Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin vom 1.3.2012 bis zum 31.8.2013 unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern Ausbildungsgeld
zu gewähren ist.
Die 1992 geborene Klägerin leidet unter einer seelischen Behinderung (schwere Depressionen seit Januar 2009). Vom 1.9.2010
bis zur Teilnahme an der Abschlussprüfung im August 2013 absolvierte sie beim Annedore-Leber-Berufsbildungswerk in B eine
Ausbildung zur Bürokauffrau. Leistungen zur Förderung dieser Ausbildung hatte die Klägerin vor Beginn der Maßnahme bei der
Beklagten beantragt. Im streitigen Zeitraum lebte sie bis einschließlich April 2012 im Internat des Berufsbildungswerks, seit
Mai 2012 dann in einer eigenen Wohnung in B zu Mietkosten in Höhe von monatlich 500 Euro. Als ihren Hauptwohnsitz gab die
Klägerin durchgehend die Anschrift ihrer in gemeinsamer Wohnung zusammenlebenden verheirateten Eltern in Be an.
Während die Beklagte weiterhin die Übernahme der Lehrgangskosten bewilligte, wurde die bis dahin ebenfalls erfolgte Gewährung
von Ausbildungsgeld für die Zeit ab dem 1.3.2012 mit der Begründung abgelehnt, dass der Klägerin in Gestalt des Einkommens
ihrer Eltern ausreichend Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung stünden (Bescheid vom 6.12.2011), wogegen
die Klägerin keinen Widerspruch erhob.
Stattdessen beantragte die Klägerin im Zuge ihres Umzugs in die eigene Wohnung eine diesen Umstand würdigende erneute Bescheidung
ihrer Leistungsansprüche. Daraufhin erließ die Beklagte einen "Änderungsbescheid zum Bescheid vom 6.12.2011" (Bescheid vom
8.5.2012). Mit diesem wurden die Lehrgangskosten wiederum bis zum Ausbildungsende bewilligt, die Gewährung von Ausbildungsgeld
indes sowohl für die im Internat verbrachte Zeit vom 1.3.2012 bis zum 30.4.2012, als auch für die neue Lebenssituation ab
dem 1.5.2012 abgelehnt, weil auch unter Berücksichtigung der durch den Umzug erhöhten Lebenshaltungskosten nach wie vor im
gesamten Zeitraum ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts aus dem elterlichen Einkommen zur Verfügung stünden.
Den gegen die Einkommensanrechnung gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit der Begründung zurück, von der Anrechnung
elterlichen Einkommens dürfe im vorliegenden Fall - eigener Hausstand der Klägerin - erst dann abgesehen werden, wenn die
Eltern auch voneinander getrennt lebten (Widerspruchsbescheid vom 22.8.2012).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 8.5.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.8.2012 verurteilt,
der Klägerin Ausbildungsgeld im gesetzlichen Umfang ohne Anrechnung von Elterneinkommen für die Zeit vom 1.3.2012 bis zum
31.8.2013 zu gewähren (Urteil des SG Lüneburg vom 10.1.2013), das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten
zurückgewiesen (Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.10.2013). Zur Begründung haben beide Gerichte ausgeführt, die Frage
der Anrechnung des Einkommens nicht getrennt lebender Eltern zulasten eines in eigenem Hausstand lebenden behinderten Auszubildenden
sei durch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18.5.2010 (B 7 AL 36/08 R - BSGE 106, 141 = SozR 4-4300 § 108 Nr 1) bereits zugunsten der Klägerin entschieden; maßgebliche Anknüpfungstatsache für die Anrechnung
elterlichen Einkommens dürfe demnach allein ein Zusammenleben des behinderten Auszubildenden mit seinen Eltern sein.
