Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung in der gesetzlichen Rentenversicherung
Anforderungen an die Bewertung von Einschränkungen des Leistungsvermögens nach Hirninfarkten bei Zweifeln am Vorliegen einer
psychiatrischen Erkrankung
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1965 geborene Klägerin war zuletzt bis Dezember 2013 als Reinigungskraft in einer Bäckerei tätig. Am 29. Dezember 2013
erlitt sie einen linkshirnigen Mediainfarkt (Schlaganfall). Das Versorgungsamt hat einen Grad der Behinderung (GdB) von 70
wegen einer Restlähmung der Gliedmaßen rechts, einer psychischen Störung (Depressive Störung, Persönlichkeitsstörung) sowie
einer Hirnschädigung mit Sprachstörung zuerkannt (Bescheid vom 15. September 2020). Die Pflegekasse gewährte ihr ab 1. Dezember
2015 Leistungen unter Berücksichtigung der Pflegestufe II und eines erhöhten Bedarfs an Betreuung und allgemeiner Beaufsichtigung
(Bescheid vom 20. Januar 2016). Nach Angaben der Tochter gegenüber dem gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. N. erhält
sie mittlerweile Leistungen nach dem Pflegegrad 5.
Im März 2014 beantragte die Klägerin bei der Beklagten zunächst eine Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation. Nach Einholung
aktueller Befundberichte der behandelnden Ärzte beauftragte die Beklagte den Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin
Dr. J. mit der Erstellung eines Gutachtens. Dieser diagnostizierte nach Untersuchung der Klägerin unter dem 26. Mai 2014 einen
Schlaganfall im Dezember 2013 ohne Folgeschäden, rezidivierende Kreuzschmerzen, einen operierten lumbalen Bandscheibenvorfall
2011 ohne Funktionseinschränkungen und einen medikamentös behandelten Bluthochdruck. Die bildgebende Diagnostik habe weitere
ältere Schlaganfallereignisse gezeigt, die vermutlich stumm abgelaufen seien. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe eine
sechs- und mehrstündige Leistungsfähigkeit. Gründe für eine medizinische Rehabilitation seien daher nicht gegeben.
Am 11. September 2014 stellte die Klägerin einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, den sie mit vierfachem
Schlaganfall, Depressionen, Krampfanfällen im Oberschenkel, Sprachstörungen, geistiger Unaufmerksamkeit, Kopfschmerzen, hohem
Blutdruck und Schwindelgefühlen begründete.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13. November 2014 ab, da die Klägerin noch in der Lage sei, leichte bis mittelschwere
Arbeiten ohne Wirbelsäulenzwangshaltungen für mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen
Arbeitsmarktes auszuüben.
Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass zusätzlich eine rezidivierende, somatisierte schwergradige
depressive Störung, derzeit mit einer schweren depressiven Episode, und eine Angststörung bestehe. Sie reichte hierzu weitere
medizinische Unterlagen ein.
Die Beklagte beauftragte daraufhin die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. mit der Erstellung eines Gutachtens.
Diese führte in ihrem Gutachten vom 29. März 2016 nach Untersuchung der Klägerin aus, dass eine reguläre Begutachtung aufgrund
des skurril wirkenden Ausdrucks- und Antwortverhaltens der Klägerin nicht möglich sei. Nahezu sämtliche Fragen aus unterschiedlichen
Bereichen (Geburtsort, Zahl/Alter der Kinder, Heirat, berufliche Anamnese etc.) hätten scheinbar nicht beantwortet werden
können. Das Antwortverhalten erscheine wenig glaubhaft und nicht nachvollziehbar. Es habe ein deutlich histrionisches Gesamtverhalten
bestanden, bei jeder Frage seien die Augen weit aufgerissen, der Kopf verdreht oder in den Nacken gelegt, der Mund weit geöffnet
worden. Es habe eine erhebliche zielführend und bewusstseinsnah erscheinende Beschwerdedarstellung im Rahmen eines Versorgungs-
und Entpflichtungswunsches vorgelegen. Man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die laienhafte Auffassung einer schweren
psychischen Erkrankung habe dargestellt werden sollen. Auf nervenärztlichem Gebiet könne man sich daher nicht von einem eingeschränkten
Leistungsvermögen überzeugen.
Sodann beauftragte die Beklagte erneut Dr. J. mit der Erstellung eines Gutachtens. Dieser gelangte nach nochmaliger Untersuchung
der Klägerin unter dem 28. April 2016 zu folgenden Diagnosen: Bizarre Verhaltensauffälligkeiten bei anzunehmender zielgerichteter
Intention zur Erlangung von Sozialleistungen; Schlaganfall im Dezember 2013 ohne sichere Folgeerscheinungen; medikamentös
behandelter Bluthochdruck. Eine Gesundheitsstörung, die einer mindestens sechsstündigen beruflichen Tätigkeit im Wege stehen
würde, habe nicht festgestellt werden können.
Die Beklagte wies den Widerspruch daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2016 zurück.
Mit ihrer am 28. Juni 2016 erhobenen Klage hat die Klägerin an ihrem Begehren festgehalten und vorgetragen, ihre gesundheitliche
Situation habe sich weiter verschlechtert. Insbesondere bestehe eine schwere depressive Episode, die mit körperlichen Beschwerden
einhergehe. Hinzu komme eine generalisierte Angststörung.
