Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB II; Gewährung einer Fahrkostenbeihilfe; Rückwirkung bei Antragstellung
nach Arbeitsaufnahme
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Fahrkostenbeihilfe.
Der 1956 geborene Kläger sowie die mit ihm zusammen lebende Ehefrau und vier Kinder bezogen seit Januar 2005 Leistungen der
Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Am 21. August 2006 nahm der Kläger eine Beschäftigung
bei der Firma O. KG auf. Eingesetzt war er in der Zeit vom 21. August bis 21. September 2006 bei der Firma f. GmbH in V. (Entfernung
zur Wohnung des Klägers 20,5 km) und vom 22. September 2006 bis 21. Februar 2007 bei der Firma J. D. in M. (Entfernung zur
Wohnung des Klägers 11,5 km).
Im Rahmen einer persönlichen Vorsprache am 24. August 2006 stellte der Kläger einen Antrag auf Gewährung einer Fahrkostenbeihilfe.
Mit Bescheid vom 11. September 2006 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da der Antrag auf Mobilitätshilfen bei Aufnahme einer
Beschäftigung grundsätzlich vor Arbeitsaufnahme zu stellen sei. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, § 16 SGB
II enthalte keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Antrag vor Arbeitsaufnahme gestellt sein müsse. Darüber hinaus lege er Wert
auf die Feststellung, dass er den Antrag auf Gewährung von Fahrkostenbeihilfe vor der Arbeitsaufnahme am 21. August 2006 gestellt
habe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 10. April 2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende
erfasse auch die Gewährung von Fahrkostenbeihilfe als Mobilitätshilfe. Nach § 37 Abs. 1 SGB II würden Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitssuchende nur auf Antrag erbracht. Über den Verweis von §
16 Abs.
1a SGB II auf die Geltung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB III) gelte unter anderem §
324 Abs.
1 Satz 1
SGB III, wonach Leistungen der Arbeitsförderung nur erbracht würden, wenn sie vor Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses
beantragt worden seien. Leistungsbegründendes Ereignis sei hier die Aufnahme der Beschäftigung des Klägers. Die Antragstellung
sei nach der Aufnahme der Beschäftigung erfolgt, so dass keine Fahrkostenbeihilfe gewährt werden könne. Die Ausnahmeregelungen
in §
323 Abs.
1 Satz 3 und §
324 Abs.
1 Satz 2
SGB III fänden wegen §
16 Abs.
1 a SGB II keine Anwendung, da § 37 SGB II weder eine Leistungserbringung von Amts wegen, noch eine verspätete Antragstellung
bei unbilliger Härte vorsehe. Die behauptete Antragsstellung vor Arbeitsaufnahme sei nicht substantiiert dargelegt.
Mit seiner am 19. April 2007 zum Sozialgericht (SG) Mannheim erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, er habe am Vormittag des 21. August 2006 von dem Leiter der Zeitarbeitsfirma
O. P. KG das Angebot zum Abschluss eines Arbeitsvertrags als Produktionshelfer erhalten. Der Abschluss des Arbeitsvertrags
sei an die Bedingung geknüpft gewesen, das Arbeitsverhältnis sofort anzutreten. Entsprechend habe der Kläger noch am Vormittag
des 21. August 2006 seine Arbeit aufgenommen. Am 22. und 23. August 2006 habe er erfolglos wiederholt versucht, die Beklagte
telefonisch zu erreichen. Am 24. August 2006 habe er bei der Entleihfirma in V. um eine Freistellung von der Arbeit gebeten,
um Einstiegsgeld und Fahrkostenbeihilfe beantragen zu können. Entsprechend §
324 Abs.
1 Satz 1
SGB III sei der Antrag zwar grundsätzlich vor Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses zu stellen, nach Satz 2 könne jedoch
eine verspätete Antragstellung zur Vermeidung unbilliger Härten zugelassen werden. Von dem ihr eingeräumten Ermessen habe
die Beklagte keinen Gebrauch gemacht, weil sie die Möglichkeit einer unbilligen Härte während des Verwaltungsverfahrens in
keiner Weise in Betracht gezogen habe. Der Kläger habe mit dem sofortigen Arbeitsantritt alles getan, um seine Arbeitslosigkeit
zu beenden. Es sei widersinnig, von ihm die Ausschlagung dieser Möglichkeit zu verlangen, um Kontakt mit der Beklagten aufzunehmen.
