Bezeichnung eines Verfahrensfehlers im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde
Gründe:
I. Der am 4. Juli 1992 geborene Kläger ist von Geburt an behindert. Er bezieht seit dem 1. September 1999 Leistungen der sozialen
Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I. Die beklagte Pflegekasse lehnte einen Antrag des Klägers vom 6. Dezember 2000 auf
Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe II ab, nachdem eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung
(MDK) vom 14. Mai 2001 (Pflegefachkraft G) einen berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von durchschnittlich
76 Minuten pro Tag, also weniger als den für die Pflegestufe II nach §
15 Abs
3 Nr
2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB XI) erforderlichen Hilfebedarf von mindestens 120 Minuten, ergeben hatte. Zwar betrage der Pflegebedarf bei der Körperpflege,
der Ernährung und der Mobilität täglich 136 Minuten; davon seien jedoch nach §
15 Abs
2 SGB XI 60 Minuten abzuziehen, weil es bei Kindern nur auf den Mehrbedarf im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind ankomme.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 15. Juli 2004), nachdem ein von ihm eingeholtes Gutachten der Ärztin für
Allgemeinmedizin Dr. B vom 17. Januar 2003 einen Mehrbedarf im Bereich der Grundpflege von 110 Minuten ergeben hatte (Pflegebedarf
140 Minuten abzüglich des Bedarfs eines gesunden zehnjährigen Kindes von 30 Minuten). Das Landessozialgericht (LSG) hat die
Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 28. September 2005). Ein nach §
18 Abs
2 Satz 5
SGB XI erstelltes Wiederholungsgutachten des MDK vom 6. Januar 2005 (Pflegefachkraft B) hatte wiederum einen Grundpflegebedarf von
110 Minuten ergeben, wobei insoweit ein Abzug nach §
15 Abs
2 SGB XI aber nicht mehr vorgenommen worden war. Der Kläger vertritt die Ansicht, von dem in den beiden ersten Gutachten festgestellten
Grundpflegebedarf von 136 bzw 140 Minuten dürfe kein Abzug vorgenommen werden, weil erfahrungsgemäß gesunde, normal entwickelte
Kinder ab dem 8. Lebensjahr alle Verrichtungen der Grundpflege im Wesentlichen selbstständig und ohne fremde Hilfe erledigen
würden. Das letzte MDK-Gutachten habe zwar zu Recht keinen Abzug nach §
15 Abs
2 SGB XI mehr vorgenommen, berücksichtige aber nur unzureichend den hohen Anleitungsbedarf, den die Pflegepersonen zu leisten hätten.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG richtet sich die Beschwerde des Klägers.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch die §§
160 Abs
2 und
160a Abs
2 Satz 3
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) normierten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§§ 160a Abs
4 Satz 2,
169 Satz 1 bis 3
SGG).
1) Der Kläger macht geltend, das angegriffene Urteil des LSG betreffe eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG). Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist es erforderlich, die grundsätzliche Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen,
dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat (BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 und 39) und dass sie klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65),
sie also im Falle der Revisionszulassung entscheidungserheblich wäre (BSG SozR 1500 § 160a Nr 54). Ist eine Rechtsfrage bereits
höchstrichterlich entschieden, muss dargelegt werden, dass die Entscheidung in der Rechtsprechung anderer Gerichte oder in
der Literatur auf erhebliche Kritik gestoßen ist, so dass deutlich wird, dass die Rechtsfrage erneut klärungsbedürftig geworden
ist (BSG SozR 3-1500 §
160a Nr 21; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005, §
160 RdNr 7, 7a und §
160a RdNr 14e mwN). Diese Erfordernisse betreffen die gesetzliche Form iS des §
169 Satz 1
SGG (vgl BVerfG SozR 1500 §
160a Nr 48). Deren Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen in der Beschwerdebegründung hält es der Kläger für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob bei der Ermittlung des berücksichtigungsfähigen Pflegebedarfs von neun und zehn Jahre alten behinderten Kindern wegen des
nach §
15 Abs
2 SGB XI vorzunehmenden Abzugs für den Grundpflegebedarf, der bei gleichaltrigen gesunden, normal entwickelten Kindern ohnehin anfällt,
abweichend von den Rahmenwerten der Begutachtungs-Richtlinien (BRi), die zu Abzügen von bis zu 105 Minuten führen - hier:
60 bzw 30 Minuten -, bei Kindern ab acht Jahren kein Abzug (jedenfalls aber kein Abzug von mehr als 15 Minuten, der hier für
die Pflegestufe II unschädlich wäre) in Ansatz gebracht werden darf. Damit wird jedoch eine klärungsfähige Rechtsfrage von
grundsätzlicher Bedeutung nicht formgerecht dargelegt.
