Aufhebung der Leistungsbewilligung von Pflegegeld nach § 48 SGB X in der sozialen Pflegeversicherung bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse und von Anfang an rechtswidrigem Bewilligungsbescheid
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob über den 31.08.2006 hinaus Leistungen nach Pflegestufe II statt nach Pflegestufe I zu gewähren
sind.
Der 1925 geborene Kläger erlitt im Jahre 1994 einen schweren Verkehrsunfall, der eine Oberschenkelamputation rechts sowie
eine Peronäuslähmung links zur Folge hatte. Die sozialmedizinische Untersuchung und Begutachtung durch den Medizinischen Dienst
der Krankenversicherung (MDK) vom 25.04.1995 (Gutachten vom 28.04.1995) ergab einen Pflegebedarf von 40 Minuten für die Körperpflege,
25 Minuten für die Ernährung und 53 Minuten für die Mobilität, somit 118 Minuten. Dem Kläger wurde für die Zeit vom 16.02.1995
bis 31.03.1995 Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit nach dem Fünften Sozialgesetzbuch (
SGB V) bewilligt und mit Bescheid vom 05.05.1995 für die Zeit ab 01.04.1995 Leistungen der Pflegestufe II nach dem Elften Sozialgesetzbuch
(
SGB XI).
Am 27.07.2006 erfolgte eine Untersuchung und Begutachtung durch den MDK (Gutachten vom 02.08.2006). Es liege nur noch Pflegestufe
I vor, der Bedarf an täglicher Grundpflege betrage 88 Minuten, für die Körperpflege 58 Minuten, für die Ernährung 11 Minuten
und für Mobilität 19 Minuten. Der Kläger lebe in Gemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin. Er wohne in einer betreuten Wohnanlage
im 1. Obergeschoss mit ebenerdigem Zugang sowie Aufzug. Das Bad sei mit dem Rollstuhl/Rollator befahrbar, ebenso die Toilette.
Das Bad sei behindertengerecht mit Haltegriffen, einer hohen Einstiegsbadewanne mit Tür und integriertem Sitz. Neben der Oberschenkelamputation
rechts lägen Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz sowie ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus und eine periphere Polyneuropathie
sowie Nephropathie vor.
Nach Anhörung hob die Beklagte mit Bescheid vom 21.08.2006 den Bescheid vom 05.05.1995 auf und stellte die Leistungen nach
Pflegestufe II mit Wirkung vom 31.08.2006 ein, zugleich bewilligte sie Leistungen nach Pflegestufe I für die Zeit ab 01.09.2006.
Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, sein Hilfebedarf habe sich weder im Bereich der Grundpflege noch im Bereich
der hauswirtschaftlichen Versorgung verringert. Sein Gesundheitszustand habe sich sogar gegenüber 1995 weiter verschlechtert.
Notwendige Arztbesuche könne er kaum noch wahrnehmen, da auch seine Pflegeperson und Lebensgefährtin inzwischen gesundheitlich
angeschlagen sei. In seiner sozialmedizinischen Stellungnahme führte der MDK am 05.10.2006 aus, dass sich aufgrund der veränderten
Wohnsituation beim Treppen steigen ein geringerer Hilfebedarf ergeben habe. Die 1995 angegebenen Therapiemaßnahmen außer Haus
erfolgten nicht mehr. Zum Zeitpunkt der Begutachtung 1995 sei der Kläger nicht stehfähig gewesen. Er sei jetzt in der Lage,
sich innerhalb der Wohnung mit dem Rollstuhl fortzubewegen. Er sei in eine seniorengerechte Wohnanlage umgezogen. Der Hilfebedarf
bei der Verrichtung Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung habe sich reduziert und sei für Gehen und Treppen steigen völlig
weggefallen. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.11.2006 zurück.
Hiergegen erhob der Kläger beim Sozialgericht (SG) Bayreuth Klage. Das Gericht zog diverse Befundberichte bei und ernannte den Sozialmediziner Dr. H. zum gerichtlichen Sachverständigen.
Dieser kam in seinem Gutachten vom 04.06.2007 nach Hausbesuch zum Ergebnis, dass ein Pflegebedarf von täglich 52 Minuten bei
der Körperpflege bestehe, 11 Minuten bei der Ernährung und 19 Minuten im Bereich der Mobilität; insgesamt im Bereich der Grundpflege
82 Minuten täglich. Pflegestufe II liege nicht mehr vor, da eine Änderung der tatsächlichen Umstände (Ausstattung mit Hilfsmitteln,
Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes und Umzug in eine behindertengerechte Wohnung) eingetreten seien. Der Kläger wandte
ein, die Badezeit sei mit 15 Minuten pro Tag weit untersetzt. Insgesamt benötigten er und seine Pflegerin dafür mindestens
1 1/2 Stunden pro Tag. Auch die Entleerung des Nachttopfes durch die Pflegerin nehme mindestens 10 Minuten in Anspruch. Des
Weiteren quäle ihn häufig Schlaflosigkeit. Er müsse dann beruhigt und betreut werden, bis er wieder einschlafe. Gehen könne
er nur mit angeschnallter Prothese rechts. Hierbei und auch beim Gehen selbst müsse ihm die Pflegerin behilflich sein. Das
Gelände vor seinem Haus sei für seinen Behindertenfahrstuhl zu steil, so dass er mit Hilfe der Pflegerin gehen müsse. Einkaufen
sei mindestens dreimal pro Woche erforderlich. Hierfür sei eine Pflegezeit pro Woche von sechs Stunden zu berücksichtigen.