Angesichts des gerade überwundenen Alg-II-Bezugs und der nachfolgenden kargen Vergütung durch eine Zeitarbeitsfirma stelle
eine monatliche Belastung von 75 EUR allein für die Fahrkosten eine solche Belastung dar, dass man eine Reduzierung des eingeräumten
Ermessens auf Null bejahen könne. Habe die Verwaltung von dem ihr eingeräumten Ermessen - wie hier - überhaupt keinen Gebrauch
gemacht, sei der Betroffene in seinem Recht auf seine ermessensfehlerfreie Entscheidung verletzt. Die unterbliebene Ermessenausübung
könne nach Klageerhebung nicht mehr nachgeholt werden.
Mit Urteil vom 11. Februar 2008 hat das SG Mannheim die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt,
nachdem der Kläger nunmehr eingeräumt habe, den Antrag auf Fahrkostenbeihilfe erst drei Tage nach Arbeitsaufnahme gestellt
zu haben, seien die Voraussetzungen einer Gewährung von Fahrkostenbeihilfe nicht gegeben. Ob die Beklagte gemäß §
16 Abs.
1a SGB II in Verbindung mit §
324 Abs.
1 Satz 2
SGB III auch im Bereich des SGB II zur Vermeidung unbilliger Härten eine verspätete Antragstellung zulassen dürfe, könne letztlich
offen bleiben. Selbst wenn man hiervon ausgehe, führe dies nicht zum Erfolg der Klage, da die Beklagte entsprechende Ermessenserwägungen
im Klageverfahren nachgeholt habe. Die Beklagte sei nach § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) berechtigt gewesen, Ermessenserwägungen im Klageverfahren nachzuschieben. Ermessen sei auszuüben hinsichtlich der Frage,
ob überhaupt eine verspätete Antragsstellung wegen besonderer Härte zugelassen werde und darüber hinaus, ob die Leistung auch
ausgehend von rechtzeitiger Antragstellung bewilligt werden solle, da die entsprechenden Leistungen nach § 16 Abs. 1 SGB II
Ermessensleistungen seien. Vorliegend sei nach dem geschilderten Ablauf verständlich, dass der Antrag verspätet gestellt worden
sei, so dass die Zulassung einer verspäteten Antragstellung geboten sein möge. Jedoch seien die Erwägungen der Beklagten,
warum keine Fahrkostenbeihilfe zu gewähren sei, in der Sache nicht zu beanstanden. Zweck der Fahrkostenbeihilfe sei die Ermöglichung
einer Arbeitsaufnahme, die ansonsten an den zu hohen Kosten für den Weg zur Arbeit scheiterte. Die Entfernung von M.-S. zur
ersten Arbeitsstelle in V. mit ca. 18 km halte sich absolut im Rahmen des Üblichen. Es sei auch ermessengerecht, zu berücksichtigen,
dass der Abzug von Fahrkosten als Werbungskosten bei der Einkommensanrechnung die Belastung abfedere und im Falle des Klägers
jedenfalls für den Weg nach Viernheim die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel möglich gewesen sei. Zu weiter entfernt gelegenen
Einsatzorten habe der Kläger vom Arbeitgeber die Fahrkosten erstattet bekommen, soweit sie 30 km Entfernung überschritten.
Die Beklagte habe ihr Ermessen sowohl hinsichtlich der Zulassung einer verspäteten Antragstellung als auch in der Sache entsprechend
dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt und sich an die gesetzlichen Grenzen des Ermessens gehalten.
Gegen das seinem Bevollmächtigten am 15. April 2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30. April 2008 beim Landessozialgericht
(LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Zur Begründung bezieht er sich auf sein Vorbringen in erster Instanz und macht
geltend, zu Recht gehe das SG von der Zulassung einer verspäteten Antragstellung wegen besonderer Härte aus. Allerdings habe die Beklagte weder im Ausgangs-
noch im Widerspruchsbescheid Ermessenserwägungen getätigt. Es liege ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs vor, so dass die
Versagung nur rechtmäßig wäre, wenn eine Ermessensreduzierung auf nur eine mögliche Entscheidung vorläge, was hier jedoch
nicht der Fall sei. Die unterbliebene Ermessensausübung könne nicht nachträglich durch Ermessenserwägungen in einem Schriftsatz
im laufenden Gerichtsverfahren geheilt werden (unter Hinweis auf LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Februar 2008 - L 2 U 221/06 - (juris)). Darüber hinaus habe die wirtschaftliche Lage des Klägers zum Zeitpunkt der Antragstellung berücksichtigt werden
müssen. Der Kläger habe am Rande des Existenzminimums gelebt und von seinem Arbeitgeber nur Fahrkosten erstattet bekommen,
wenn der Einsatzort mehr als 30 km von M. aus entfernt gelegen habe.