a) Soweit der Kläger damit geltend macht, es sei höchstrichterlich festzustellen, dass die in den BRi vorgesehenen Rahmenwerte
für den täglichen Grundpflegebedarf von neun und zehn Jahre alten gesunden, normal entwickelten Kindern zu hoch seien und
dieser Bedarf bei Null liege, jedenfalls aber nur im Umfang von höchsten 15 Minuten realitätsgerecht sei, handelt es sich
nicht um eine Rechtsfrage, sondern um eine Tatfrage. Eine Antwort auf diese Frage lässt sich nicht aus der Auslegung von Rechtssätzen
gewinnen. Sie hängt vielmehr von entwicklungsphysiologischen, kinderpädagogischen bzw pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen
und Erfahrungssätzen ab, die mit Hilfe von Sachverständigen zu ermitteln sind. Medizinische, pädagogische und sonstige wissenschaftliche
Erfahrungssätze gehören zur Tatsachenfeststellung (BSG SozR 1500 § 162 Nr 7; BSG, Beschlüsse vom 10. Juli 2003 - B 3 P 3/03 B -, 25. März 2004 - B 3 P 2/04 B -, 14. Dezember 2004 - B 3 P 24/04 B - und 7. Oktober 2005 - B 1 KR 107/04 B -; BVerwG MDR 1974, 957). Ihre unterbliebene bzw fehlerhafte Ermittlung und Würdigung kann im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde allenfalls als
Verfahrensfehler bei Übergehen eines im Berufungsverfahren gestellten Beweisantrags geltend gemacht werden (§
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG mit der Ausnahme von §
103 und §
128 Abs
1 SGG).
b) Soweit der Kläger die Frage aufwirft, ob die Pflegekassen und die Gerichte bei neun und zehn Jahre alten Kindern einen
pauschalen Abzug wegen ohnehin anfallender Grundpflege entsprechend den Rahmenwerten der BRi vornehmen dürfen und auf eigene
Ermittlungen verzichten können, geht es zwar um eine Rechtsfrage. Es fehlt aber an der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit
dieser Rechtsfrage. Der Kläger setzt sich nicht mit der bereits vorhandenen Rechtsprechung des Senats über die Möglichkeit
der Ermittlung des pflegerischen Mehrbedarfs dauerhaft erkrankter bzw behinderter Kinder anhand der BRi und der darin enthaltenen
Anhaltspunkte und Rahmenwerte (vgl BRi Teil D III Nr 7) auseinander und legt nicht dar, dass die Rechtsfrage anhand dieser
Rechtsprechung nicht entschieden werden kann oder die Entscheidungen auf Kritik gestoßen sind (zB Urteile vom 29. April 1999
- B 3 P 7/98 R - SozR 3-3300 § 14 Nr 10 und vom 13. Mai 2004 - B 3 P 7/03 R - SozR 4-3300 § 23 Nr 2: Rahmenwerte der BRi als "Zeitkorridore mit Leitfunktion", deren Heranziehung mangels besserer Erkenntnisse
bis auf weiteres nicht zu beanstanden ist).
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die aufgeworfene Frage ohnehin nur die Zeit zwischen der Antragstellung
(6. Dezember 2000) und dem 13. Geburtstag des Klägers (4. Juli 2005) betreffen kann, weil nach dem BRi Abzüge nach §
15 Abs
2 SGB XI nur bei Kindern bis zu 12 Jahren gerechtfertigt sind. Für die Zeit ab 4. Juli 2005 hat das LSG demgemäß auch nur auf das
letzte MDK-Gutachten vom 6. Januar 2005 verwiesen, wonach der tägliche Grundpflegebedarf auch ohne Abzugswerte nach §
15 Abs
2 SGB XI nur 110 Minuten betrug. Insoweit ist vom Kläger lediglich die unzureichende Erfassung des tatsächlichen Hilfebedarfs durch
den MDK und das LSG geltend gemacht, aber keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung formuliert worden.
2) Die Rüge der Abweichung des LSG von den - im Berufungsurteil zitierten - Urteilen des LSG Rheinland-Pfalz vom 5. September
2002 - L 5 P 8/02 - (Breithaupt 2003, 168) und des SG Trier vom 11. November 2002 - S 2 P 14/01 - (Breithaupt 2003, 165) ist unzulässig, weil nach §
160 Abs
2 Nr
2 SGG nur eine Divergenz zu einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts
zur Zulassung der Revision führen kann.
3) Ein Verfahrensfehler des LSG (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG) ist ebenfalls nicht formgerecht dargelegt worden.
a) Die Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§
103 SGG) kann nach der ausdrücklichen Anordnung des §
160 Abs
2 Nr
3, letzter Halbsatz
SGG nur dann zur Zulassung der Revision führen, wenn geltend gemacht wird, das LSG sei einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung
nicht gefolgt, und die Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Dabei muss es sich um einen Beweisantrag handeln,
der in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gestellt oder, falls er vorher schriftsätzlich niedergelegt war, aufrecht erhalten
worden ist (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO § 160 RdNr 18b mit Rechtsprechungsübersicht). Einen solchen Beweisantrag
hat der Kläger in der Beschwerdebegründung nicht bezeichnet.
b) Hinsichtlich des Vorwurfs, das LSG habe den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§
62 SGG) verletzt, ist nicht verdeutlicht worden, welches Vorbringen des Klägers übergangen worden sein soll. Den Hinweis des Klägers
auf die Rechtsprechung des LSG Rheinland-Pfalz zu den Abzugswerten der BRi hat das LSG aufgegriffen (Urteilsumdruck S 9).
Dass es Abzugswerte von 60 Minuten bei einem neunjährigen Kind bzw 30 Minuten bei einem zehnjährigen Kind für gerechtfertigt
gehalten hat und damit möglicherweise von der Rechtsprechung des LSG Rheinland-Pfalz abgewichen ist, stellt keinen Verfahrensmangel
dar.
c) Soweit in dem Vorbringen des Klägers zugleich die Rüge einer unzulänglichen Beweiswürdigung gesehen werden sollte, ist
ein Verfahrensmangel ebenfalls nicht formgerecht dargelegt. Eine Verfahrensrüge kann nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG nicht auf eine Verletzung des §
128 Abs
1 Satz 1
SGG gestützt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.