Fehlende Nahtlosigkeit einer Arbeitsunfähigkeitsfeststellung
Grundsatzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Bereits geklärte Rechtsfrage
Gründe:
I
Das LSG Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 11.1.2018 festgestellt, dass der Kläger im Zeitraum vom 16.11.2012 bis zum
28.2.2013 zu Recht Krankengeld (Krg) bezogen hat. Darüber hinaus hat es die Beklagte verurteilt, ihm für die Zeit vom 1.3.2013
bis zum 30.4.2013 und vom 8.5.2013 bis zum 16.8.2013 Krg zu zahlen; insofern hat es auf die Berufung des Klägers das Urteil
des SG geändert: Dem Kläger könne nicht entgegengehalten werden, dass das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit (AU) nicht bis zum
Ablauf der bis zum 30.9.2012 bescheinigten AU rechtzeitig vertragsärztlich festgestellt worden sei. Nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme im Berufungsverfahren durch Zeugenvernehmung der behandelnden Ärztin sei der Senat zur Überzeugung gelangt,
dass der Kläger alles in seiner Macht stehende getan habe, um rechtzeitig seine weitere AU ärztlich feststellen zu lassen
unter Beachtung der Maßstäbe des BSG (Urteile vom 11.5.2017 - B 3 KR 22/15 R - BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8 und vom vom 16.12.2014 - B 1 KR 37/14 R - BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7). Vorliegend habe die (nichtmedizinische) Fehlentscheidung der behandelnden Ärztin im Rahmen eines
persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts den Kläger davon abgehalten, auf die zeitgerechte Ausstellung der AU-Bescheinigung zu
insistieren, sodass trotz verspäteter Ausstellung der AU-Bescheinigung am 1.10.2012 der Anspruch auf Krg über den 30.9.2012
hinaus bestanden habe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem vorgenannten Urteil des LSG hat die Beklagte Beschwerde eingelegt. Sie beruft
sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG).
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Beklagte den allein geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache nicht formgerecht dargelegt hat (§
160a Abs
2 S 3
SGG). Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß §
160a Abs
4 S 1 Halbs 2 iVm §
169 S 2 und 3
SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache iS des §
160 Abs
2 Nr
1 SGG nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung
des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren
Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Fragen sich stellen, dass diese
noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts
erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine solche Klärung erwarten lässt (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65).
Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit,
ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von
ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Die Beklagte hält für grundsätzlich bedeutsam die Fragen,
"a) Reicht die bloße ärztliche Inaugenscheinnahme für die im Rahmen der Arbeitsunfähigkeitsfeststellung nach §
46 SGB V erforderliche persönliche Untersuchung aus?
b) Müssen nach §
46 SGB V die persönliche Untersuchung des Versicherten, die hierauf beruhende ärztliche Überzeugungsbildung von der Arbeitsunfähigkeit
und deren Verkörperung (Bescheinigung) durch einen Arzt zeitlich - im Sinne eines einheitlichen Vorgangs - zusammenfallen?
c) Führt die Fehlvorstellung des Arztes über den maßgeblichen Zeitpunkt für die rechtzeitige Feststellung und Bescheinigung
der Arbeitsunfähigkeit auch dann zu einer Suspendierung des Versicherten von seiner Obliegenheit im Sinne von §
46 Abs.
1 Nr.
2 SGB V ohne Erkundigungspflicht bei der Krankenkasse, wenn es sich um einen nur beiläufigen Arzt-Patienten-Kontakt außerhalb des
Praxisbetriebs handelt und der Versicherte den richtigen Zeitpunkt kennt?
d) Kann ein Gutachten des Medizinischen Dienstes nach §
275 Absatz
1 Satz 1 Nr.
3 SGB V eine Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Sinne von §
46 SGB V sein?"
Die Beklagte ist der Ansicht, dass es sich um Fragen von grundsätzlicher Bedeutung handele, die weder anhand der Gesetzeslage
noch nach der - von ihr selbst zitierten umfangreichen - Rechtsprechung des BSG (Bl 26 bis 46 der Beschwerdebegründung) geklärt bzw abweichend vom LSG zu beantworten seien. Ungeachtet der umfänglichen
Beschwerdebegründung (53 Seiten nebst Anlagen) hat die Beklagte die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht hinreichend
aufgezeigt.
