Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Verpflichtung des Beklagten oder der Beigeladenen zur Erbringung von Leistungen der Grundsicherung
für den Zeitraum von Juni 2015 bis November 2015 an die Klägerin.
Die am … 1956 geborene Klägerin ist b. Staatsangehörige und lebt seit dem 1. Dezember 2014 in Deutschland. Sie bewohnte zusammen
mit ihrem im Jahr 1992 geborenen Sohn M. eine 2-Zimmer-Wohnung. Die monatliche Miete betrug 434,24 Euro inklusive Heizung,
Wasser und weiteren Nebenkosten . Der Sohn der Klägerin nahm im April 2015 eine Arbeit als Packer mit einer vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden
auf. Der Arbeitsvertrag des Sohnes der Klägerin wurde im Juni 2015 gekündigt.
Am 30. Juni 2015 stellten die Klägerin und ihr Sohn einen Antrag auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beim Beklagten. Zum 1. Juli 2015 nahm der Sohn der Klägerin eine Erwerbstätigkeit bei der C. GmbH als Lagerarbeiter mit
einer vereinbarten Arbeitszeit von 60 Stunden im Monat auf.
Mit Bescheid vom 5. Oktober 2015 bewilligte der Beklagte dem Sohn der Klägerin Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Juni 2015 bis zum 30. November 2015 unter Anrechnung seines Erwerbseinkommens. Für die Klägerin wurde
mit selbigem Bescheid ein Leistungsbetrag von 0,- Euro festgestellt.
Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 21. Oktober 2015 Widerspruch gegen den Bescheid vom 5. Oktober 2015 und trug zur Begründung
vor, sie lebe mit ihrem Sohn in einer Bedarfsgemeinschaft. Ihr stünden daher ebenfalls Leistungen zu. Am 12. November 2015
stellte die Klägerin zudem einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Hamburg. Mit Beschluss
vom 11. Januar 2016 (S 49 AS 4319/15 ER) wurde die Beigeladene verpflichtet, vorläufig Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) im Zeitraum vom 12. November 2015 bis zum 29. Februar 2016 an die Klägerin zu erbringen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2016 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück, da die
Klägerin, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei.
Am 29. März 2016 hat die Klägerin daraufhin Klage beim Sozialgericht Hamburg erhoben. Sie sei als Familienangehörige eines
Unionsbürgers leistungsberechtigt. Sie habe notgedrungen teilweise Unterhalt von ihrem erwerbstätigen Sohn erhalten, etwa
für Unterkunft und Lebensmittel.
Der Beklagte hat auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid sowie die Gründe des sozialgerichtlichen Eilverfahrens (S 49 AS 4319/15 ER) verwiesen.
Mit Beschluss vom 22. Juni 2016 hat das Sozialgericht die Freie und Hansestadt beigeladen, weil sie als leistungspflichtig
in Betracht komme. Die Beigeladene hat geltend gemacht, dass die Hilfebedürftigkeit der Klägerin nicht hinreichend dargelegt
sei.
Zur mündlichen Verhandlung am 12. Juli 2019, die für 12:30 Uhr anberaumt war, jedoch erst um 14:15 Uhr begann und um 15 Uhr
endete, ist ein Vertreter der Beigeladenen nicht erschienen.
Das Sozialgericht hat die Beigeladene mit Urteil vom 12. Juli 2019 verpflichtet, der Klägerin im Zeitraum von Juni bis November
2015 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Klägerin von Leistungen nach
dem SGB II ausgeschlossen sei, da sich kein oder ein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe. Der Sohn habe die
Klägerin lediglich deshalb unterhalten, weil sie selbst keine Sozialleistungen bezogen habe. Eine unfreiwillige und nur vorübergehende
Unterstützung reiche nicht aus, um ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes
über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU) zu erlangen. Die Beigeladene habe mit Leistungen
einzusetzen, da sich die Klägerin im Juni 2015 bereits seit mehr als sechs Monaten in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten
habe. Im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts könne die Klägerin die Leistung von Sozialhilfe nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII idF beanspruchen, da sich das Ermessen der Beigeladenen auf Null reduziert habe. Leistungen seien in Höhe der Regelbedarfsstufe
1, der kopfteiligen Kosten der Unterkunft und Heizung sowie durch Übernahme von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung
zu gewähren.