Das Sozialgericht hat aktuelle Befundberichte angefordert und weitere medizinische Unterlagen beigezogen. Es hat sodann den
Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Nervenheilkunde Dr. E. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat
nach Untersuchung der Klägerin unter Hinzuziehung einer Dolmetscherin in seinem Gutachten vom 8. Februar 2018 mitgeteilt,
dass die Klägerin psychomotorisch äußerst unruhig und antriebsgesteigert gewesen sei. Sie habe leicht auffassungserschwert
und in ihrer Konzentration und Merkfähigkeit gemindert gewirkt. Lebens- und Krankheitsdaten hätten häufig nur ungenau erinnert
und zeitlich nicht exakt eingeordnet werden können. Fragen seien überaus wortreich und langatmig beantwortet worden. Mit Unterstützung
der Dolmetscherin habe es aber bei der Exploration und den Untersuchungen keine Probleme gegeben. Die Klägerin habe überaus
ängstlich und gespannt, dabei stimmungsmäßig gedrückt gewirkt. Auffällig seien neben einer Somatisierungstendenz ausgeprägte
dissoziative Symptome, die zu Bewusstseinsverlust, Sensibilitäts- und Empfindungs-, aber auch zu Bewegungsstörungen geführt
hätten. Der Sachverständige hat weiter darauf hingewiesen, dass die Untersuchungssituation streckenweise recht bizarr gewesen
sei. Die Klägerin habe gestöhnt, gejammert, geächzt, geweint und geschrien. Sie habe immer wieder ihre rechte Hand auf den
Oberschenkel der neben ihr sitzenden Dolmetscherin gelegt. Sie habe ferner immer wieder ihre Bluse nach oben angehoben, sodass
ihr nackter Bauch zu sehen gewesen sei, oder den oberen Rand ihrer Bluse nach unten gezogen. Dazu habe sie berichtet, dass
in diesen Bereichen Schmerzen seien. Psychopathologisch sei bei der Klägerin von einer schweren dissoziativen Störung mit
depressiver Symptomatik und Somatisierungsneigung auf dem Boden einer organischen Hirnschädigung nach Mediainfarkt links im
Dezember 2013 sowie mehreren kleinen Hirninfarkten auszugehen. Des Weiteren liege ein schmerzhaftes Lendenwirbelsäulensyndrom
nach operativ versorgtem Bandscheibenvorfall L4/5 vor, fachfremd sei von einer arteriellen Hypertonie, einer Adipositas per
magna und einer Hyperlipidämie auszugehen. Die Klägerin könne aufgrund ihres psychischen Zustandes keine irgendwie geartete
Tätigkeit auch nur stundenweise ausüben. Aufgrund ihrer schweren dissoziativen Störung sei sie trotz zumutbarer Willensanspannung
unfähig, Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung zu überwinden. Die festgestellten Einschränkungen bestünden seit Dezember
2013, also seit dem linksseitigen Mediainfarkt. Es gebe keine begründete Aussicht, dass die Einschränkungen wieder behoben
würden.
Die Beklagte hat gegen das Gutachten eingewandt, dass der Sachverständige die Verhaltensweisen der Klägerin nicht kritisch
hinterfragt habe. Wie aus der Akte hervorgehe, seien diese Verhaltensweisen zielgerichtet eingesetzt, bewusstseinsnah und
deutlich situationsbezogen. Insbesondere habe die Klägerin ähnliche Verhaltensweisen bei einem klinischen Aufenthalt im Marienkrankenhaus
im Jahr 2016 nicht gezeigt. Ebenso habe der Sachverständige nicht berücksichtigt, dass das Erinnerungsvermögen der Klägerin
sich offenbar deutlich gebessert habe, denn sie habe bei seiner Untersuchung plötzlich dezidierte, genaue Angaben gemacht.
Die Verhaltensweisen der Klägerin beruhten auf dem Wunsch der Versorgung und Entpflichtung und seien einem psychiatrischen
Erkrankungsbild nicht zuzuordnen.
Dr. E. hat in einer ergänzenden Stellungnahme vom 16. April 2018 ausgeführt, die von den Gutachtern der Beklagten geschilderten
Verhaltensweisen deckten sich weitgehend mit den von ihm beschriebenen und seien in dem erhobenen psychischen Befund berücksichtigt
worden. Dass die Klägerin diese Verhaltensweisen in einem klinischen Aufenthalt im Marienkrankenhaus 2016 nicht gezeigt habe,
ergebe sich aus dem Entlassungsbericht nicht, denn dieser enthalte lediglich einen neurologischen und einen internistischen,
jedoch keinen psychiatrischen Befund. Er könne auch nicht bestätigen, dass die Klägerin bei ihm plötzlich dezidierte Angaben
habe machen können. Vielmehr habe er dargelegt, dass sie leicht auffassungserschwert gewirkt habe und ihre Konzentration und
Merkfähigkeit gemindert sei, Lebens- und Krankheitsdaten hätten häufig nur ungenau erinnert und zeitlich nicht exakt eingeordnet
werden können. Allerdings lasse es sich nicht ausschließen, dass es ihr im Laufe der Exploration, möglicherweise auch durch
die anwesende Dolmetscherin, gelungen sei, zunehmend Vertrauen zu fassen. Der Einwand, dass die erhobenen psychopathologischen
Befunde keiner psychiatrischen Erkrankung zuzuordnen seien, sei nicht nachvollziehbar, es sei denn, man messe einer schweren
dissoziativen Störung mit depressiver Symptomatik und Somatisierungsstörung auf dem Boden einer organischen Hirnschädigung
keinen Krankheitswert zu.
