Anerkennung eines Tinnitus als Berufskrankheit in der gesetzlichen Unfallversicherung
Tatbestand:
Streitig ist - nach dem zuletzt gestellten Antrag - die Anerkennung und Entschädigung eines Tinnitus als Berufskrankheit.
In der ärztlichen Anzeige vom 17. Dezember 2003 wegen Verdacht auf eine Berufskrankheit gab der Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. G.
an, der 1946 geborene Kläger klage seit einer Operation 1992 über einen Tinnitus. Außerdem bestehe der Verdacht auf Lärmschwerhörigkeit.
Der Kläger erklärte am 2. Februar 2004, seit ca. 1988/89 habe er starkes Pfeifen im rechten Ohr bemerkt. Der Technische Aufsichtsdienst
der Beklagten bestätigte am 11. März 2004, der Kläger sei während seiner Tätigkeit als Hohlglasschleifer einer Lärmbelastung
von zunächst ca. 93 dB, später 90 dB ausgesetzt gewesen.
Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 26. April 2004 Lärmschwerhörigkeit (Hochtonschwerhörigkeit beidseits) als Berufskrankheit
im Sinne der Nr. 2301 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung an. Nicht als Folge der Berufskrankheit anerkannt werde die Hörstörung im Bereich der tiefen und mittleren Frequenzen und
das Ohrgeräusch rechts.
Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. September 2004 zurück.
Der Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. N. hatte in der Stellungnahme nach Aktenlage vom 9. Juli 2004 ausgeführt, von 1960 bis 1992 habe
eine gehörschädigende Lärmbelastung bestanden. Da chronische Lärmschäden nach Beendigung der Lärmbelastung nicht mehr progredierend
verliefen, sei jede Hörverschlechterung nach Beendigung der Lärmbelastung sicher lärmunabhängig. Durch die lärmunabhängigen
Einflüsse sei es zu einer starken Asymmetrie des Hörschadens und zu Ohrgeräuschen rechts gekommen.
Im hiergegen gerichteten Klageverfahren zog das Sozialgericht Berichte der behandelnden Ärzte bei. Der praktische Arzt Dr.
D. und die Allgemeinärztin W. bestätigten Tinnitus ab 1988. Auch die Hals-Nasen-Ohrenärzte Dr. G. und W. attestierten Tinnitus.
Der Hals-Nasen-Ohrenarzt Prof. Dr. L. berichtete am 4. März 1998, der Kläger klage über einen rechtsseitigen Tinnitus. Aufgrund
der beruflichen Lärmanamnese sei anzunehmen, dass die Innenohrschädigung auf die berufsbedingte Lärmeinwirkung zurückzuführen
sei. Da der Tinnitus auf eine Kapselotosklerose zurückgeführt werden könne, sei die Einschätzung der Ätiologie schwierig und
nicht eindeutig.
Der vom Sozialgericht zum ärztlichen Sachverständigen ernannte Hals-Nasen-Ohrenarzt Prof. Dr. C. führte im Gutachten vom 10.
Juli 2007 aus, der Kläger gebe an, Tinnitus sei erstmals 1987/88 aufgetreten und zwar als starkes Pfeifen im rechten Ohr.
Jetzt sei es rechts ein Rauschen und ein Ton, links nur ein Ton. Für eine Lärmschwerhörigkeit und durch Lärm entstandenen
Tinnitus sprächen die Lärmbelastung, das Tonschwellenaudiogramm, die Tatsache, dass es sich um eine cochleäre Schwerhörigkeit
handle, die Erklärbarkeit der Asymmetrie durch den natürlichen Schallschutz im Rahmen der Otosklerose, die plausiblen Angaben
hinsichtlich des Beginns, die Lage des Tinnitus im charakteristischen Frequenzbereich und zwar rechts wie links bei 4000 Hz.
Die berufsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde ab 17. Dezember 2003 für die Innenohrschwerhörigkeit und den
Tinnitus auf 10 v.H. eingeschätzt.