Mit der vom LSG zugelassenen, auf die Verletzung sowohl des §
108 Abs
2 Nr
2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB III) in der bis zum 31.3.2012 geltenden Fassung (aF), als auch des §
126 Abs
2 Nr
2 SGB III in der ab dem 1.4.2012 gültigen Fassung gestützten Revision wendet sich die Beklagte gegen ihre Verurteilung zur Gewährung
von Ausbildungsgeld. Ihrer Ansicht nach ergebe bereits der jeweilige Wortlaut der Norm, dass es auf die Frage, ob und gegebenenfalls
bei wem der behinderte Mensch lebe, nur dann ankomme, wenn ein Elternteil verwitwet sei oder die Eltern getrennt lebten. Bei
nicht getrennt lebenden Eltern sei daher das Einkommen oberhalb des gesetzlich normierten Freibetrags ungeachtet der Frage
anzurechnen, ob der behinderte Auszubildende bei seinen Eltern lebe oder nicht. Dieser Auslegung stehe schließlich auch das
Urteil des BSG vom 18.5.2010 (B 7 AL 36/08 R - BSGE 106, 141 = SozR 4-4300 § 108 Nr 1) nicht entgegen, weil dieses sich allein zu der Frage verhalte, was im Falle getrennt lebender beziehungsweise
geschiedener Eltern zu gelten habe, wenn der behinderte Auszubildende bei keinem Elternteil lebe. Zudem sei während des streitigen
Zeitraumes als Hauptwohnsitz der Klägerin ihr Elternhaus in Be benannt gewesen, sodass die Klägerin dort auch "gelebt" habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. Oktober 2013 sowie das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg
vom 10. Januar 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die vorinstanzlichen Entscheidungen für zutreffend.
II
Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§
170 Abs
1 S 1
Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen.
Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs
1 und 4, §
56 SGG) ist begründet. Eine Sachentscheidung kann ergehen, obwohl der das Ausbildungsgeld verwehrende Bescheid vom 6.12.2011 nicht
mit einem Widerspruch angegriffen und damit zunächst bestandskräftig geworden ist (§
77 SGG). Denn soweit der als "Änderungsbescheid zum Bescheid vom 6.12.2011" betitelte Bescheid vom 8.5.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 22.8.2012 auf einen gesonderten Antrag der Klägerin zurückgeht und nach neuerlicher sachlicher Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen
für die Zeit vom 1.3.2012 bis 31.8.2013 die Gewährung von Ausbildungsgeld der Höhe nach unter Anrechnung elterlichen Einkommens
teilweise verweigert, eröffnet er als Zweitbescheid eigenständig den Rechtsweg in dieser Sache (vgl BSGE 84, 22 f = SozR 3-8100 Art 19 Nr 5; BSG SozR 3-4100 § 94 Nr 1 jeweils mwN).
Der Bescheid vom 8.5.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.8.2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in
ihren Rechten. Denn die Klägerin hat nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§
163 SGG) für den streitigen Zeitraum einen Anspruch auf die Gewährung von Ausbildungsgeld ohne die leistungsmindernde Anrechnung
von Einkommen ihrer Eltern.
Zu dessen Bestimmung bleiben nach §
422 Abs
1 Nr
3 SGB III aF vorliegend die Regelungen des
SGB III aF über den 31.3.2012 hinaus bis zum Ende des streitbefangenen Zeitraums anwendbar. Denn die das Geschehen sachlich zu einer
Einheit verklammernde Ausbildung zur Bürokauffrau stellt die Maßnahme iS des §
422 Abs
1 Nr
3 SGB III aF dar, die vor der Änderung des
SGB III zum 1.4.2012 begonnen und bis zu deren Beginn die Klägerin entsprechende Teilhabeleistungen bei der Beklagten beantragt hatte.
Der unter dem 8.5.2012 beschiedene Antrag auf erneute Entscheidung ist im Lichte der durch §
422 Abs
1 Nr
3 SGB III aF bezweckten Regelungssicherheit für die Beteiligten des Rehabilitationsgeschehens erkennbar nur darauf gerichtet, eine
Aktualisierung der Leistungsgewährung nach dem zur Fortgeltung bestimmten bisherigen Recht zu ermöglichen.