Das Sozialgericht hat daraufhin die Beklagte mit Urteil vom 1. Oktober 2018 verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung ab dem 1. September 2014 zu gewähren. Es ist in den Entscheidungsgründen dem Gutachten von Dr. E. gefolgt
und hat die hiergegen von der Beklagten vorgetragene Kritik zurückgewiesen. Es hat weiter darauf hingewiesen, dass die von
dem Sachverständigen dargestellten Einschränkungen sich auch mit dem Eindruck deckten, den die Kammer in der mündlichen Verhandlung
von der Klägerin gewonnen habe.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 7. November 2018 zugestellte Urteil am 27. November 2018 Berufung eingelegt. Sie trägt unter
Bezugnahme auf eine Stellungnahme ihres Sozialmedizinischen Dienstes vor, es bestünden nach wie vor überwiegende Zweifel an
dem Vorliegen überhaupt einer psychiatrischen Erkrankung. Die gezeigten bizarren Verhaltensweisen seien keiner psychiatrischen
Erkrankung zuzuordnen. Sie seien ebenso wie die „Gedächtnislücken“ der nahezu klassische Versuch von Laien, eine psychiatrische
Erkrankung zu demonstrieren. Dies sei von Dr. E. in keinster Weise kritisch gewürdigt worden. In den vorliegenden Befund-
und Entlassungsberichten werde ein derartig auffälliges Verhalten mit keinem Wort erwähnt. Insbesondere fielen auch die Diagnosen
des ambulant behandelnden Psychiaters Dr. E1 (Zustand nach Hirninfarkt, Nervenläsion am Rücken, mittelgradige depressive Episode
neben einer Dysthymia) deutlich milder aus. Von einer schweren dissoziativen Störung oder einer Somatisierungsstörung sei
dort nichts zu lesen. Zusammenfassend sei festzuhaltend, dass die Versicherte ihr Verhalten genau in den Situationen zeige,
in denen es konkret um die Beurteilung ihrer Leistungsfähigkeit gehe. Darauf hinzuweisen sei auch, dass die Klägerin 2017
bei Dr. S. über fast 8 Minuten und bis zur 100 W-Stufe in der Lage gewesen sei, eine Ergometrie durchzuführen. Dies erfordere
eine hohe Bereitschaft und Kooperation, die mit der von ihr dargebotenen Symptomatik und der angeblich maximalen Pflegebedürftigkeit
nicht in Einklang zu bringen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 1. Oktober 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf das Gutachten von Dr. E. und trägt vor, die Beklagte blende offenbar die bei ihr bestehende Hirnschädigung
komplett aus. Sie habe seit 2013 mindestens zwei Schlaganfälle erlitten, bei denen es zu durch CT-Aufnahmen nachgewiesenen
Hirnschäden gekommen sei. Aus den zahlreichen Krankenhausberichten ergebe sich, dass die Klägerin nicht nur aufgrund subjektiver
Beschwerden notärztlich behandelt worden sei, sondern dass jeweils auch neurologische Ausfallerscheinungen festgestellt worden
seien. Es treffe auch nicht zu, dass die Klägerin bei ihren behandelnden Ärzten keine auffälligen Verhaltensweisen gezeigt
habe. Schließlich sei auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht sichtbar geworden, dass das Auftreten der Klägerin
von starken und sich schnell abwechselnden Schwankungen der geistigen Leistungsfähigkeit geprägt sei. So habe über kurze Phasen
der Eindruck bestanden, dass sie der Verhandlung folgen und adäquat habe reagieren können. Dann wieder habe sie irritiert
und desorientiert gewirkt und sei nicht in der Lage gewesen, das Geschehene einzuordnen und angemessen zu reagieren.