Die Beklagte hält die aufgeworfenen Fragen für grundsätzlich bedeutsam, weil die Rechtsfragen die generelle Problematik beträfen,
wann und unter welchen Voraussetzungen eine ärztliche Feststellung der AU (iS von §
46 S 1 Nr 2
SGB V aF bzw §
46 S 1 Nr 2 und S 2
SGB V) vorliege und in welchen Konstellationen der Versicherte bei Nichterfüllung dieser Voraussetzungen ausnahmsweise seinen Anspruch
auf Krg behalte.
Der Senat hat indessen die Ausnahmefälle, bei denen trotz fehlender Nahtlosigkeit der AU-Feststellung dennoch Anspruch auf
Krg besteht, in dem genannten Urteil vom 11.5.2017 (aaO, RdNr 34) unter Berücksichtigung der bis dahin ergangenen umfänglichen
Rechtsprechung präzisiert und um einen weiteren Ausnahmefall erweitert. Der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt ist ua Voraussetzung
für einen solchen Ausnahmefall, der nach den eigenen Darlegungen der Beklagten stattgefunden hat. Die zu a) gestellte Frage
betrifft insofern nur noch Details des Einzelfalls, zu denen das LSG im Rahmen der Beweiswürdigung tatsächliche Feststellungen
getroffen hat. Diese sind für das Revisionsgericht bindend, da sie von der Beklagten nicht mit Verfahrensrügen im Rahmen der
Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen worden sind (vgl §
163 SGG). Ein Bedarf an weiterer revisionsrechtlicher Klärung ist aber nicht aufgezeigt worden.
Hinsichtlich der zweiten Frage (b) fehlt es ebenfalls an ausreichender Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Die Beklagte räumt
selbst ein, dass das LSG diese Frage jedenfalls "nicht explizit beantwortet" habe (Bl 50 der Beschwerdebegründung) und führt
aus, dass das LSG die von ihr aufgeworfene Frage "implizit verneint" habe, weil es unmittelbar einen Ausnahmefall von der
grundsätzlich strikten Handhabung der rechtzeitigen Feststellung der AU angenommen habe. Es erschließt sich dem Senat nach
diesen Ausführungen der Beklagten dann aber nicht, inwieweit diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich
werden könnte. Insofern fehlt es auch an ausreichenden Darlegungen zur Klärungsfähigkeit der Frage.
Hinsichtlich der dritten Frage (c) führt die Beklagte aus, dass das LSG diese Frage unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung
des 1. und 3. Senats beantwortet habe. Insofern übersieht die Beklagte, dass eine Rechtsfrage auch dann als geklärt anzusehen
ist, wenn das Revisionsgericht zwar über bestimmte Fallkonstellationen noch nicht ausdrücklich zu befinden hatte, höchstrichterliche
Entscheidungen oder das Gesetz selbst aber klare oder ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als
grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben. Lediglich auf die Anwendung der von der Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätze
auf einen festgestellten Sachverhalt ist eine weitere Klärung oder Fortentwicklung des Rechts nicht mehr zu erwarten (stRspr,
vgl nur BSG Beschluss vom 18.1.2017 - B 5 RS 44/16 B - Juris RdNr 8 mwN; vgl auch BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 10 ff). Neue klärungsbedürftige Aspekte hat die Beklagte aber nicht hinreichend aufgezeigt,
die Anlass für einen über die bisherige Rechtsprechung des BSG zu §
46 S 1 Nr 2
SGB V hinausgehenden grundsätzlichen Klärungsbedarf geben könnten.
Hinsichtlich der vierten Frage (d) fehlt es erneut an nachvollziehbaren Darlegungen zur Entscheidungserheblichkeit. Die Beklagte
trägt selbst vor, dass diese Frage zwar erstinstanzlich bejaht worden sei, dass das LSG diese Frage aber in seinen Entscheidungsgründen
hat dahinstehen lassen unter gleichzeitiger Darlegung der dafür und dagegen sprechender Argumente (Bl 50 der Beschwerdebegründung).
Insofern fehlt es erneut an hinreichend plausiblem Vortrag zur gleichwohl geltend gemachten Klärungsfähigkeit im angestrebten
Revisionsverfahren.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl §
160a Abs
2 Halbs 2
SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von §
193 SGG.