Gemäß §
104 Abs
1 Nr
1 SGB III aF haben behinderte Menschen Anspruch auf Ausbildungsgeld während einer beruflichen Ausbildung, wenn - wie hier aufgrund
mangelnder Vorbeschäftigungszeiten nach §
160 SGB III aF - ein Übergangsgeld nicht erbracht werden kann.
Während die Klägerin im Internat des Berufsbildungswerks untergebracht war, bemaß sich ihr monatlicher Bedarf nach §
104 Abs
1 Nr
1, Abs
2, §
105 Abs
1 Nr
2 SGB III aF, mit dem Bezug der eigenen Wohnung nach §
104 Abs
1 Nr
1, Abs
2, §
105 Abs
1 Nr
4 SGB III aF.
Welche Einkommen auf das Ausbildungsgeld anzurechnen sind, regelt §
108 SGB III aF. Nach §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF bleibt bei der Einkommensanrechnung anrechnungsfrei "das Einkommen der Eltern bis 2909 Euro monatlich, des verwitweten
Elternteils oder bei getrennt lebenden Eltern, das Einkommen des Elternteils, bei dem der behinderte Mensch lebt, ohne Anrechnung
des Einkommens des anderen Elternteils, bis 1813 Euro monatlich".
Was die Anrechnung von Einkommen nicht getrennt lebender Elternpaare anbelangt, differenziert der Wortlaut des §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF nicht danach, wo der behinderte Mensch lebt. Das könnte nahelegen, dass in allen Fällen, also auch bei einem im eigenen
Haushalt lebenden behinderten Menschen wie der Klägerin, eine Anrechnung des Einkommens der nicht getrennt lebenden Eltern
jenseits des Freibetrags von 2909 Euro vorzunehmen sei. Dies übersähe jedoch, warum bei getrennt lebenden Eltern darauf abgestellt
wird, ob der behinderte Mensch bei einem Elternteil lebt.
§ 104 Abs 1 Nr 1 und Abs
2, §
105 Abs
1 Nr
4, §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF sind dahin auszulegen, dass behinderten Menschen im Grundsatz Ausbildungsgeld unabhängig vom Einkommen der Eltern gewährt
werden soll. Im Rahmen des §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF soll elterliches Einkommen durchweg nur dann zu einer Minderung des Ausbildungsgeldanspruchs führen, wenn der behinderte
Mensch mit diesen in häuslicher Gemeinschaft lebt.
Dies ergibt sich maßgeblich aus der Entstehungsgeschichte der Norm, während zugleich ein Rückgriff auf die Regeln zur Berücksichtigung
elterlichen Einkommens im Bereich der Berufsausbildungsbeihilfe (§
71 Abs
2 SGB III aF iVm § 25 Bundesausbildungsförderungsgesetz [BAföG]) ausscheidet, weil §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF insoweit abschließend etwas iS des §
104 Abs
2 SGB III aF Abweichendes bestimmen will (BSG Urteil vom 18.5.2010 - B 7 AL 36/08 R - BSGE 106, 141 = SozR 4-4300 § 108 Nr 1 mwN).
Im Rahmen der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung (Arbeitsförderungs-Reformgesetz [AFRG])
wird zu dem später ohne Änderung verabschiedeten §
108 SGB III aF ausgeführt, die Vorschrift regele "die Anrechnung von Einkommen auf die Bedarfssätze in Übernahme des geltenden Rechts
(§ 27 Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit über die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter [A Reha]"
(BT-Drucks 13/5676, S 3, Anl 1; 13/4941, S 174).
Nach § 27 Abs 2 S 1 Nr 2 der A Reha vom 31.7.1975 (ANBA 1975, 994) idF der 19. Änderungsanordnung zur A Reha vom 26.10.1995
(ANBA Nr 12/1995, 1813, 1821) war auf das Ausbildungsgeld in den alten (neuen) Bundesländern anzurechnen "Einkommen der Eltern
a), soweit es 4680 (4210) DM monatlich übersteigt, b) bei verwitweten Elternteilen, soweit es 2910 (2600) DM monatlich übersteigt,
c) bei dauernd getrennt lebenden Eltern, soweit es 2910 (2600) DM bei dem Elternteil monatlich übersteigt, bei dem der Behinderte
lebt. Das Einkommen des anderen Elternteils bleibt außer Betracht".