Der Kläger beantragt:
Das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 11. Februar 2008 wird aufgehoben.
Der Bescheid der Beklagten vom 11. September 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2007 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Fahrkostenbeihilfe für die Zeit vom 21. August 2006 bis 21. Februar 2007 in Höhe
von 1.056 EUR zu zahlen, hilfsweise
über den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Fahrkostenbeihilfe vom 24. August 2006 unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Senats erneut zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Hinsichtlich des Zeitraumes vom 22. September 2006 bis 21. Februar 2007 seien bereits die Tatbestandsvoraussetzungen des §
53 Abs.
2 Nr.
3 SGB III nicht erfüllt, da es sich nicht um eine auswärtige Arbeitsaufnahme gehandelt habe. Die Tätigkeit bei den J.-D. Werken habe
sich ebenso wie die Wohnung des Klägers in M. befunden. Bei einer Entfernung von 11,32 km liege auch keine innerörtlich erhebliche
Entfernung vor. Eine Ermessensentscheidung sei für diese Zeit daher gar nicht vorzunehmen. Selbst wenn die Zulassung der verspäteten
Antragstellung geboten gewesen sein mochte, seien ansonsten die Erwägungen der Beklagten - wie das SG Mannheim festgestellt
habe - nicht zu beanstanden. Nach der Vorgehensweise des Klägervertreters erhalte jeder, der im Leistungsbezug stehe, eine
Fahrkostenbeihilfe, denn die wirtschaftliche Lage der Arbeitslosengeld II-Empfänger sei stets - im Rahmen des geschützten
Vermögens - unter dem soziokulturellen Existenzminimum, welches erst durch den Leistungsbezug sicher gestellt sei. In Bezug
auf den Zeitraum vom 21. August bis 21. September 2006, die Tätigkeit in V., seien Mobilitätshilfen zur Aufnahme der Beschäftigung
nicht notwendig. Bei einer Entfernung von ca. 20 km und einem Monatskartenpreis von 75 EUR hätte es die Beklagte für sehr
wahrscheinlich gehalten, dass der Kläger die Arbeit auch ohne Fahrkostenbeihilfe annehmen werde, wie er es tatsächlich getan
habe. Darüber hinaus ergäben die beantragten Fahrkosten von 1.056 EUR einen Monatspreis von 176 EUR. Dieser stehe in auffälligem
Missverhältnis zum Preis für eine Monatskarte für öffentliche Verkehrsmittel, so dass die Fahrkosten mit dem eigenen Pkw doch
keine derart große Belastung darzustellen schienen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten
der Beklagten, die Klageakte des SG und die Berufungsakte des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung, über die der Senat nach erteiltem Einverständnis der Beteiligten gemäß §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, hat teilweise Erfolg.
Die Berufung ist zulässig. Sie ist gemäß §
151 Abs.
1 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§
143 SGG), Berufungsausschließungsgründe im Sinne von §
144 Abs.
1 SGG liegen nicht vor. Die Berufung ist jedoch nur zu einem geringen Teil begründet. Der angefochtene Bescheid vom 11. September
2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2007 ist lediglich insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger
in seinen Rechten, als die Beklagte hinsichtlich des Zeitraumes vom 24. August bis 21. September 2006 zur Neubescheidung über
den gestellten Antrag zu verpflichten war. Im übrigen ist die unbegründete Berufung zurückzuweisen.
Als Anspruchsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Fahrkostenbeihilfe kommt allein § 16 Abs. 1 Satz
2 SGB II in Verbindung mit §
53 Abs.
1,
2 Nr.
3 b SGB III in Betracht. Danach kann die Agentur für Arbeit zur Eingliederung in Arbeit u.a. die im Dritten Abschnitt des Vierten Kapitels
des Dritten Buches geregelten Leistungen erbringen, wozu die Mobilitätshilfen gehören. Dabei ist unstreitig, dass der Kläger
dem Grunde nach berechtigt ist, Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, welche Leistungen zur Eingliederung in Arbeit
umfassen (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 SGB II), in Anspruch zu nehmen. Der Kläger hat das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr
noch nicht vollendet, er ist erwerbsfähig, hilfebedürftig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
und ist damit ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Die Hilfebedürftigkeit ergibt sich
schon daraus, dass der Kläger und die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Familienmitglieder seit Januar 2005 Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhaltes beziehen, da die jeweils erzielten Einkommen - auch im hier streitigen Zeitraum vom 21.
