am 3. November 2010 - nicht am
2. November 2010 - beim SG, was gegen den Beschluss unternommen werden könne und die am gleichen Tag ohne weitere Erläuterung per Fax übermittelte Prozessvollmacht
als Beschwerde und Antrag auf Wiedereinsetzung auszulegen ist, weil nicht ersichtlich ist, dass die Beschwerdefrist ohne Verschulden
versäumt worden ist. Dies setzt voraus, dass der Betroffene diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem gewissenhaften Prozessführenden
nach den gesamten Umständen nach allgemeiner Verkehrsanschauung zuzumuten ist. Die Versäumnis der Verfahrensfrist darf auch
bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht vermeidbar gewesen sein. Dabei haben juristisch nicht geschulte Privatpersonen
ebenfalls eine Sorgfaltspflicht, müssen die Rechtsmittelbelehrung beachten und sich notfalls erkundigen. Für die Vorwerfbarkeit
der Fristversäumnis kommt es auf die persönlichen Verhältnisse, insbesondere auch den Bildungsgrad an. Besteht auch nur die
Möglichkeit einer unverschuldeten Fristversäumnis, scheidet die Wiedereinsetzung aus (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl. 2008, §
67 Rn. 3 und 8, m.w.N.). Im vorliegenden Fall war der Rechtsmittelbelehrung des Beschlusses vom 29. September 2010 eindeutig
zu entnehmen, dass die Beschwerde innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich oder zur Niederschrift
des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen ist. Hieran war der Beschwerdeführer nicht gehindert. Auch sein Irrtum darüber,
wann die Rechtsmittelfrist endet, rechtfertigt nicht sein diesbezügliches Versäumnis.
Bei einem Rechtsirrtum trifft den Beteiligten nur ganz ausnahmsweise dann kein Verschulden, wenn er den Irrtum auch bei sorgfältiger
Prüfung nicht vermeiden konnte, was in der Regel zu verneinen ist (vgl. Keller, aaO. § 67 Rn. 8a, m.w.N.). Nachdem aus den
Akten ersichtlichen intellektuellen Stand des Beschwerdeführers - einem Apotheker - hat der Senat keine Zweifel, dass er die
Rechtsmittelbelehrung des Beschlusses verstehen und sich danach richten konnte.
Auch wenn eine der am 3. November 2010 beauftragten Prozessbevollmächtigten bereits am 2. November 2010 beim SG angerufen und dort die Auskunft erhalten hat, dass die Außenstelle Gera zuständig sei, würde dies keine Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand rechtfertigen. Es bestand keine Verpflichtung des SG einer nicht am Verfahren beteiligten Person ohne Prozessvollmacht Auskünfte über das mit Beschluss vom 29. September 2010
abgeschlossene Verfahren zu erteilen. Die Möglichkeit der Einlegung der Beschwerde ergibt sich zudem aus der dem Beschluss
vom 29. September 2010 angefügten Rechtsmittelbelehrung. Diesen Beschluss hat der Beschwerdeführer den Prozessbevollmächtigten,
an die er sich erst am letzten Tag des Ablaufs der Frist mit dem Auftrag "sich um den Fall zu kümmern" wandte, allerdings
nicht ausgehändigt, sondern er hat lediglich das Anschreiben des SG übergeben. Auch hierin ist ein Verschulden des Beschwerdeführers zu sehen, weil er es versäumt hat sicherzustellen, dass
die Beschwerde noch innerhalb der Rechtsmittelfrist eingelegt wird.
Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).