Ermächtigungsgrundlage für diese Anordnung war § 58 Abs 2 S 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), dort eingefügt mit Wirkung vom 1.10.1974 durch das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7.8.1974
(BGBl I 1881) und dem erklärten Ziel, die Bundesanstalt "durch Anordnung das Nähere über Voraussetzungen, Art und Umfang der
berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation" bestimmen zu lassen (vgl auch - wiederholend - BT-Drucks 7/1237, S 78).
Als der Entwurf des AFRG samt Begründung am 18.6.1996 erstmalig in den Bundestag eingebracht wurde, lautete § 58 Abs 1 S 3 AFG: "Behinderte Auszubildende erhalten Leistungen nach § 40 auch dann, wenn ihnen die erforderlichen Mittel auf Grund eines Unterhaltsanspruches zur Verfügung stehen; dies gilt nicht,
soweit die Nichtberücksichtigung des Unterhaltsanspruches offensichtlich ungerechtfertigt wäre" (zuerst eingefügt zum 1.1.1976
als § 58 Abs 1 S 2 AFG durch das Gesetz zur Verbesserung der Haushaltsstruktur im Geltungsbereich des Arbeitsförderungs- und Bundesversorgungsgesetzes vom 18.12.1975 [BGBl I 3113], mit redaktionellen Änderungen in § 58 Abs 1 S 3 AFG überführt durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes vom 23.7.1979 [BGBl I 1189]).
Da die Anordnungsbefugnis aus § 58 Abs 2 S 1 AFG immer nur so weit gehen konnte, wie die vorrangigen Regelungen des § 58 Abs 1 AFG überhaupt etwas zur näheren Bestimmung übrigließen, konnte mit den Maßgaben zur Anrechnung elterlichen Einkommens in § 27
A Reha seit dem 1.1.1976 angesichts des seither klaren Wortlauts jeweils des § 58 Abs 1 S 2 bzw S 3 AFG nur noch bestimmt werden, in welchen Fällen die (gänzliche) Nichtberücksichtigung eines Unterhaltsanspruchs offensichtlich
ungerechtfertigt wäre.
Indem der Gesetzgeber zur Begründung des AFRG ausführt, §
108 SGB III aF übernehme zum 1.1.1998 das mit §
27 A Reha gegenwärtig geltende Recht (vgl BT-Drucks 13/5676, S 3, Anl 1; 13/4941, S 139 [Inkrafttreten], S 174), gibt er zu
verstehen, dass er an dem dort zugrunde liegenden Regime einer grundsätzlich vom Unterhaltsanspruch unabhängigen Leistungsgewährung
an behinderte Auszubildende, § 58 Abs 1 S 3 AFG in der zum 18.6.1996 geltenden Fassung, festhalten will.
§
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF verfolgt daher - wie zuvor §
27 Abs
2 A Reha - das Ziel, die Grenze des offensichtlich Ungerechtfertigten zu bestimmen, ab der die Leistungsgewährung nicht mehr
als vom Unterhaltsanspruch unabhängig ausgestaltet ist. Bei Festlegung und Ausgestaltung dieser Grenze kommt dem Gesetzgeber
eine Einschätzungsprärogative zu, dieser ist insoweit aber an das selbsterklärte Ziel gebunden. Die Benennung bestimmter Tatbestände
einer offensichtlich ungerechtfertigten Leistungsgewährung muss daher noch nachvollziehbar sein und gleichgelagerte Fälle
gleichmäßig erfassen. Eine gerichtliche Kontrolle kann nur daraufhin stattfinden, ob die Auslegung und Anwendung der Norm
in Übereinstimmung mit diesen Vorgaben stehen.
In Ausgestaltung dessen, was als offensichtlich ungerechtfertigte Leistungsgewährung an behinderte Auszubildende anzusehen
ist, gibt §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF auf den ersten Blick zwei Arten von Grenzen vor: Eine variable Einkommensschwelle und die Tatsache, dass der behinderte
Auszubildende bei einem Elternteil lebt.