Hierzu übersandte die Beklagte eine Stellungnahme des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. P. vom 7. September 2007: sowohl der Kläger
als auch der Operateur Prof. Dr. L. hätten angegeben, dass bereits vor der Operation ein einseitiger Tinnitus auf dem rechten
Ohr vorgelegen habe. Da eine Lärmschwerhörigkeit typischerweise symmetrisch auftrete, müsse ein lärmbedingtes Ohrgeräusch
auf beiden Ohren auftreten. Daher sei der Tinnitus als Ausdruck einer Kapselotosklerose anzusehen. Dies habe auch Prof. Dr.
L. so beurteilt. Ein otosklerotisch entstandener Tinnitus bleibe auch nach einer Operation meistens bestehen. Deshalb spräche
mehr dafür, dass der jetzt auf beiden Ohren empfundene Tinnitus als Folge der otosklerotischen Veränderungen im Innenohr entstanden
sei. Der Hörverlust auf beiden Ohren sei trotz Wegfall der Lärmbelastung seit 1993 weiter fortgeschritten. Allerdings sei
der wesentliche Anteil der zum Zeitpunkt der Aufgabe der Lärmarbeit vorliegenden Schwerhörigkeit durch die Lärmbelastung entstanden.
Die MdE für den lärmbedingten Anteil des Hörschadens sei auf unter 10 v.H. einzuschätzen.
Mit Urteil vom 18. Oktober 2007 wies das Sozialgericht Landshut die Klage ab. Das Ohrgeräusch sei nicht mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit auf die Zeit der Lärmarbeit zurückzuführen, denn bis 1993 habe der Kläger Ohrgeräusche verneint und auch
die weitere Befunddokumentation sei nicht aussagekräftig genug.
Mit der Berufung wandte der Kläger ein, ein Tinnitus habe bereits vor 1993 vorgelegen. Er übersandte ein Attest des praktischen
Arztes Dr. D. vom 18. Februar 2008, der bestätigte, der Kläger sei seit Januar 1989, möglicherweise auch schon früher, wegen
Tinnitus in hals-nasen-ohren-ärztlicher Behandlung gewesen. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. G. berichtete im Schreiben vom 7.
Juli 2008, der Kläger habe ihn erstmals am 22. März 1988 aufgesucht und angegeben, er höre schon seit längerer Zeit auf der
rechten Seite schlecht und habe einen Summton. Auch 1989 habe ein Ohrgeräusch auf der rechten Seite bestanden. Die Operation
1993 habe keinen positiven Einfluss auf das pfeifende Ohrgeräusch der rechten Seite gehabt. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. S.
erklärte im Schreiben vom 8. Juli 2008, der Kläger habe am 7. November 2005 einen Pfeiftinnitus angegeben, der seit 15 Jahren
bestehe, rechts stärker als links ausgeprägt.
Die Beklagte übersandte eine Stellungnahme des Dr. P. vom 8. August 2008. Auch die Angabe eines Tinnitus bereits vor 1993
sei kein Beweis für eine lärmbedingte Auslösung des Ohrgeräuschs, da ein Tinnitus ein häufiges Begleitsymptom einer Otosklerose
darstelle. Der anlagebedingten Ursache sei die weitaus höhere Wahrscheinlichkeit zuzuordnen, denn bei einem Beginn 1988 korreliere
das Auftreten des Tinnitus mit der im Audiogramm immer deutlicher erkennbaren Schallübertragungskomponente - es handle sich
also um einen Tinnitus, der im Rahmen der Otosklerose entstanden sei.