Der Sachverständige Dr. H. gab am 16.07.2007 eine ergänzende Stellungnahme ab. Auch wenn für die hauswirtschaftliche Versorgung
zusätzlich 1 1/2 Stunden pro Woche berücksichtigt würden, so betrage der maßgebliche Zeitbedarf für die Grundpflege nach wie
vor 82 Minuten täglich.
Mit Gerichtsbescheid vom 01.04.2008 wies das SG die Klage ab. Es sei eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten. Das SG stützte seine Entscheidung im Wesentlichen auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. H ...
Hiergegen legte der Kläger am 02.05.2008 Berufung ein. Das Sozialgericht habe sein Urteil auf die unkritisch übernommenen
Aussagen des Sachverständigen Dr. H. gestützt. Das Gericht hätte sich sowohl hinsichtlich der Zahl der geleisteten Pflegestunden
als auch deren pflegerischer Notwendigkeit selbst ein Bild machen müssen. Der Kläger weist des Weiteren auf seine Einwendungen
aus den Schriftsätzen vom 05.07., 10.08. und 13.08.2007 hin. Auch leide er an einer Gürtelrose, welche zusätzlichen Pflegebedarf
mehrmals pro Woche erfordere. Der Senat holte weitere Befundberichte u.a. des Arztes für Allgemeinmedizin D. aus Bad A-Stadt
ein. Der Kläger komme alle 1 bis 2 Wochen in die Praxis. Dazwischen komme er auch öfters, um Rezepte zu bestellen oder abzuholen.
Der Senat ernannte daraufhin Dr. E. zur gerichtlichen Sachverständigen. Diese kam in ihrem Gutachten vom 06.02.2009 nach Hausbesuch
im Beisein der Pflegerin zum Ergebnis, dass im Bereich der Körperpflege 58 Minuten Bedarf bestünden, im Bereich der Ernährung
3 Minuten und im Bereich der Mobilität 38 Minuten. Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung bestünde ein Bedarf von
45 Minuten. Die Sachverständige wies darauf hin, dass bereits 1995 die Voraussetzungen für Pflegestufe II bei einer Grundpflegezeit
von 118 Minuten nicht vorgelegen hätten. Es ergebe sich jetzt bei Berücksichtigung aller Verrichtungen ein Hilfebedarf von
99 Minuten. Der Gesundheitszustand habe sich seit 4/08 nach einem stationären Aufenthalt im Krankenhaus wegen Vorhofflattern
verschlechtert.
Der Kläger erklärte, dass er sowohl beim Verlassen als auch beim Betreten des Hauses eine Rampe befahren müsse, wofür er die
Hilfe der Pflegeperson benötige. Notwendige Spazierfahrten gehörten zu einer angemessenen Lebensführung. Die Zeit für Begleitung
bei Arztbesuchen sei mit 6 Minuten pro Besuch zu niedrig angesetzt. Es sei eine Mindestzeit von 20 Minuten einzusetzen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 01.04.2008 und den Bescheid der Beklagten vom 21.08.2006 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.11.2006 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird gemäß §
136 Abs.2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§
143,
151 SGG), aber unbegründet.
Der Bescheid vom 21.08.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2006, der wegen wesentlicher Änderung der
tatsächlichen Verhältnisse Leistungen nach Pflegestufe II mit Ablauf des 31.08.2006 einstellte und zugleich Leistungen nach
Pflegestufe I für die Zeit ab 01.09.2006 bewilligte, erweist sich als rechtmäßig. Die Voraussetzungen für eine Neufeststellung
gemäß § 48 des Zehnten Sozialgesetzbuchs (SGB X) waren zu diesem Zeitpunkt erfüllt. Die Verhältnisse, die dem Bescheid vom 05.05.1995 zugrunde lagen, haben sich im Bezug
auf die notwendige Pflege für Verrichtungen der Grundpflege wesentlich geändert im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X. Nach dieser Bestimmung ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes
mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben,
§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Dies ist für die Zeit ab 01.09.2006 zu bejahen.
Pflegebedürftige können nach §
37 Abs.
1 Satz 1 bis
3 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (
SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§
19 Satz 1
SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicher stellen und mindestens die Pflegestufe
I vorliegt.
Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des
Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die
in §
14 Abs.
4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie
den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der dort aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt
eine abschließende Regelung dar (BSG 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines Gesunden bzw. nicht behinderten Menschen
orientiert (BSG SozR 3-3300, § 14 Nr. 3).
Nach §
15 Abs.
3 Nr.
2 SGB XI muss der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden
betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen
und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und Mobilität (§
14 Abs.
4 Nrn. 1 bis 3
SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, der Kleiderpflege sowie der
Wohnungsreinigung und Beheizung (§
14 Abs.
4 Nr.
4 SGB XI) zu verstehen.
Die zeitlichen Voraussetzungen für Pflegestufe II waren beim Kläger ab Beginn der Leistungen (01.05.1995) nicht gegeben. Die
vom Senat bestellte Sachverständige Dr. E. weist in ihrem Gutachten vom 06.02.2009 zu Recht darauf hin, dass bei einer Grundpflegezeit
von 118 Minuten bereits im Jahre 1995 die Voraussetzungen für Pflegestufe II nicht vorgelegen hätten und auch der Hilfebedarf
für einige Verrichtungen zu hoch angesetzt worden war. Eine Entziehung der Leistungen nach Pflegestufe II ist auch dann zulässig,
wenn die zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II bei zutreffender Einschätzung des Pflegebedarfs von Anfang an nicht
vorgelegen hatten, die Leistungsbewilligung mithin rechtswidrig gewesen war. § 48 SGB X unterscheidet nicht zwischen rechtmäßigen oder rechtswidrigen Verwaltungsakten. Er fordert lediglich den Nachweis der wesentlichen
Änderung der Verhältnisse. Dies ist ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 07.07.2005, Az.: B 3 P 8/04 R).
Für die Zeit ab 01.09.2006 ist eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten. Die vom Senat ernannte Sachverständige
Dr. E. hat die Entscheidung des SG in vollem Umfang bestätigt. Sie stellte fest, dass sich die Pflegesituation seit der letzten Begutachtung im Jahre 1995 erheblich
verbessert hat. Entscheidend ist insoweit der Umzug in eine behindertengerechte Wohnung, wo beispielsweise das Bad mit einem
Rollstuhl befahrbar ist und die sanitären Einrichtungen wie Badewanne und Toilette auf die Bedürfnisse eines Behinderten abgestimmt
sind.
Die hiergegen vom Kläger gemachten Einwendungen können zu keiner Entscheidung führen. Dies trifft insbesondere für die geltend
gemachten Spazierfahrten und die Besuche im Gesundheitspark zu. Die Besuche dort mögen die Gesundheit des Klägers positiv
beeinflussen, gehören aber nicht in den Bereich der Grundpflege. Nach den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen
über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit
(Pflegebedürftigkeits-Richtlinien - PfLRi) vom 07.11.1994, geändert durch Beschlüsse vom 21.12.1995 und vom 22.08.2001 sind
beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung nur solche Maßnahmen außerhalb der Wohnung zu berücksichtigen, die für die
Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause notwendig sind und regelmäßig und auf Dauer anfallen und das persönliche Erscheinen
des Pflegebedürftigen erfordern. Weiterer Hilfebedarf z.B. die Begleitung zur Bushaltestelle auf dem Weg zu Behindertenwerkstätten,
Schulen, Kindergärten oder im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit sowie bei Spaziergängen oder Besuch von kulturellen Veranstaltungen
bleibt unberücksichtigt (so auch BSG, Urteil vom 10.10.2000 - B 3 P 15/99 R).
Eine Einvernahme der Pflegeperson war nicht erforderlich, da diese beim Hausbesuch der Sachverständigen Dr. E. anwesend war
und gehört wurde.
Dass die Pflegeperson für die Verrichtungen tatsächlich mehr Zeit aufwendet, als dies die Pflegerichtlinien vorsehen, ändert
nichts daran, dass diese zugrunde zu legen sind. Ansonsten würde es zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung der Pflegebedürftigen
führen.
Im Übrigen stimmten die Feststellungen der Sachverständigen Dr. E. mit denen des Dr. H. im Gutachten vom 04.06.2007 überein.
Mit dessen Ausführungen hat sich das Sozialgericht bereits eingehend auseinandergesetzt. Der Senat schließt sich dem an.
Damit kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass der Kläger über den 31.08.2006 hinaus keinen Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegestufe
II hat, weil die hierfür erforderliche Zeit für Hilfe nicht erreicht wird. Der Bescheid vom 21.08.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.11.2006 erweist sich als rechtmäßig. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Bayreuth vom 01.04.2008 war zurückzuweisen.
Der Kostenausspruch stützt sich auf §
193 SGG, weil die Berufung des Klägers nicht erfolgreich war.
Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG zuzulassen, sind nicht erkennbar.