Aus der Norm selbst ist abzuleiten, dass die am Elterneinkommen orientierte Bestimmung einer offensichtlich ungerechtfertigten
Leistungserbringung innerhalb der gesamten Norm zur Voraussetzung haben muss, dass der behinderte Auszubildende auch bei seinen
Eltern lebt, dass also beide im Gesetz angelegte Kriterien der Grenzziehung zu einer vom Elterneinkommen unabhängigen Leistungserbringung
kumulativ erfüllt sein müssen.
Denn die Höhe der Festlegung der Einkommensschwellen in §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF (zu den vorher abzuziehenden Freibeträgen s §
71 Abs
2 S 1
SGB III aF iVm §§ 21, 25 f BAföG) lässt für sich nur die Auslegung zu, dass bei deren Überschreiten ein zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch nach §§
1601 ff, §
1610 Abs
2 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) mit einer gewissen Ertragsaussicht geltend gemacht werden könnte. Hätte der Gesetzgeber allein an diese Ertragsaussicht
die Wertung knüpfen wollen, dass eine ungeminderte Leistungserbringung offensichtlich ungerechtfertigt sei, müsste dies mit
der impliziten Aufforderung an den behinderten Auszubildenden einhergehen, sich um die Geltendmachung dieses Anspruchs zu
kümmern. Dann aber stellte es schon innerhalb des Wortlauts der Norm einen Wertungswiderspruch dar, im Falle getrennt lebender
Eltern denjenigen Elternteil von der Einkommensberücksichtigung auszunehmen, der nicht mit dem Auszubildenden zusammenlebt.
Dies gilt umso mehr, als dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Ausbildungsgelds die Berechnung eines familienrechtlichen
Unterhaltsanspruchs durchaus vor Augen stand, wie §
104 Abs
2, §
71 Abs
5 SGB III aF eindrucksvoll belegen. Dies lässt nur die Annahme zu, dass es dem Gesetzgeber nicht um eine leistungsmindernde Zurechnung
allein der wirtschaftlichen Ertragsaussicht einer Geltendmachung familienrechtlicher Unterhaltsansprüche ging. Dies hätte
er nämlich - wie er anhand desselben Regelungsgegenstands bereits zuvor gezeigt hat - durch die Festlegung regeln können,
ab welcher Höhe eines Unterhaltsanspruchs eine Leistungsminderung in welcher Höhe einzutreten habe.
Der dargestellte Wertungswiderspruch löst sich auf, wenn man mit dem aus § 58 Abs 1 S 3 AFG in der zum 18.6.1996 geltenden Fassung übernommenen Zweck des Gesetzes, behinderte Auszubildende durch die Gewährung von
Rehabilitationsleistungen grundsätzlich auch der Auseinandersetzungen um ihren familienrechtlichen Ausbildungsunterhalt zu
entheben, nicht auf eine Zurechnung wirtschaftlicher Ertragsaussichten etwaiger Unterhaltsstreitigkeiten abstellt, sondern
die Schwelle der Einkommensanrechnung erst da ansetzen lässt, wo der behinderte Auszubildende aus normativen Gründen so zu
stellen ist, als erhielte er konkret elterlichen Unterhalt in einer die Leistungsminderung rechtfertigenden Höhe.
Diese Schwelle der Einkommensanrechnung ist - unter Berücksichtigung der gesetzlich bestimmten Einkommensbeträge - dann erreicht,
wenn der behinderte Auszubildende mit seinen Eltern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebt. Denn dieser
Umstand begründet die Vermutung einer (teilweisen) Bedarfsdeckung aus dem zur Verfügung stehenden elterlichen Einkommen innerhalb
der Haushaltsgemeinschaft.