Das Berufungsgericht hat weitere Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Sodann ist der Arzt für Neurologie und Psychiatrie
Dr. B. mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt worden. Er hat in seinem Gutachten vom 14. November 2019 nach zweimaliger
Untersuchung der Klägerin dargelegt, dass diese „2014“ (richtig: Ende 2013) einen linksseitigen Schlaganfall erlitten habe,
wobei die neurologische Symptomatik bereits während des stationären Aufenthalts rückläufig gewesen sei. Die folgenden Jahre
seien geprägt durch wiederholte stationäre Notaufnahmen aus der subjektiven Sorge eines Reinfarktes heraus, wobei die umfassende
Diagnostik ein solches Geschehen bisher nicht habe bestätigen können. Der behandelnde Nervenarzt Dr. E1 habe seither von einer
schwerwiegenden Einschränkung der exekutiven Hirnfunktionen berichtet. In der Untersuchungssituation habe sich die Kontaktaufnahme
sehr schwierig gestaltet. Die Klägerin sei kaum in der Lage gewesen, sich in deutscher Sprache zu äußern. Nach Angaben der
anwesenden Dolmetscherin habe sie aber auch in ihrer Muttersprache vollkommen durcheinander gewirkt. Sie habe immer wieder
abseitige Stichworte aufgegriffen und diese detailreich, aber völlig losgelöst von der Thematik, ausgestaltet, wobei sich
auch für die Dolmetscherin der jeweilige Sinnzusammenhang kaum erschlossen habe. Sie habe immer wieder ihre Stimme erhoben
und versucht, durch Lautstärke ihren skurrilen Argumenten Nachdruck zu verleihen. Es sei kaum möglich gewesen, sie zur Ruhe
zu bewegen. Erst nach mehreren Stunden gemeinsamen kräftezehrenden Mühens habe der Gutachter ihr klargemacht, dass er die
Untersuchung abbrechen würde, wenn sie sich nicht augenblicklich ruhig und gesittet benehme. Dies habe Erfolg gezeigt. Die
Klägerin habe zwar auch weiterhin ein sonderbares Verhalten gezeigt, indem sie, scheinbar in sich gekehrt, ziellos den Blick
durch das Zimmer habe schweifen lassen, aber sie sei ab sofort ruhig gewesen. Sie habe immer wieder über Rückenschmerzen geklagt
und sich zeitweilig erhoben und einige Schritte durch den Raum gemacht, um sich schließlich demonstrativ auf den Fußboden
zu setzen mit der Bemerkung, so sei es am Entspanntesten. Ebenso plötzlich habe sie wieder den Stuhl aufgesucht. Bei der Befragung
sei es letztendlich nicht möglich gewesen, aus ihren konfusen und widersprüchlichen Informations-Versatzstücken ein klares
Bild über ihre persönlichen Lebensumstände oder ihre Krankheitsvorgeschichte zu erlangen. Sie habe die Namen ihrer Ärzte (außer
Dr. E1) und auch die Namen der eingenommenen Medikamente nicht benennen können. Sie sei nicht in der Lage gewesen, sich auch
nur im Ansatz eindeutig zu ihren Beschwerden zu äußern. Im Wesentlichen habe sie weit ausholend und redundant wiederholt,
dass sie ständig müde sei und viel schlafen müsse. Es sei nicht gelungen, auch nur einen einigermaßen verstehbaren Eindruck
von ihren Beschwerden und ihrer Tagesstruktur zu erlangen. Angesichts dessen verwundere es, wie Dr. E. einen vergleichsweise
differenzierten Zugang zu ihr gefunden habe, wie sich aus seinen Ausführungen ergebe, die allerdings nicht konsistent und
frei von Widersprüchen erschienen. So sei es bemerkenswert, dass Dr. E. eine detaillierte Anamnese niedergelegt habe, die
aktuell nicht von der Klägerin zu erlangen sei. Damit kontrastiere aber der von Dr. E. dargelegte psychopathologische Befund,
denn er habe sie als leicht auffassungserschwert und in ihrer Konzentration und Merkfähigkeit gemindert beschrieben und dargelegt,
dass Lebens- und Krankheitsdaten häufig nur ungenau erinnert und zeitlich nicht exakt hätten eingeordnet werden können. Er
selbst könne sich daher der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung von Dr. E. nicht anschließen. Es sei ihm aber aus eigener
fachärztlicher Erkenntnis nicht möglich, zu einer abschließenden Klärung des Sachverhalts zu gelangen. Er halte es zwar nicht
für gerechtfertigt, der Klägerin grobe Simulation zu unterstellen. Ebenso wenig gelinge es aber, die expressive Symptomatik
einer fundierten Diagnosekategorie zuzuordnen. Das Verhalten der Klägerin hinterlasse allgemeine Ratlosigkeit, es sei ihm
daher nicht möglich, das Beweisthema zu beantworten.
Das Berufungsgericht hat sodann den Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Sozialmedizin Dr. N. mit der Erstellung
eines weiteren Gutachtens beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 12. Juli 2021 nach Untersuchung der Klägerin unter
Hinzuziehung einer Dolmetscherin zu folgenden Diagnosen gelangt: Hemiparese rechts und leichtes organisches Psychosyndrom
nach multiplen zerebralen Infarkten sowie dokumentiertem Mediainfarkt links 12/2013; Dissoziative Störung mit aktenkundig
dissoziativen Bewusstseinsstörungen sowie dissoziativen Bewegungs- und Sensibilitätsstörungen; Depressive Episode, mittelgradig;
Arterieller Bluthochdruck; Dyslipoproteinämie; Wirbelsäulenfehlhaltung, rezidivierende pseudoradikuläre Lumboischialgien nach
operiertem lumbalem Bandscheibenvorfall. Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, die Angaben der Klägerin seien trotz intensiver
Bemühungen des Gutachters wiederholt inkonsistent, in sich widersprüchlich und vielfach sehr unpräzise geblieben. Sie sei
in psychischer Hinsicht wach, zeitlich unscharf, zum Ort unscharf, zur eigenen Person aber hinlänglich orientiert gewesen.
Die Hintergründe der Begutachtung hätten ihr mehrfach erläutert werden müssen, immer wieder sei sie situativ nicht scharf
orientiert gewesen. Sie habe sich in der Untersuchungssituation auffällig verhalten. Ein Kontakt sei zwar herstellbar gewesen,
die gestellten Fragen seien aber oft paralogisch, daneben redend beantwortet worden. Trotz insistierenden Nachfragens seien
ihre Angaben oft widersprüchlich und vage geblieben. Konfrontiert mit den Widersprüchen sei es ihr nicht gelungen, diese aufzulösen.