August 2006 bis 21. Februar 2007 - nicht ausreichten, den Unterhalt der Familie sicherzustellen. Als italienischer Staatsangehöriger
ist der Kläger auch leistungsberechtigt im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 8 Abs. 2 SGB II, da ihm die Aufnahme
einer Beschäftigung erlaubt ist (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration
von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) i.V.m. § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) in der bis 27.
August 2007 geltenden Fassung (BGBl. I 2004, 1950, 1986)).
Die Leistung muss gesondert beantragt werden, da ein Antrag auf Alg II nicht automatisch einen Antrag auf Eingliederungsleistungen
nach § 16 SGB II umfasst (vgl. Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage, § 16 Rdnr. 21b). Dabei ist zu beachten, dass
nach §
16 Abs.
1a SGB II die Vorschriften des
SGB III entsprechend anzuwenden sind, soweit das SGB II keine abweichenden Regelungen enthält. Diese, mit Wirkung zum 01. August
2006 eingefügte Vorschrift (Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 20. Juli 2006, BGBl. I S.
1706) entspricht der früheren Regelung in § 16 Abs. 1 Satz 3 SGB II und sollte zur Klarstellung der bisherigen Rechtslage dienen
(vgl. BT-Drucks. 16/1696 S. 26). Insoweit bedeutet diese Regelung, dass für die Eingliederungsleistungen nach §
16 Abs.
1 SGB II sowohl die Voraussetzungen als auch die Rechtsfolgen des
SGB III gelten, soweit das SGB II keine abweichenden Voraussetzungen regelt. Es handelt sich insoweit um eine dynamische Rechtsgrundverweisung
(vgl. Eicher in Eicher/Spellbrink, aaO., § 16 Rdnr. 56; Zahn in Mergler/Zink, SGB II, § 16 Rdnr. 83; Voelzke in Hauck/Noftz,
SGB II, § 16 Rdnr. 313; Niewald in LPK-SGB II, 2. Aufl., § 16 Rdnr. 11).
Die Antragstellung nach Arbeitsaufnahme erst am 24. August 2006 steht dem geltend gemachten Anspruch nicht schon dem Grunde
nach entgegen. Hinsichtlich der Antragstellung enthält §
37 SGB II Regelungen, die von dem Antragserfordernis nach §§
323 ff.
SGB III abweichen. So werden anders als gemäß §
323 Abs.
1 Satz 3
SGB III Leistungen nicht von Amts wegen erbracht (§
37 Abs.
1 SGB II; vgl. auch Link in Eicher/Spellbrink, aaO., §
37 Rdnr. 9). Nach §
324 Abs.
1 Satz 1
SGB III werden Leistungen der Arbeitsförderung nur erbracht, wenn sie vor Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses beantragt
worden sind. Für einen im Bereich des
SGB III gestellten Antrag auf Fahrkostenbeihilfe bedeutet dies, dass er vor der Arbeitsaufnahme als leistungsbegründendes Ereignis
- in dem Sinne, dass die Arbeitsaufnahme den unmittelbaren Leistungsbedarf auslöst - gestellt werden muss. Zur Vermeidung
unbilliger Härten ist insoweit §
324 Abs.
1 Satz 2
SGB III zu berücksichtigen, wonach eine verspätete Antragstellung zugelassen werden kann. Bei Zulassung einer verspäteten Antragstellung
wirkt der Antrag zurück, so dass der Antragsteller vergleichbar einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand so zu stellen
ist, als habe er den Antrag rechtzeitig gestellt (vgl. Niesel in Niesel,
SGB III, 4. Aufl., §
324 Rdnr. 9). Eine derartige Rückwirkung kommt im Rahmen des SGB II nicht in Betracht, § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II regelt insoweit
ausdrücklich, dass Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht für Zeiten vor Antragstellung erbracht werden, abgesehen
von der in Satz 2 geregelten Ausnahme für das Eintreten der Anspruchsvoraussetzungen an einem Tag, an dem der zuständige Leistungsträger
nicht geöffnet hat. Dies spricht eindeutig gegen die Anwendung des §
324 Abs.
1 Satz 2
SGB III im Bereich der Eingliederungsleistungen nach dem SGB II (vgl. Eicher in Eicher/Spellbrink, aaO., § 16 Rdnr. 58; offen gelassen
Voelzke in Hauck/Noftz, aaO., §
16 Rdnr. 320). Da die Systematik im Bereich der §§
323 ff.