Diese Voraussetzung knüpft systematisch schlüssig an die dem Konzept der Einstandsgemeinschaft (vor Erlass des §
108 SGB III aF vor allem in § 137 Abs 2, 2a AFG und § 16, § 11 Abs 1 S 2 und § 122 Bundessozialhilfegesetz geregelt, mit Erlass des
SGB III aF für die Arbeitslosenhilfe in § 193 Abs 2
SGB III aF übernommen, ab dem 1.1.2005 in §
7 Abs 2 ff, § 9 Abs 2, Abs 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch sowie § 27 Abs 2, § 39 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch überführt)
zugrunde liegende typisierende Annahme an, dass innerhalb des nächsten Familienverbunds bei räumlichem Zusammenleben in einem
Haushalt "aus einem Topf" gewirtschaftet und füreinander aufgekommen wird. Dass sich der Gesetzgeber dieses Konzepts im Rahmen
der Förderung beruflicher Ausbildung im
SGB III aF bedient, wird daran deutlich, dass nicht behinderte Auszubildende nach §
64 Abs
1 S 1 Nr
1 SGB III aF überhaupt keine Berufsausbildungsbeihilfe erhalten können, solange sie im Haushalt ihrer Eltern oder eines Elternteils
wohnen. Die im Vergleich mit der familienrechtlich einsetzenden Einstandspflicht nach §§
1601 ff
BGB hohen Einkommensschwellen entsprechen der Vorgabe, nur diejenigen Fälle einer Berücksichtigung elterlichen Einkommens zuzuführen,
in denen anderenfalls von einer offensichtlich ungerechtfertigten Leistungsgewährung auszugehen wäre. Denn die hohen Einkommensschwellen
lassen die Annahme eines von dort an tatsächlich praktizierten bedarfsdeckenden Einstehens gegenüber anderen Einstandsgemeinschaften,
insbesondere aber gegenüber dem vollständigen Leistungsausschluss für nicht behinderte Auszubildende, die noch im elterlichen
Haushalt wohnen, umso berechtigter erscheinen.
Abschließend untermauert wird dieser Befund durch den vergleichenden Blick auf den vorangehenden §
108 Abs
2 Nr
1 SGB III aF, der regelungsgleiche Vorgänger in §
27 A Reha findet (vgl zuletzt § 27 Abs 2 Nr 1 A Reha in der Fassung der 19. Änderungsanordnung zur A Reha vom 26.10.1995 [ANBA
Nr 12/1995, 1813, 1821]). Dort wird die tatsächliche Leistung elterlichen Barunterhalts ab einer gewissen Höhe leistungsmindernd
berücksichtigt. Damit ist über die durch § 58 Abs 1 S 2 bzw S 3 AFG aufgeworfene Frage entschieden, in welchem Umfang eine Leistungsminderung eintreten soll, soweit dem behinderten Auszubildenden
"die erforderlichen Mittel auf Grund eines Unterhaltsanspruchs zur Verfügung stehen" (§ 58 Abs 1 S 2 Var 1 bzw S 3 Var 1 AFG). Dies zeigt, dass für §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF zu bestimmen verbleibt, welche Leistungsgrenzen gelten sollen, wenn und obwohl gerade kein Barunterhalt geleistet wird,
mithin inwieweit "die Nichtberücksichtigung des Unterhaltsanspruches offensichtlich ungerechtfertigt wäre" (§ 58 Abs 1 S 2 Var 2 bzw S 3 Var 2 AFG).
Mit Urteil vom 18.5.2010 (B 7 AL 36/08 R - BSGE 106, 141 = SozR 4-4300 § 108 Nr 1) hat das BSG bisher nur darüber entschieden, ob im Fall eines behinderten Auszubildenden, der weder bei dem einen noch bei dem anderen
getrennt lebenden Elternteil lebt, eine Anrechnung elterlichen Einkommens erfolgen müsse. Darüber hinaus gilt in Fällen wie
dem vorliegenden Folgendes: Auf das Ausbildungsgeld eines behinderten Menschen, der bei keinem Elternteil lebt, ist das Einkommen
der Eltern nicht anzurechnen.