In der ergänzenden Stellungnahme vom 10. Dezember 2008 führte der ärztliche Sachverständige Prof. Dr. C. aus, es sei nun bewiesen,
dass das Ohrgeräusch rechts, möglicherweise auch links, bereits vor Beendigung der Lärmarbeit vorgelegen habe. Das Ohrgeräusch
finde sich in der für Lärmschwerhörigkeit charakteristischen Senke bei 4000 Hz. Ein Ohrgeräusch, das im Rahmen einer Otosklerose
auftrete, finde sich dagegen überwiegend im Tieftonbereich. Beim Kläger habe sich keine Verbesserung nach der Operation eingestellt,
obwohl dies bei Otosklerose meist der Fall sei. Ein klinischer oder audiologischer Hinweis auf eine Kapselotosklerose sei
nicht gegeben.
Die Beklagte übersandte eine Stellungnahme des Hals-Nasen-Ohrenarztes Prof. Dr. B. vom 9. März 2009. Darin wird ausgeführt,
das rechtsseitige Ohrgeräusch sei im Rahmen der rechtsseitigen Otosklerose aufgetreten. Durch die otosklerotisch bedingte
Schallleitungskomponente habe ein physiologischer Schallschutz bestanden. Dies bedeute jedoch auch, dass durch die Lärmeinwirkung
kein Ohrgeräusch habe entstehen können. Der Kläger habe angegeben, dass er ca. 1988 ein starkes Pfeifen im Ohr bemerkt habe.
Eine solche Beobachtung sei nicht typisch für ein Ohrgeräusch durch berufliche Lärmeinwirkung, das sich langsam entwickele.
Ein plötzlich auftretendes starkes Ohrgeräusch sei eher durch einen Hörsturz oder eine andere Erkrankung verursacht; die Entstehung
eines langsam zunehmenden lärmtypischen Ohrgeräuschs sei wegen der bereits 1988 bestehenden Otosklerose nicht denkbar.
Der Kläger stellt den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 18. Oktober 2007 aufzuheben sowie den Bescheid vom 26. April 2004 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 8. September 2004 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen festzustellen, dass der Tinnitus weitere
Folge der Berufskrankheit im Sinne der Nr. 2301 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakten
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und sachlich begründet.
Gemäß §
7 Abs.
1 des Siebten Sozialgesetzbuchs (
SGB VII) sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung
durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den
Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit erleiden (§
9 Abs.
1 S. 1
SGB VII). Maßgeblich ist seit 1. Dezember 1997 die
Berufskrankheitenverordnung (
BKV) vom 31. Oktober 1997 (BGBl I S. 26, 23). Als Berufskrankheit kommen grundsätzlich nur solche Erkrankungen in Betracht, die von der Bundesregierung als Berufskrankheiten
bezeichnet und in die
BKV aufgenommen worden sind (Listenprinzip). Die Krankheit muss durch eine versicherte Tätigkeit verursacht oder wesentlich verschlimmert
worden sein, d.h. die Gefährdung durch die schädigende Einwirkung muss ursächlich auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen
sein, und die Einwirkung muss die Krankheit verursacht haben (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung,
§
9 SGB VII Rn. 3). Alle rechtserheblichen Tatsachen müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. BSGE 45,
285).
Unstreitig besteht beim Kläger eine Lärmschwerhörigkeit - Hochtonschwerhörigkeit beiderseits - im Sinne der Berufskrankheit
Nr. 2301 der Anlage zur
BKV. Dies hat die Beklagte mit Bescheid vom 26. April 2004 anerkannt. Streitig ist im vorliegenden Verfahren die Frage, ob das
vom Kläger beklagte Ohrgeräusch (Tinnitus) durch diese Lärmschwerhörigkeit verursacht und daher bei der Einschätzung der MdE
zu berücksichtigen ist.