Sie habe larmoyant ihre Beschwerden geschildert, aber durchaus authentisch verzweifelt gewirkt. Ihr Konzentrationsvermögen
sei offenkundig reduziert, es sei ihr im Verlauf zunehmend schwerer gefallen, sich auf das Gegenüber und die Untersuchungssituation
einzustellen. Das Umstellvermögen sei viskös, sie habe psychomotorisch verlangsamt gewirkt, ihre Auffassungsgabe sei deutlich
beeinträchtigt gewesen. Die Grundstimmung sei depressiv gefärbt und die Fähigkeit, Freude zu empfinden, klar reduziert gewesen.
Es bestehe ein Interessenverlust einhergehend mit Gleichgültigkeit und pessimistisch-negativistischer Zukunftssicht. Von sozialen
Kontakten außerhalb der Familie habe sie sich offenbar zurückgezogen, die Antriebslage sei reduziert. Formalgedanklich habe
sie sprunghaft, manchmal beinahe ideenflüchtig gewirkt. Es sei ihr nicht gelungen, Wesentliches von Unwesentlichem zu differenzieren.
Im inhaltlichen Denken hätten sich keine produktiv-psychotischen Denkstörungen gezeigt, Anhaltspunkte für halluzinatorische
Fehlwahrnehmungen bestünden nicht. Die Klägerin habe mit kräftiger, zum Teil sehr lauter, gut modulierter und verständlich
artikulierter Stimme gesprochen. Die Sprachfrequenz habe in der Untersuchungssituation immer wieder gewechselt, teilweise
habe eine hohe Sprachfrequenz verknüpft mit großem Mitteilungsbedürfnis bestanden, teilweise eine eher bedächtige, langsame
Sprachfrequenz, auch mit dem Eindruck leichter Wortfindungsstörungen verknüpft. Auf der Persönlichkeitsebene habe die Klägerin
histrionisch geprägt gewirkt, unverkennbar sei ihre Neigung, Beschwerden zu verdeutlichen, wobei sich die Ausgestaltung der
dissoziativ-histrionischen Symptomatik einer Willenssteuerung entziehe. Zweifelsfrei habe sie vor dem Hintergrund multipler
zerebrovaskulärer (die Blutgefäße des Gehirns betreffender) Risikofaktoren im Dezember 2013 einen zerebralen Insult erlitten.
Anlässlich der eingehenden Diagnostik habe sich gezeigt, dass bei ihr nicht nur ein klinisch führender linkshirniger Mediainfarkt
mit konsekutiver Hemisymptomatik (neurologische Defizite nur auf einer Körperhälfte) vorgelegen habe, sondern auch weitere
kleine Ischämiezonen infratentoriell (nicht oder nur vermindert durchblutete Gewebezonen im Kleinhirn) bestanden hätten. In
der Folgezeit sei es zu mindestens einem weiteren zerebralen Ischämieereignis gekommen, klassifiziert als transitorisch ischämische
Attacke (TIA = flüchtige Minderdurchblutung im Gehirn). Des Weiteren sei es zu Bewusstseinsverlusten ungeklärter Ursache gekommen.
Die Klägerin habe darüber hinaus zum Teil seitenwechselnde Bewegungs- und Sensibilitätsstörungen aufgewiesen. Heute zeige
sich bei ihr klar eine linkshirnige Symptomatik, die am ehesten als Folge der 2013 erlittenen Ischämie im Versorgungsgebiet
der Arteria cerebri media (eines der drei arteriellen Hauptgefäße des Gehirns) zu interpretieren sei. Es bestehe eine leichte
spastisch-dystaktische Halbseitensymptomatik rechts mit gegenüber links gesteigertem Muskeleigenreflexniveau, leicht erhöhtem
spastischen Muskeltonus rechts sowie einer rechts und armbetonten spastisch-dystaktischen Bewegungsstörung und Einschränkung
der Greiffunktion der rechten Hand. Darüber hinaus bestehe eine durchaus relevante depressive Symptomatik vor dem Hintergrund
einer belasteten Psychobiografie. Die Angaben der Klägerin zu ihrer gesundheitlichen und biografischen Vorgeschichte seien
gleichwohl auch heute lückenhaft und teilweise widersprüchlich. Nach fremdanamnestischen Angaben der Tochter sei aber deutlich
geworden, dass die Klägerin einen Teil der zunächst widersprüchlichen oder falsch anmutenden Angaben mache, weil sie infolge
kognitiver Einschränkungen nach zerebralen Durchblutungsstörungen nicht in der Lage sei, sich konkreter zu äußern und gleichzeitig
durch die Exploration in eine Situation gedrängt werde, in der sie sich gezwungen sehe, Auskünfte zu geben. Dr. B. habe diese
Diskrepanzen als Ausdruck einer bewusstseinsnahen Ausgestaltung interpretiert, sich andererseits aber nicht zu der Auffassung
durchringen mögen, es bestünde Simulation. Nach den erhobenen Befunden spreche jedoch vieles dafür, dass die Klägerin schlaganfallbedingt
psychoorganisch und vor dem Hintergrund einer depressiven Symptomatik in ihrer Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit derart
stark beeinträchtigt sei, dass es ihr nicht anders gelinge, ihre Hilfsbedürftigkeit zum Ausdruck zu bringen. Dieser Sachverhalt
habe zu der Entwicklung der auch von Dr. E. diagnostizierten dissoziativen Störung geführt. Dieser habe bei der Klägerin ein
bizarres, jammerndes, ächzendes, weinendes und schreiendes Verhalten gesehen, welches er als Ausdruck der Somatisierungsstörung