Dieses Ergebnis steht in Einklang mit den grundgesetzlichen Vorgaben aus Art
3 Abs 1 - Diskriminierungsverbot - und Art
6 Abs
1 - Schutz der Familie - des
Grundgesetzes. Dass die Anrechnung elterlichen Einkommens vom Zusammenleben mit dem behinderten Auszubildenden abhängt, führt nicht zur
Diskriminierung einer bestimmten Form der familiären Lebensführung als solcher. Denn das Kriterium des Zusammenlebens entscheidet
über die mögliche Minderung einer Sozialleistung, die ihrem Wesen nach bedürftigkeitsabhängig ausgestaltet ist, wenn auch
für behinderte Auszubildende nur in Gestalt einer äußeren Grenze der offensichtlich ungerechtfertigten Leistungsgewährung
(vgl §
108 Abs
2 Nr
2, §
104 Abs
2, §
71 SGB III aF). Wenn der Gesetzgeber zur Bestimmung dieser besonderen Bedürftigkeitsgrenze an das Vorliegen einer Haushaltsgemeinschaft
anknüpft, ist dies das Differenzierungskriterium, nicht die familiäre Verbundenheit der Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft
(vgl zur Zulässigkeit dieser Perspektive für die Ehe BVerfGE 75, 382, 395; 87, 234, 256).
Dass dem behinderten Auszubildenden umgekehrt eine Option eröffnet wird, aus eigenem Wunsch schon in der Ausbildung einen
eigenen Hausstand zu begründen, ist dem Rehabilitationscharakter des §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF geschuldet.
Auch bleiben die besonderen Leistungen zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben insoweit einkommens- bzw unterhaltsabhängig,
als nach §
108 Abs
2 Nr
1 SGB III aF Waisenrenten, Waisengeld sowie tatsächliche Unterhaltsleistungen oberhalb des Freibetrags auf den Bedarf des behinderten
Menschen in Ausbildung angerechnet werden, ferner Einkommen nach §
108 Abs
2 Nr
3 SGB III aF. Lediglich für die fiktiven Anrechnungsregelungen nach Nr 2 der Vorschrift kommt es auf das Zusammenleben des behinderten
Menschen mit den Eltern oder einem Elternteil an.
Nach den bindenden Feststellungen des LSG lebte die Klägerin im vorliegend streitigen Zeitraum nicht bei ihren Eltern, sondern
zunächst im Internat des Bildungswerks und anschließend in ihrer eigenen Wohnung in B, sodass ihr nach alledem Ausbildungsgeld
ohne Anrechnung von Einkommen ihrer Eltern zu gewähren ist. Hieran kann die von der Beklagten ins Feld geführte Tatsache,
dass die Klägerin als Hauptwohnsitz die Anschrift ihrer Eltern angab, nichts ändern. Denn §
108 Abs
2 Nr
2 SGB III aF stellt insoweit aus den ausgeführten Gründen allein auf ein tatsächliches Zusammenleben ab, welches in dem Normtext durch
das Merkmal "bei dem der behinderte Mensch lebt" klarstellend freigelegt wird. Hätte der Gesetzgeber nach einem abweichenden
System eine Einkommenszurechnung über die Angabe eines Hauptwohnsitzes zu installieren beabsichtigt, hätte er sich dieser
in zahlreichen anderen Gesetzen und Verordnungen wiederzufindenden Rechtsfigur sicherlich unter deutlicher Benennung bedient.
Soweit im Tenor des Urteils des SG die Aufhebung des Bescheids vom 8.5.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.8.2012 ausgeurteilt wird, ist dies dem
weiteren Ausspruch nach verknüpft mit der Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Ausbildungsgeld. Aus den Entscheidungsgründen
ergibt sich kein Anhalt dafür, dass das SG daneben auch die Bewilligung der Lehrgangskosten, die ebenfalls Bestandteil des Bescheids vom 8.5.2012 war, beseitigen wollte.
Dies war auch erkennbar zu keinem Zeitpunkt Gegenstand des klägerischen Begehrens. Daher ist der Urteilstenor, der eine unbeschränkte
Aufhebung des Bescheids vom 8.5.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.8.2012 enthält, im Lichte des klägerischen
Begehrens dahingehend auszulegen, dass das SG lediglich eine Teilaufhebung hinsichtlich der Regelungen zum Ausbildungsgeld ausurteilen wollte. Dies war aus Gründen der
Rechtssicherheit klarzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.