SGB III und des §
37 SGB II wie oben dargestellt völlig unterschiedlich ist, sieht der Senat die Regelung des § 37 SGB II für den Bereich der
Eingliederungsleistungen als abschließende anderweitige Regelung an, die gemäß §
16 Abs.
1a SGB II einer entsprechenden Anwendung der §§
323 ff.
SGB III insgesamt entgegen steht (vgl. Zahn in Mergler/Zink, aaO., §
16 Rdnr. 86; Link in Eicher/Spellbrink, aaO., § 37 Rdnr. 21b; wohl auch Eicher in Eicher/Spellbrink, aaO., § 16 Rdnr. 58). Dass
insoweit eine unterschiedliche Behandlung von Antragstellern erfolgt, je nachdem ob sie als SGB II-Berechtigte Eingliederungsleistungen
beantragen oder originär Leistungsansprüche nach dem
SGB III geltend machen, steht unter Gleichheitsgesichtspunkten einer derartigen Auslegung im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit
der Leistungssysteme nach dem SGB II und dem
SGB III nicht entgegen.
Gegen die von der Beklagten vertretene Auffassung einer Anwendung von §
324 Abs.
1 Satz 1
SGB III, nicht aber von Satz 2 der Vorschrift im Bereich der Eingliederungsleistungen spricht, dass es kaum nachvollziehbar ist,
warum zwar eine Modifizierung des § 37 SGB II im Sinne einer Verschärfung (Antragstellung vor Arbeitsaufnahme), nicht aber
auch im Sinne einer diese Verschärfung wieder abmildernden Härtefallregelung möglich sein soll - wenn auch insoweit die Grenze
des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen wäre, so dass zwar ggf. eine verspätete Antragstellung zugelassen werden
könnte, Leistungen jedoch gleichwohl erst ab Antragstellung gewährt werden könnten. Diese Kontrollüberlegungen zeigen zudem
deutlich, dass die Systeme des Antragserfordernisses in §§
323 ff.
SGB III und §
37 SGB II kaum kompatibel sind, so dass insgesamt die besseren Gründe dafür sprechen, die Vorschriften der §§
323 ff.
SGB III im Bereich der Eingliederungsleistungen gemäß §
16 Abs.
1a SGB II überhaupt nicht heranzuziehen.
Nach alledem konnte der Kläger auch am 24. August 2006 noch wirksam den Antrag auf Fahrkostenbeihilfe stellen, auch wenn eine
Leistungsgewährung vor Antragstellung für den Zeitraum vom 21. bis 23. August 2006 wegen § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II nicht in
Betracht kommt, so dass die Berufung für diesen Zeitraum schon aus diesem Grund keinen Erfolg haben kann.
