Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Befreiung von der Zuzahlungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die 1971 geborene, ledige Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie lebt in einem Pflegeheim und bezieht
seit August 2015 (voraussichtlich auf Dauer) Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Auf den Antrag der Klägerin, sie von den gesetzlichen Zuzahlungen zu befreien, setzte die Beklagte mit Bescheid vom 4. November
2015 die Belastungsgrenze der Klägerin für das Jahr 2016 auf € 48,48 fest. Bis zu diesem Betrag seien Zuzahlungen von der
Klägerin zu leisten.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein und trug zur Begründung im Wesentlichen vor, die Entscheidung der Beklagten entspreche
zwar den gesetzlichen Regelungen des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch (
SGB V). Die Anwendung der Normen auf den vorliegenden Fall sei jedoch verfassungswidrig. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) aus dem Jahr 2008 (Urteil vom 22. April 2008 - B 1 KR 10/07 R - [...]), wonach das Existenzminimum durch die Zuzahlungsverpflichtung nicht unterschritten werde, sei durch die aktuellere
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11 - [...]) zu den Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz überholt. Der monatliche Barbetrag nach § 27b Abs. 2 Satz 2 SGB XII in Höhe von € 107,73 im Jahr 2015 liege schon bedeutend unterhalb des vom BVerfG festgesetzten physischen und soziokulturellen
Existenzminiums und dürfe deshalb nicht weiter geschmälert werden. Sie begehre deshalb, ihr die Vorauszahlungen für 2016 und
alle anderen Aufwendungen für nach §
34 SGB V für von der Versorgung nach §
31 SGB V ausgeschlossene Arznei-, Heil- und Hilfsmittel im Jahr 2016 zu erstatten und zukünftig nicht mehr anzufordern.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 2016 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin unter
Verweis auf die Regelung in §
62 SGB V zurück. Die gesetzlich vorgegebenen Belastungsgrenzen seien eingehalten worden.
Am 1. Februar 2016 erhob die Klägerin beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage und beantragte, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 4. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 27. Januar 2016 zu verurteilen, die Vorauszahlungen für 2016 und alle anderen Aufwendungen für nach §
34 SGB V für von der Versorgung nach §
31 SGB V ausgeschlossene Arznei-, Heil- und Hilfsmittel im Jahr 2016 zu erstatten und zukünftig nicht mehr anzufordern. Zur Begründung
wiederholte sie im Wesentlichen ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren. Die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden
Normen seien verfassungswidrig. Insbesondere liege eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von ihr im Vergleich zu Asylbewerbern
vor. Der Rechtsstreit sei dem BVerfG vorzulegen.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.
Mit Urteil vom 2. Juni 2017 wies das SG die Klage der Klägerin ab und führte zur Begründung aus, das Begehren der Klägerin sei dahingehend auszulegen, dass sie die
Befreiung von der Zuzahlungsverpflichtung ab dem Jahr 2016 sowie die Erstattung der bereits erfolgten Vorauszahlungen begehre.
Die zulässige Klage sei unbegründet, weil der angefochtene Bescheid vom 4. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 27. Januar 2016 rechtmäßig sei. Die Entscheidung beruhe auf der geltenden Rechtslage. Rechtsgrundlage seien die §§
61,
62 SGB V. Die Belastungsgrenze betrage zwei von Hundert der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Bei Versicherten wie der
Klägerin sei der Regelsatz für die Regelbedarfsstufe I nach der Anlage zu § 28 SGB XII maßgeblich. Für das Jahr 2016 ergebe sich daraus ein Zuzahlungsbetrag von € 48,48. Die Entscheidung der Beklagten sei deshalb
rechtlich nicht zu beanstanden. Aus denselben Gründen bestünde kein Anspruch auf Erstattung der bereits geleisteten Vorauszahlungen.
Auch eine Aussetzung des Verfahrens und eine Vorlage an das BVerfG nach Art.
100 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) scheide aus, weil die Kammer nicht von der Verfassungswidrigkeit der Normen überzeugt sei. Die bisherige Rechtsprechung
habe die vielfach erhobenen Einwände gegen die Zuzahlungsverpflichtung nicht geteilt. Das BSG habe bestätigt, dass die Zuzahlungen als Teil des Regelbedarfs gewährt würden und das notwendige Existenzminimum durch die
Regelung der Belastungsgrenze nicht verletzt werde (Urteil vom 22. April 2008 - B 1 KR 10/07 R -; Beschluss vom 21. Januar 2011 - B 8 SO 57/10 B -). Der Bundesfinanzhof (BFH) habe in diesem Zusammenhang jüngst entschieden,
dass die Zuzahlungen nicht zum (einkommenssteuerrechtlichen) Existenzminimum gehörten (Urteil vom 2. September 2015 - VI R 32/13 und VI R 33/13 -). Die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde habe das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluss vom 23. November
2016 - 2 BvR 180/16 -). Den genannten Entscheidungen schließe sich die Kammer nach eigener Prüfung an. Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung
der Klägerin im Vergleich zu Asylbewerbern liege nicht vor. Im Bereich der Massenverwaltung dürfe der Gesetzgeber typisierende
Regelungen treffen, wenn damit verbundene Härten nicht besonders schwer wiegten und nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären.
Entsprechend besonders schwer wiegende Härten seien nicht ersichtlich. Zu berücksichtigen sei insbesondere, dass die Befreiung
von Asylbewerbern von der Zuzahlungspflicht nur für die ersten 15 Monate ihres Aufenthalts gelte. Danach seien auch für diese
Personengruppe die Regelungen des SGB XII anwendbar.