und einer organischen Hirnschädigung interpretiert habe. Dieser Einschätzung sei zu folgen. Das psychoorganische Syndrom der
Klägerin führe zu kognitiven Einschränkungen, die nicht bewusstseinsnah ausgestaltet seien oder gar in Simulationsabsicht
vorgetragen würden. Damit einhergehende Einschränkungen der Kommunikations- und Interaktionskompetenz der Klägerin hätten
zur Entwicklung einer dissoziativen Störung geführt, weil die Klägerin anders nicht in der Lage sei, innerseelische Konflikte
zum Ausdruck zu bringen. Die Entwicklung der dissoziativen Störung sei mithin die Folge einer innerseelisch nicht anders zu
verarbeitenden Konfliktauflösung und entziehe sich damit der Willenssteuerung. Die Klägerin sei nicht mehr zu einer regelmäßigen
Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Lage. Selbst leichte körperliche Arbeiten könnten nicht mehr verrichtet werden,
auch nicht unterhalbschichtig. Die Wegefähigkeit sei eingeschränkt, die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, viermal täglich
Wegstrecken von mehr als 500 m zu Fuß ohne erhebliche Schmerzen oder übermäßige körperliche Anstrengung zurückzulegen. Die
psychischen Gesundheitsstörungen erreichten zweifelsohne Krankheitswert und seien so ausgeprägt, dass sie nicht in der Lage
sei, Willenskräfte zu mobilisieren, um damit etwaige Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung zu überwinden. Die genannten
Einschränkungen bestünden seit Antragstellung. Änderungen im Leistungsvermögen seien seither nicht eingetreten. Begründete
Aussicht auf eine Besserung bestünden nicht.
Die Beklagte hat hierzu nach Auswertung durch ihren Ärztlichen Dienst mitgeteilt, dass das Gutachten keine neuen medizinischen
Aspekte enthalte. Die Klägerin habe ihre altbekannten Verhaltensweisen demonstriert, die nach Auffassung der Beklagten unverändert
einer grob demonstrativen Ausgestaltung zuzuordnen seien. Der Schlaganfall sei ohne wesentliche Folgeschäden geblieben, wie
Dr. J. in seinem Gutachten von 2014 dargelegt habe. Dies ergebe sich auch aus den Krankenhausberichten aus den Jahren 2014
und 2015, sodass eine Verurteilung zur Rentengewährung ab September 2014 schon deshalb nicht haltbar sei. Die Beklagte verwies
zudem auf die zahlreichen Stellungnahmen von Dr. F.. Auch Dr. B. habe erhebliche Zweifel geäußert, die durch das Gutachten
von Dr. N. nicht aufgelöst, sondern eher erhärtet würden. Es sei nicht glaubhaft, dass die Klägerin im 4. Stock ohne Fahrstuhl
wohne und rund um die Uhr von allen ihren Kindern in diesem Maße betreut werde. Allein schon zur Entlastung der Kinder seien
sicher zumindest vorübergehend Aufnahmen in einer Klinik oder im Pflegeheim notwendig. Die bizarren Verhaltensweisen seien
unverändert einem psychiatrischen Krankheitsbild nicht zuzuordnen. Die Beklagte gehe daher weiterhin von einem über sechsstündigen
Leistungsvermögen aus.
Die Klägerin hat sich dem Gutachten von Dr. N. angeschlossen. Gegen die Einwände der Beklagten macht sie außerdem geltend,
dass diese sich offenbar nicht vorstellen könne, welche enorme pflegerische Leistung die Familie seit Jahren erbringe. Insoweit
berücksichtige die Beklagte vermutlich nicht ausreichend, dass es im türkischen Kulturkreis eine moralische Verpflichtung
der Kinder sei, die Eltern zu pflegen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakten der Beklagten
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§
143,
151 Sozialgerichtsgesetz –
SGG) ist nicht begründet, denn das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung
ab dem 1. September 2014 zu gewähren. Die ablehnenden Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin
in ihren Rechten.
Versicherte haben gemäß §
43 Abs.
1 S. 1 und Abs.
2 S. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (
SGB VI) bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie voll
bzw. teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge
für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt
haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind,
unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§
43 Abs.
2 S. 2
SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande
sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein
(§
43 Abs.
1 S. 2
SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden
täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§
43 Abs.
3 SGB VI). Darüber hinaus sind Versicherte auch dann voll erwerbsgemindert, wenn ihr Leistungsvermögen auf unter sechs Stunden täglich
abgesunken ist, der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist und sie keinen leidensgerechten Arbeitsplatz innehaben (BSG, Großer Senat, Urteil vom 10.12.1976 – GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 – Juris).