Die Beigeladene hat gegen das Urteil des Sozialgerichts mit Schreiben vom 30. Juli 2019 Berufung eingelegt. Sie erhebt den
Einwand, dass der Termin zur mündlichen Verhandlung um 12:30 Uhr, zu dem sie geladen worden sei, nicht stattgefunden habe.
Sie habe gegenüber einer Mitarbeiterin der Geschäftsstelle den Wunsch geäußert, über den neuen Termin informiert zu werden.
Dies sei abgelehnt worden. Das Urteil sei daher schon aus prozessualen Gründen aufzuheben. Darüber hinaus sei die Annahme,
dass die Klägerin hilfebedürftig sei, nicht begründet. Sozialhilfe dürfe nicht erhalten, wer sich durch den Einsatz seiner
Arbeitskraft selbst helfen könne.
Die Beigeladene beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 12. Juli 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie macht geltend, die Zweifel an ihrer Hilfebedürftigkeit seien unbegründet.
Der Beklagte stellt keinen Antrag.
In der mündlichen Verhandlung vom 13. Januar 2022 wurde die Klägerin angehört und der Sohn der Klägerin als Zeuge vernommen.
Die Klägerin hat bekundet, dass sie 2014 nach Deutschland gekommen sei, nachdem ihr Sohn vorausgegangen sei, mit dem sie zuvor
in B. gelebt hätte. In B. hätten sie und ihr Sohn sporadisch gearbeitet, wenn es Arbeit gegeben hätte. Sie habe mehr als ihr
Sohn gearbeitet. Ihr Sohn habe manchmal Essen eingekauft, manchmal aber auch Süßigkeiten für sich. Der Sohn der Klägerin hat
ausgesagt, dass er in B. Feldarbeit geleistet und die Klägerin nicht gearbeitet habe. Hinsichtlich der Einzelheiten der Anhörung
der Klägerin und der Vernehmung des Sohnes der Klägerin als Zeugen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte des Gerichts, die Prozessakte des Sozialgerichts
zu dem Verfahren S 49 AS 4319/15 ER sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Beigeladenen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung bleibt ohne Erfolg.
I.
Die Berufung der Beigeladenen ist statthaft (§§
143,
144 Sozialgerichtsgesetz –
SGG) und auch im Übrigen zulässig; insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben worden.
II.
Die Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Beigeladene verpflichtet (vgl. §
75 Abs.
5 SGG), der Klägerin Leistungen im Zeitraum von Juni bis November 2015 nach dem SGB XII zu gewähren.
1.
Das Urteil des Sozialgerichts beruht nicht auf einem Verfahrensfehler, der den Senat zu einer Zurückverweisung an das Sozialgericht
nach §
159 Abs.
1 SGG veranlasst. Dass ein Termin zur mündlichen Verhandlung erst mit Verspätung aufgerufen wird, weil sich das Gericht selbst
in Verzug befindet, führt grundsätzlich nicht dazu, dass der Termin zur mündlichen Verhandlung nicht stattgefunden hat.
2.
Das Sozialgericht hat zu Recht die Beigeladene als zuständige Leistungsträgerin verpflichtet. Denn die Klägerin hat als hilfebedürftige
Unionsbürgerin, deren Aufenthalt sich im Zeitraum von Juni bis November 2015 allein aus dem Grund der Arbeitssuche ergeben
hat und sich nach Ablauf von sechs Monaten, in denen der Aufenthalt von der Ausländerbehörde geduldet wurde, verfestigt hatte,
einen Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII in der Fassung vom 2. Dezember 2006 gegen die Beigeladene, die sich die gemäß § 18 Abs. 1 SGB XII erforderliche Kenntnis des Beklagten zurechnen lassen muss (vgl. BSG, Urteil vom 9.8.2018 – B 14 AS 32/17 R; BSG, Urteil vom 30.8.2017 – B 14 AS 31/16 R; BSG, Urteil vom 17.3.2016 – B 4 AS 32/15 R; BSG, Urteil vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R).
a.