Nach §
16 Abs.
1 Satz 2 SGB II in Verbindung mit §
53 Abs.
1 SGB III können Leistungsberechtigte nach dem SGB II, die eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen, durch Mobilitätshilfen
gefördert werden, soweit dies zur Aufnahme der Beschäftigung notwendig ist. Bei der insoweit erforderlichen Prognoseentscheidung
ist darauf abzustellen, ob das Beschäftigungsverhältnis ohne die Gewährung der Mobilitätshilfen wahrscheinlich nicht zustande
kommen würde (vgl. LSG Thüringen, Urteil vom 06. November 2003 - L 3 AL 755/01 - (juris)). Es handelt sich um eine gerichtlich voll überprüfbare Prognoseentscheidung, der Beklagten steht insoweit kein
Beurteilungsspielraum zu (BSG SozR 4 - 4200 § 16 Nr. 1; Voelzke, aaO. § 16 Rdnr. 337; a.A. Eicher in Eicher/Spellbrink, aaO.,
§ 16 Rdnr. 179). Entscheidend sind die Verhältnisse, die zu der Zeit vorlagen, als die Verwaltung mit dem Antrag des Klägers
befasst war (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19. April 2007 - L 7 AL 543/06 -). Wie die Beklagte im Rahmen des Berufungsverfahrens deutlich gemacht hat, ist sie der Auffassung, angesichts der nur geringen
Entfernung vom Wohnort des Klägers bis zu seinem Arbeitsort in V. werde für sehr wahrscheinlich gehalten, dass der Kläger
die Arbeit auch ohne Fahrkostenbeihilfe antreten und das Beschäftigungsverhältnis zustande kommen werde. Aus der Tatsache,
dass der Kläger das Beschäftigungsverhältnis ohne entsprechende Beihilfe tatsächlich aufgenommen hat, kann indes nicht im
Rückblick geschlossen werden, dass schon aus diesem Grunde die Fahrkostenbeihilfe nicht notwendig war. Nach dem geschilderten
zeitlichen Ablauf hatte der Kläger keine andere Wahl, als die Arbeit mit Vertragsschluss entweder sofort anzutreten oder gar
keinen Arbeitsvertrag zu erhalten. Dass die begehrte Fahrkostenbeihilfe für den Kläger sehr wohl von erheblicher Bedeutung
war, zeigt sich auch daran, dass er bei der Entleihfirma um eine Arbeitsfreistellung nachgesucht hat, um den - nach seiner
Vorstellung nur im Rahmen einer persönlichen Vorsprache möglichen - Antrag stellen zu können. Nach Auffassung des Senats dürfen
an das Kriterium der Notwendigkeit i.S.v. §
53 Abs.
1 SGB III für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II jedenfalls dann keine zu strengen Anforderungen gestellt werden, wenn der zu
erwartende Verdienst gering ist. Die Überlegungen zur Zumutbarkeit, wie sie die Beklagte in ihrem Schreiben vom 17. September
2007 angestellt hat, können durchaus im Rahmen der - bejaht man die Eingangsvoraussetzungen - erforderlichen Ermessensentscheidung
berücksichtigt werden.
Nach §
53 Abs.
2 Nr.
3b SGB III umfassen die Mobilitätshilfen bei Aufnahme einer Beschäftigung tägliche Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle (Fahrkostenbeihilfe)
allerdings nur bei auswärtiger Arbeitsaufnahme. In der Zeit vom 22. September 2006 bis 31. Februar 2007 hat der Kläger indes
bei der Firma J. D. in M. gearbeitet, also an seinem Wohnort. Von einer auswärtigen Arbeitsaufnahme kann insoweit nicht die
Rede sein. Angesichts der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 11,5 km (Routenplaner) besteht auch kein Bedürfnis
für eine erweiternde Auslegung des §
53 Abs.
2 Nr.
3 SGB III (so für erhebliche innerörtliche Entfernungen Petzold in Hauck/Noftz,
SGB III §
54 Rdnr. 10; Hennig in Eicher/Schlegel,
SGB III, §
53 Rdnr. 57), da bei einer einfachen Fahrstrecke von lediglich 11,5 km jedenfalls keine derart erhebliche Entfernung in Rede
steht (wie hier auch LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 20. Februar 2007 - L 2 AL 84/05 - (juris)). Für diesen Zeitraum kommt daher unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch des Klägers auf Gewährung
einer Fahrkostenbeihilfe in Betracht, so dass sich insoweit die Frage einer unterbliebenen bzw. nachgeholten Ermessensausübung
durch die Beklagte nicht stellt. Insoweit war die Berufung für den Zeitraum 22. September 2006 bis 31. Februar 2007 daher
ebenfalls zurückzuweisen.
Für die Zeit vom 24. August bis 21. September 2006 sind dem gegenüber die Eingangsvoraussetzungen für die Gewährung von Fahrkostenbeihilfe
dem Grunde nach erfüllt. Die Beklagte hat daher Ermessen auszuüben hinsichtlich der Frage, ob überhaupt Mobilitätshilfen gewährt
werden, da die Gewährung in ihrem Ermessen steht. Die Beklagte hat weder im Ausgangs- noch im Widerspruchsbescheid Ermessen
ausgeübt. Entgegen der Auffassung des SG kann durch die Ausführungen der Beklagten in Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung vor dem SG dieser Fehler nicht geheilt werden. Gemäß §