Bei der Klägerin bestehen Einschränkungen ihres Leistungsvermögens vor allem auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet. Sie
hat unstreitig im Dezember 2013 einen Schlaganfall erlitten. Darüber hinaus hat die durchgeführte Diagnostik ergeben, dass
sich weitere kleinere Hirninfarkte sowie zumindest eine TIA ereignet haben. In der Folge zeigt die Klägerin eine Vielzahl
von körperlichen Einschränkungen (insbesondere Bewegungs- und Sensibilitätsstörungen) sowie insbesondere massive psychische
Auffälligkeiten, wie sie von sämtlichen Sachverständigen ausführlich und eindrücklich geschildert worden sind. Allein streitig
ist zwischen den Beteiligten, ob es sich hierbei um tatsächliche Krankheitssymptome oder um eine willentlich gesteuerte Aggravation
oder sogar Simulation zum Zwecke der Erlangung einer Rente handelt.
Der erkennende Senat ist auf der Grundlage der vorliegenden Sachverständigengutachten und der übrigen beigezogenen medizinischen
Unterlagen zu der Überzeugung gelangt, dass das Leistungsvermögen der Klägerin aufgrund der Folgen der erlittenen Hirninfarkte
und Minderdurchblutungen des Gehirns objektiv aufgehoben ist. Dies folgt insbesondere aus den Gutachten von Dr. E. und Dr.
N., denen sich der Senat nach eigener Prüfung anschließt.
Beide Sachverständigen haben übereinstimmend festgestellt, dass die Klägerin unter einer schweren dissoziativen Störung mit
depressiver Symptomatik und Somatisierungsneigung leidet, welche als Folge einer organischen Hirnschädigung aufgrund des im
Dezember 2013 erlittenen Schlaganfalls sowie weiterer kleinerer Hirninfarkte eingetreten ist. Die Sachverständigen haben die
– auch schon von den Vorgutachtern beschriebenen – auffälligen und zum Teil ausgesprochen bizarren Verhaltensweisen der Klägerin
ausführlich und eindrucksvoll geschildert. So haben sämtliche Gutachter dargelegt, dass die Klägerin Fragen zu Lebensereignissen
und Beschwerden nicht oder jedenfalls nicht adäquat und nicht frei von Widersprüchen habe beantworten können. Dabei hat sie
sich wortreich und langatmig, aber oft losgelöst von der eigentlichen Thematik ausgedrückt. Daneben hat sie bei allen Sachverständigen
auffällige und höchst ungewöhnliche Verhaltensweisen gezeigt, etwa Augen und Mund aufgerissen und den Kopf verdreht (bei Dr.
F.), gestöhnt, gejammert, geächzt, geweint und geschrien (bei Dr. E.), sich plötzlich auf den Fußboden gesetzt (bei Dr. B.)
oder mit auffällig wechselnder Sprachfrequenz gesprochen (bei Dr. N.).
Insbesondere Dr. N. hat insoweit nachvollziehbar dargelegt, dass die eingetretenen zerebralen Durchblutungsstörungen – insbesondere
bei dem im Dezember 2013 erlittenen Schlaganfall – zu einer organischen Hirnschädigung geführt hätten, welche Ursache der
bestehenden Symptomatik sei. Diese habe auch dazu geführt, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, sich konkret zu äußern
und adäquat zu kommunizieren. Wenn sie sich aber, wie in einer Untersuchungssituation, gedrängt fühle, Fragen zu beantworten,
mache sie falsche oder widersprüchliche Angaben und zeige die geschilderten bizarren Verhaltensweisen, da sie anders nicht
in der Lage sei, ihr Leiden und ihre Hilfebedürftigkeit zum Ausdruck zu bringen. Dr. N. hat damit plausibel dargelegt, dass
es sich bei dem Verhalten der Klägerin nicht um eine willentlich gesteuerte Aggravation oder Simulation handelt, sondern um
objektiv bestehende Krankheitssymptome auf dem Boden einer eingetretenen Hirnschädigung.
Die Einwände der Beklagten greifen demgegenüber nicht durch. Auf der Befundebene gibt es zwischen sämtlichen im Verwaltungs-
und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten weitgehende Übereinstimmungen. Unstreitig hat die Klägerin im Dezember 2013 einen
Schlaganfall erlitten, der nach den plausiblen Ausführungen von Dr. N. die auffälligen Befunde zu erklären vermag. Soweit
es in den verschiedenen Behandlungs- und Untersuchungssituationen gewisse Abweichungen im Grad der Auffälligkeit des Verhaltens
der Klägerin gegeben haben mag, sind zum einen leichte Unterschiede in der Tagesform der Klägerin möglich. Zum anderen können
die jeweiligen Behandler oder Gutachter aufgrund ihrer Persönlichkeit und Herangehensweise unterschiedlichen Zugang zu ihr
bekommen haben, wodurch sie ihre Ängste und ihre Hilflosigkeit jeweils unterschiedlich empfunden und sich mal mehr und mal
weniger dazu gedrängt gefühlt haben kann, in ihre bizarren Verhaltensweisen auszuweichen. Insbesondere dürfte die Untersuchungssituation
bei einem Gutachter von der Klägerin wesentlich belastender empfunden werden, als der Kontakt zu einem behandelnden Arzt.