Gegen das ihr am 13. Juni 2017 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. Juni 2017 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg
(LSG) eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen ihren bisherigen Vortrag wiederholt. Ergänzend hat sie vorgetragen, das
SG sei nicht auf ihre Argumente eingegangen. Insbesondere gehe das SG nicht auf die europarechtlichen Richtlinien 2011/95/EU, 2013/33/EU und 2000/43/EG ein. Zudem weise sie auf die Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) hin. Auf den Hinweis des Senats, die Berufungssumme von € 750,00 werde möglicherweise nicht erreicht, hat die Klägerin die
Auffassung vertreten, es handle sich um jährlich wiederkehrende Leistungen. Sie habe gegen die Bescheide für die Jahre 2016
bis 2018 jeweils Widerspruch eingelegt. Die Rechtssache habe auch grundsätzliche Bedeutung.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG vom 2. Juni 2017 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 4. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 27. Januar 2016 zu verurteilen, die Klägerin von den Zuzahlungen ab dem Jahr 2016 zu befreien.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung des SG für zutreffend.
Mit Bescheid vom 4. November 2016 hat die Beklagte die Belastungsgrenze der Klägerin für das Jahr 2017 auf € 49,08 festgesetzt.
Hiergegen hat die Klägerin fristgemäß Widerspruch eingelegt, über den bislang nicht entschieden worden ist. Mit Bescheid vom
18. Oktober 2017 hat die Beklagte die Belastungsgrenze für 2018 festgesetzt. Auch hiergegen hat die Klägerin Widerspruch eingelegt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akte des Senats sowie die
beigezogenen Akten des SG und der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Die Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten nach §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist unzulässig und daher gemäß §
158 Satz 1
SGG zu verwerfen.
Nach §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG in der hier anwendbaren, ab 1. April 2008 geltenden Fassung, bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts,
wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt
betrifft, € 750,00 nicht übersteigt. Diese Regelung findet nur dann keine Anwendung, wenn die Berufung wiederkehrende oder
laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§
144 Abs.
1 Satz 2
SGG).
Nach den für die Bestimmung des Beschwerdewertes maßgeblichen Ausführungen in der Berufungsschrift verlangt die Klägerin,
von den Zuzahlungen nach §§
61,
62 SGB V (in voller Höhe) befreit zu werden. Eine solche Klage betrifft einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt im
Sinne von §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG (vgl. BSG, Urteil vom 19.11.1996 - 1 RK 18/95, [...], Rn. 18). In dem einzig angefochtenen Bescheid vom 4. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.
Januar 2016 hat die Beklagte die Belastungsgrenze der Klägerin für das Jahr 2016 auf € 48,48 festgesetzt. Damit hat die Klägerin
im Jahr 2016 Zuzahlungen in Höhe von maximal € 48,48 zu leisten. Mit diesem Betrag ist der für eine statthafte Berufung erforderliche
Beschwerdewert von € 750,00 (§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG) nicht überschritten.
Die Berufung war auch nicht nach §
144 Abs.
1 Satz 2
SGG zulassungsfrei. Der Streit betrifft nicht wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr. Ob dabei auf die
den Zuzahlungen zugrunde liegenden Leistungen der Beklagten oder auf die Zuzahlungen selbst abzustellen ist, kann offen bleiben.
Denn jedenfalls steht vorliegend nicht mehr als ein Jahr im Streit. Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Beklagte ausschließlich
über die Zuzahlungspflicht für das Jahr 2016 entschieden. Dies entspricht §
62 Abs.
1 Satz 1
SGB V, der für die Zuzahlungen bis zur Belastungsgrenze jeweils auf das Kalenderjahr abstellt, so dass jeweils nur für ein Kalenderjahr
zu entscheiden ist. Die Bescheide vom 4. November 2016 und 18. Oktober 2017 über die Zuzahlungspflicht in den Jahren 2017
und 2018 sind deshalb nicht Gegenstand des Verfahrens geworden, weil die Voraussetzungen des §
96 Abs.
1 SGG (in Verbindung mit §
153 Abs.
1 SGG) nicht gegeben sind. Die neuen Bescheide ersetzen weder den Bescheid vom 4. November 2015 noch ändern sie diesen ab.
Die Berufung wäre auch nicht ohne Zulassung durch das SG statthaft, wenn die Klägerin die Befreiung von den Zuzahlungen auf Dauer begehrte (vgl. BSG, Urteil vom 18. Juli 1989 - 10 RKg 27/88 - [...], Rn. 19 f). Insoweit verfolgte die Klägerin einen gesetzlich nicht vorgesehenen Anspruch, weil nach §
62 Abs.
1 Satz 1
SGB V nur für das jeweilige Kalenderjahr zu entscheiden ist. Für die Geltendmachung eines zeitlich unbegrenzten Anspruchs fehlte
das Rechtsschutzbedürfnis.
Das SG hat die Berufung auch nicht zugelassen. Eine solche Zulassung ist weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen des Urteils
vom 2. Juni 2017 erfolgt. Die beigefügte (und unzutreffende) Rechtsmittelbelehrung, nach der das Urteil mit der Berufung angefochten
werden könnte, stellt keine Berufungszulassung dar (vgl. BSG, Beschluss vom 6. Oktober 2011 - B 9 SB 45/11 B - [...], Rn. 12).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs.
1 Satz 1, Abs.
4 SGG.
3. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. §
160 Abs.
2 SGG) nicht vorliegen.