Dass die Klägerin aus einem anderen Grund als aus dem Zweck der Arbeitssuche freizügigkeitsberechtigt war, hat sich im gerichtlichen
Verfahren auch nach der Anhörung der Klägerin und der Vernehmung ihres Sohnes als Zeugen nicht zur Überzeugung des Senats
ergeben. Die von der Klägerin vorgebrachte Freizügigkeitsberechtigung als Familienangehörige ihres als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigten
Sohnes würde voraussetzen, dass der Sohn der Klägerin Unterhalt gewährt hat (vgl. § 3 Abs. 2 FreizügigkeitsG/EU; Art. 2 Nr. 2 lit. d) Richtlinie 2004/38/EG). Dabei muss die Unterhaltsgewährung bereits im Herkunftsstaat erfolgt sein (vgl. Art. 3 Abs. 2 lit. a in Verbindung mit Art. 7 Abs. 4 Richtlinie 2004/28/EG; LSG Hessen, Urteil vom 18.11.2020 – L 6 AS 611/18; siehe auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.7.2019 – L 15 SO 181/18), wobei die Gründe für die Unterhaltsgewährung
unbeachtlich sind (EuGH, Urteil vom 18.6.1987 – C-316/85; EuGH, Urteil vom 16.1.2014 – C-423/12) und auch unbeachtlich ist, ob der unterhaltsgewährende, freizügigkeitsberechtigte Verwandte sich im Zeitpunkt der Unterhaltsgewährung
im Herkunftsstaat aufhält (EuGH, Urteil vom 9.1.2007 – C-1/05). Die Unterhaltsgewährung im Herkunftsstaat muss sich als fortgesetzte, regelmäßige Unterstützung in einem Umfang, der es
ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhaltes regelmäßig zu decken, darstellen (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom
6.8.2019 – L 16 AS 450/19 B ER; siehe auch 3.2.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 18.2.2016).
Daran fehlt es. Zwar hat sich aus der Anhörung der Klägerin und des Sohnes der Klägerin als Zeugen ergeben, dass sich die
Klägerin und der Sohn im Herkunftsstaat gegenseitig unterstützt haben. Jedoch hat sich gerade ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis
der Klägerin zu ihrem Sohn nicht gezeigt. Die Klägerin hat selbst bekundet, dass sie mehr gearbeitet habe als ihr Sohn. Ihr
Sohn hingegen hat angegeben, dass er mehr gearbeitet habe als die Klägerin. Der Senat kann daher eine Unterhaltsgewährung
des Sohnes an die Mutter im Sinne einer fortgesetzten, regelmäßigen Unterstützung nicht feststellen.
b.
Die Klägerin war auch hilfebedürftig, weil sie nicht über anrechenbares Einkommen oder zu berücksichtigendes Vermögen verfügte.
Unerheblich für die Beurteilung der Hilfebedürftigkeit der Klägerin und des Nachrangs der Sozialhilfe, vgl. § 2 Abs. 1 SGB XII, ist, ob die Klägerin sich durch Einsatz ihrer Arbeitskraft hätte selbst helfen können. Denn sie hat im streitgegenständlichen
Zeitraum kein Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit erhalten. Ihr standen damit keine bereiten Mittel zur Verfügung, mit denen
sie sich hätte selbst helfen können (vgl. Deckers in: Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Auflage 2020, § 2, Rn. 19). Entgegen der verwaltungsgerichtlichen Auffassung zum Bundessozialhilfegesetz (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 29.9.1971 – V C 2.71) stellt der grundsätzliche Nachrang der Sozialhilfe (Subsidiarität) kein eigenständiges negatives Tatbestandsmerkmal und
keinen eigenständigen Ausschlusstatbestand dar, sondern umschreibt ein Gebot der Sozialhilfe, das insbesondere durch die Regelungen
über den Einsatz von Einkommen und Vermögen konkretisiert wird (vgl. BSG Urteil vom 2.2.2010 – B 8 SO 21/08 R;BSG Urteil vom 22.3.2012 – B 8 SO 30/10 R; BSG Urteil vom 20.1.2016 – B 14 AS 35/15 R; Deckers in: Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Auflage 2020, § 2, Rn. 4; Coseriu/Filges in: jurisPK-SGB XII, 3. Auflage, § 2, Rn. 11).
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
IV.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.