Nicht zutreffend ist demgegenüber das Vorbringen der Beklagten, dass die Klägerin Verhaltensauffälligkeiten ausschließlich
in Situationen gezeigt habe, in denen es um die Erlangung staatlicher Leistungen ging. Vielmehr lassen sich Hinweise auf eine
entsprechende Symptomatik auch den vorliegenden Befund- und Behandlungsunterlagen entnehmen. So hat der Hausarzt Dr. D. unter
dem 10. Juni 2016 bescheinigt, die Klägerin könne schlecht denken und kommunizieren. In seinem Befundbericht aus dem August
2016 hat er die Diagnose eines hirnorganischen Psychosyndroms nach Mediainfarkt gestellt und mitgeteilt, die Klägerin äußere
sich nicht und sei abwesend. Man könne mit ihr nicht kommunizieren, es seien keine Denkleistungen mehr möglich. Der behandelnde
Nervenarzt Dr. E1 hat in seinen Befundberichten vom 13. September 2016 und 15. März 2019 unter anderem auf eine verlangsamte
Kognition hingewiesen. Die Klägerin sei sehr vergesslich und könne nicht kommunizieren. Sie frage immer wieder, wer er sei,
obwohl sie seit 2014 regelmäßig zur Behandlung komme. Unter dem 13. September 2016 hat er eingetragen „ist heute wieder völlig
desorientiert“. Weiter heißt es, nach den Angaben ihrer Tochter sei sie sehr gereizt und aggressiv. Die Physiotherapeutin
Kiesewetter hat in ihrem Bericht vom 30. Juni 2017 mitgeteilt, die Klägerin sei sehr ängstlich, alles Neue, die Berührungen
in der Therapie würden sie schnell überfordern. Sie reagiere sehr schnell weinerlich, lasse sich dann aber auch wieder beruhigen.
Die Konsultationen dieser Ärzte stehen in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Rentenbegehren und es erscheint sehr unwahrscheinlich,
dass die Klägerin derartige psychische und kognitive Einschränkungen hierbei über einen mehrjährigen Zeitraum lediglich simuliert
haben soll. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die Klägerin auch Ergotherapie sowie physiotherapeutische und logopädische
Therapie in Anspruch genommen hat, was dafür spricht, dass sie tatsächlich eine Besserung des gesundheitlichen Zustandes anstrebt
und es ihr nicht nur um die Erlangung staatlicher Leistungen geht.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin nach den Angaben im Gutachten von Dr. N. mittlerweile Leistungen nach
dem Pflegegrad 5 erhält. Bereits im Pflegegutachten vom 14. Januar 2016 ist ihr Verhalten ebenfalls als auffällig beschrieben
worden. So heißt es dort, sie sei zurzeit (Klägerin dachte, es sei nachmittags), zum Ort (dachte, sie sei in der Türkei) und
zur Situation (Begutachtungsanlass wird nicht verstanden) wechselnd orientiert. Aufforderungen würden teilweise nach Demonstration
und nur zeitverzögernd verstanden und umgesetzt. Aus der Verkennung der realen Situation komme es zu tätlichem oder verbal
aggressivem Verhalten. Auch inadäquate Verhaltensweisen würden auftreten, z.B. starker Bewegungsdrang mit Bewegungsstereotypien
oder zusammenhanglosen Einzelhandlungen mit der Tendenz, diese häufig zu wiederholen. Sie rufe oder schreie ohne ersichtlichen
Grund, auch über längere Zeit. Entgegen der Auffassung der Beklagten spricht der Umstand, dass die Familie die Pflege der
Klägerin im Wesentlichen selbst organisiert und auf mögliche externe Hilfen verzichtet, vor dem Hintergrund dieser Feststellungen
nicht gegen das tatsächliche Vorliegen eines entsprechenden Hilfebedarfs.
Unzutreffend ist schließlich auch der Einwand der Beklagten, das Verhalten der Klägerin lasse sich einem psychischen Erkrankungsbild
nicht zuordnen. Vielmehr haben Dr. E. und Dr. N. insoweit eindeutig eine auf der Hirnschädigung beruhende schwere dissoziative
Störung (F44 ICD-10) sowie eine depressive Symptomatik (F32 ICD-10) diagnostiziert.
Dr. E. und Dr. N. haben übereinstimmend dargelegt, dass das Leistungsvermögen der Klägerin krankheitsbedingt vollständig aufgehoben
ist. Dies ist im Hinblick auf die geschilderten kognitiven Einschränkungen und Verhaltensauffälligkeiten nachvollziehbar und
bedarf letztlich keiner weiteren Begründung. Die beiden Sachverständigen haben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Klägerin
nicht in der Lage ist, ihr Verhalten zu steuern.
In Übereinstimmung mit den Ausführungen von Dr. E. und Dr. N. geht der erkennende Senat davon aus, dass das Leistungsvermögen
bereits ab Antragstellung aufgehoben ist. Die Gutachter haben insoweit nachvollziehbar und widerspruchsfrei dargelegt, dass
die kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen vor allem Folgen des im Dezember 2013 erlittenen Schlaganfalls sind. Für
einen abweichenden Zeitpunkt des Leistungsfalls ergeben sich demgegenüber keine Anhaltspunkte.
Unter Anwendung des §
99 Abs.
1 S. 1 und 2
SGB VI hat das Sozialgericht die Beklagte daher zu Recht zur Rentengewährung von dem Kalendermonat an verurteilt, in welchem sie
beantragt wurde, mithin also ab 1. September 2014. Eine Befristung der Rente hat nicht zu erfolgen, da eine begründete Aussicht
auf Besserung nicht besteht (§
102 Abs.
2 S. 5
SGB VI).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs.
1 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht erfüllt sind.