Dies ist zur Überzeugung des Senats im Hinblick auf die vorliegenden ärztlichen Unterlagen und das Gutachten des Hals-Nasen-Ohrenarztes
Prof. Dr. C. vom 10. Juli 2007 sowie seine ergänzende Stellungnahme vom 10. Dezember 2008 der Fall. Prof. Dr. C. hat zunächst
erläutert, es sei völlig unwahrscheinlich, dass die Hochtoninnenohrschwerhörigkeit beidseitig auf die Otosklerose zurückzuführen
wäre. Es finden sich eindeutig mehr Hinweise dafür als dagegen, dass die Hochtonschwerhörigkeit lärmbedingt ist, auch wenn
jetzt, nach Ende der Lärmtätigkeit, möglicherweise zusätzlich eine endogene Innenohrschwerhörigkeit vorliegt. Das Ohrgeräusch
rechts, möglicherweise auch das Ohrgeräusch links, lagen bereits vor Beendigung der Lärmarbeit vor. Dies bestätigen die Atteste
der behandelnden Ärzte Dr. D. und Dr. G ... Das Ohrgeräusch (sowohl rechts als auch links) findet sich in der für eine Lärmschwerhörigkeit
charakteristischen Senke bei 4000 Hz. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sich auf der linken Seite, ohne Anhalt
für eine Otosklerose, ein Ohrgeräusch im Bereich der C-5-Senke findet. Der Kläger beschreibt das Ohrgeräusch als Summton,
also einen eher hochfrequenten Ton, während ein Ohrgeräusch im Rahmen einer Sklerose überwiegend im Tieftonbereich beschrieben
wird. Gegen eine Verursachung des Ohrgeräuschs durch die Otosklerose spricht auch, dass nach einer Operation in 85% der Fälle
eine Verbesserung, in 52,5% der Fälle ein völliges Verschwinden des Ohrgeräuschs zu erwarten gewesen wäre, wenn das Ohrgeräusch
durch die Otosklerose verursacht worden wäre. Beim Kläger zeigte sich aber keinerlei Verbesserung des Ohrgeräuschs. Ein klinischer
oder audiologischer Hinweis auf eine Kapselotosklerose, die ein Ohrgeräusch als Folge der Otosklerose erklären könnte, ist
nicht gegeben. So hat auch der Operateur Prof. Dr. L. ausgeführt, dass die Einschätzung schwierig und nicht eindeutig ist.
Gegen eine Verursachung des Tinnitus durch die Otosklerose spricht, dass gerade durch die Tieftonschwerhörigkeit bei der Otosklerose
die Maskierung eines Ohrgeräuschs nicht mehr erfolgt und der Betroffene das Ohrgeräusch als lauter empfinden wird. Es ist
durchaus wahrscheinlich, so Prof. Dr. C., dass der Kläger sein Ohrgeräusch im Rahmen der fortschreitenden Lärmschwerhörigkeit
schon längere Zeit hatte, es aber anfangs noch nicht als störend empfand und es ihm erst durch die fehlende Maskierung bewusst
wurde.
Hinsichtlich der Einwendungen von Dr. P. und Prof. Dr. B. ist darauf hinzuweisen, dass allein der zeitliche Zusammenhang zwischen
dem Bemerkbarwerden des Tinnitus und dem Auftreten der Otosklerose nicht auf einen ursächlichen Zusammenhang schließen lässt.
Hierzu hat Prof. Dr. C. überzeugend erläutert, dass gerade wegen der durch die zunehmende Otosklerose fehlenden Maskierung
das Ohrgeräusch zunehmend als lauter und belastender empfunden wird. Da der Frequenzbereich charakteristisch für einen Tinnitus
im Rahmen einer Lärmschwerhörigkeit ist, auch links ein Tinnitus im gleichen Frequenzbereich vorliegt und die behandelnden
Ärzte den Beginn des Tinnitus bereits während der Lärmeinwirkung bestätigt haben, ist von einem ursächlichen Zusammenhang
zwischen der Lärmeinwirkung während der Berufstätigkeit und dem Tinnitus auszugehen. Der Kläger hat daher Anspruch auf Feststellung
(§
55 SGG) des Tinnitus als weitere Folge der anerkannten Berufskrankheit.
Die Kostenentscheidung richtet sich nach §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG liegen nicht vor.