39 Abs.
1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (
SGB I) besteht auf eine pflichtgemäße Ermessenausübung ein Anspruch. Bei völligem Ausfall des Ermessens ist der Verwaltungsakt
nach §
54 Abs.
2 Satz 1 und
2 SGG rechtswidrig. Die Beklagte hat bei Erlass des angefochtenen Bescheids ihre Pflicht zur Ermessensausübung verkannt, da sie
davon ausging, bereits die Antragstellung nach Arbeitsaufnahme stehe dem Anspruch dem Grunde nach entgegen. Für Ermessenentscheidungen
schreibt § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X eine erweiterte Begründungspflicht vor, wonach die Begründung diejenigen Gesichtspunkte erkennen lassen muss, von denen die
Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Mängel in der Mitteilung der Ermessensbegründung sind heilbar nach
§ 41 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 SGB X (vgl. Steinwedel in Kasseler Kommentar, SGB X, § 41 Rdnr. 25; Schütze in von Wulffen, SGB X, 6. Auflage, § 41 Rdnr. 11). Nach der ab 1. Januar 2001 geltenden Neufassung des § 41 Abs. 2 SGB X (BGBl. I 2001 S. 130) kann eine erforderliche Begründung eines Verwaltungsaktes noch bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen
Verfahrens nachgeholt werden und nicht mehr wie zuvor nur bis zur letzten Behördenentscheidung. Indes ermöglicht auch die
Neufassung des § 41 Abs. 2 SGB X nicht das erstmalige Anstellen von zuvor unterbliebenen Ermessenserwägungen noch während des gerichtlichen Verfahrens. Die
Erwägungen der Beklagten im gerichtlichen Verfahren stellen die erstmalige Ausübung von Ermessen dar, die nur in einem neuen
Bescheid, nicht aber durch eine Ergänzung des bisherigen Bescheides erfolgen kann, denn eine Ermessensentscheidung ist gegenüber
einer gebundenen Entscheidung, wie sie die Beklagte zunächst getroffen hat, ein aliud (vgl. Schütze in von Wulffen, aaO.,
§ 41 Rdnr. 11). Ein Ermessensausfall kann nach alledem nicht durch das Nachschieben einer Begründung im Klageverfahren geheilt
werden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Februar 2007 - L 10 R 5254/05 - ; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. Dezember 2007 - L 17 U 37/07 - ; LSG Berlin - Brandenburg, Urteil vom 12. Februar 2008 - L 2 U 221/06 - (alle juris)).
Hinsichtlich des Zeitraums vom 24. August bis 21. September 2006 ist somit noch eine Ermessensentscheidung durch die Beklagte
zu treffen. Das Gericht kann sein Ermessen nicht an die Stelle der Verwaltung setzen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom
19. Juli 2007 - L 7 AS 1703/06 - (juris)). Eine Ermessensreduzierung auf nur eine mögliche Entscheidung - die Gewährung von Fahrkostenbeihilfe - liegt hier
nicht vor. Zwar spricht im Hinblick auf den geringen Verdienst des Klägers und den schon längeren Leistungsbezug für die Gewährung,
dass so die Motivation des Klägers gefördert und aufrecht erhalten werden kann, auch eine gering entlohnte Beschäftigung aufzunehmen,
die weiterhin ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erforderlich macht, anstatt den gesamten
Lebensunterhalt der Familie durch den Sozialleistungsbezug zu finanzieren. Auf der anderen Seite ist es der Beklagten nicht
verwehrt, die geringe Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort (20 km) ebenso zu berücksichtigen wie den Umstand, dass der
Kläger trotz des Bezugs von SGB II-Leistungen das teurere Verkehrsmittel Auto gewählt hat, obgleich der Arbeitsplatz günstiger
auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar gewesen wäre. Im Rahmen der Zumutbarkeit der Belastung mit den Fahrkosten
kann die Beklagte auch berücksichtigen, dass die Belastung mit den Fahrkosten durch den andauernden Leistungsbezug insoweit
abgemildert wird, als diese im Rahmen des § 11 Abs. 2 Nr. 5 SGB II zumindest anteilig vom Einkommen abgesetzt werden können.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG) zugelassen. Bislang existiert - soweit ersichtlich - keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, ob und in welcher
Form die Vorschriften über die Antragstellung bei den Leistungen der aktiven Arbeitsförderung (§
323 ff.
SGB III) im Rahmen der Eingliederungsleistungen über §
16 Abs.
1a SGB II anzuwenden sind.