Tatbestand
Die Beteiligten streiten um das Bestehen einer Familienversicherung.
Der Kläger zu 1. ist der Stiefvater der Klägerinnen zu 2. und 3.. Die Klägerinnen zu 2. und 3. waren bei dem Kläger zu 1.,
der in Vollzeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, familienversichert. Die Mutter der Klägerinnen zu 2. und 3.
und Ehefrau des Klägers zu 1, Frau C.K., war geringfügig beschäftigt. In der Zeit vom 14. bis zum 30. November 2014, vom 1.
Januar bis zum 28. Februar 2015 sowie ab Mai 2015 hatte die Klägerin zu 2. dann eigene Einnahmen aus einer geringfügigen Beschäftigung,
ab Sommer 2015 begann sie eine fachschulische Ausbildung, erhielt Bafög und übte weiterhin eine geringfügige Beschäftigung
aus. Die Klägerin zu 3. hatte ab dem 1. August 2015 ebenfalls Einnahmen aus einer geringfügigen Beschäftigung.
Mit Bescheid vom 16. bzw. 17. Dezember 2016 stellte die Beklagte fest, dass die Klägerin zu 2. in der Zeit vom 14. bis zum
30. November 2014, vom 1. Januar bis zum 28. Februar 2015 sowie ab dem 1. Mai 2015 und die Klägerin zu 3. ab dem 1. August
2015 nicht mehr bei dem Kläger zu 1. familienversichert seien. Die Voraussetzungen für eine Familienversicherung seien nicht
mehr gegeben, da die Klägerinnen zu 2. und 3. in den streitgegenständlichen Zeiten – aufgrund ihrer eigenen Einnahmen – nicht
mehr überwiegend von ihrem Stiefvater, dem Kläger zu 1., unterhalten worden seien. Die Versicherung der Klägerinnen zu 2.
und 3. setze sich daher als freiwillige Versicherung fort.
Hiergegen legten die Kläger mit Schreiben vom 7. Januar 2016 Widerspruch ein und begründeten diesen damit, dass die Einkünfte
der Klägerinnen zu 2. und 3. aus ihren Minijobs der Höhe nach nicht geeignet seien, den überwiegenden Lebensunterhalt eines
Menschen zu bestreiten.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheiden vom 6. April 2016 zurück. Für die Frage bzw. Berechnung, ob der
überwiegende Unterhalt vom Mitglied bestritten werde oder nicht, orientiere sich die Beklagte an der „Richtlinie für die Feststellung
des überwiegenden Unterhalts im Rahmen der Familienversicherung für Stief- und Enkelkinder nach §
10 Abs.
4 SGB V der Spitzenverbände der Krankenkassen“. Bei der Berechnung würde insbesondere auch der Naturalunterhalt bzw. Betreuungsunterhalt
einbezogen. Dabei werde im Rahmen eines „Günstigkeitsvergleichs“ zunächst eine Prüfung unter Außerachtlassung der Werte Haushaltsführung
und Kinderbetreuung vorgenommen und für den Fall, dass hiernach keine überwiegende Unterhaltsgewährung angenommen werden könne,
eine weitere Berechnung unter Einbeziehung der genannten Werte durchgeführt. Auf diesem Wege sei sichergestellt, dass die
Interessen der Versicherten an einer beitragsfreien Familienversicherung in vollem Umfang gewürdigt würden. Aus der Berechnung
habe sich ergeben, dass die Klägerinnen zu 2. und 3. in den streitgegenständlichen Zeiten nicht mehr überwiegend von ihrem
Stiefvater unterhalten worden seien. Eine Familienversicherung komme daher nicht mehr in Betracht.
Am 6. Mai 2016 haben die Kläger Klage erhoben. Zur Begründung haben sie ausgeführt, die Familie könne die Beiträge zur Kranken-
und Pflegeversicherung für die Klägerinnen zu 2. und 3. nicht aufbringen. Wenn die Klägerinnen zu 2. und 3. nicht bei dem
Kläger zu 1. familienversichert werden könnten, würde dies faktisch dazu führen, dass er ihnen Unterhalt zahlen müsse, um
die Beiträge zu finanzieren, wozu er jedoch rechtlich nicht verpflichtet sei. Die Klägerinnen zu 2. und 3. würden hier als
Stiefkinder in erheblicher Weise schlechter gestellt, als leibliche Kinder, obwohl sie gegen ihre leiblichen Väter keine Unterhaltsansprüche
geltend machen könnten. Vorliegend bestünde auch nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, dass die Klägerinnen zu 2. und
3. sich über ihre leiblichen Väter versicherten, da diese unbekannt bzw. verstorben seien. Auch eine Versicherung über die
Mutter sei nicht möglich, da diese nur einem Mini-Job nachgehe. Es könne nicht sein, dass die Klägerinnen zu 2. und 3. Gelder
aufbringen müssten, die für ihren eigenen Lebensunterhalt notwendig seien, um sich krankenzuversichern. Art.
6 des
Grundgesetzes schütze auch die Stieffamilie. Die Ungleichbehandlung von Stiefkindern einerseits und leiblichen Kindern andererseits stoße
auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 16. April 2019, den Klägern zugestellt am 2. Mai 2019, abgewiesen. Die angefochtenen
Bescheide seien rechtmäßig und verletzten die Kläger daher nicht in deren Rechten. Die Familienversicherung der Klägerinnen
zu 2. und 3. habe in den streitgegenständlichen Zeiträumen nicht mehr bestanden, sodass die Beklagte sie zu Recht und in nicht
zu beanstandender Weise rückwirkend aufgehoben habe. Die Voraussetzungen für eine Aufnahme der Klägerinnen zu 2. und 3. in
die Familienversicherung bei der Beklagten hätten in den streitgegenständlichen Zeiträumen nicht mehr vorgelegen. Rechtsgrundlage
für die Familienversicherung sei §
10 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V). Nach §
10 Abs.
1 bis
3 SGB V seien unter dort bestimmten Voraussetzungen der Ehegatte und die Kinder von Mitgliedern der Krankenkasse versichert. Als
Kinder i.S. der Absätze 1 bis 3 würden nach Abs. 4 Satz 1 der Vorschrift auch Stiefkinder und Enkel gelten, die das Mitglied
überwiegend unterhält, sowie Pflegekinder. Diese Voraussetzungen lägen im Falle der Klägerinnen zu 2. und 3. nicht vor. Zwar
seien sie Stiefkinder des Klägers zu 1., sodass grundsätzlich eine Familienversicherung in Betracht komme. Sie seien in den
streitigen Zeiträumen aber nicht mehr i.S.d. §
10 Abs.
4 Satz 1
SGB V überwiegend von dem Kläger zu 1. unterhalten worden. Im Recht der Krankenversicherung sei nicht geregelt, wie der überwiegende
Unterhalt zu ermitteln sei. Daher sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auf die Regelungen des Familienrechts
zurückzugreifen. Nach §
1610 Abs.
2 BGB umfasse der Unterhalt den gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf, bei
einer der Erziehung bedürftigen Person auch die Kosten der Erziehung. Es sei deshalb zunächst im konkreten Einzelfall festzustellen,
welche von dritter Seite erbrachten Geld-, Sach- und Betreuungsleistungen zum Lebensbedarf des Kindes gehörten und was als
eigene Einnahme des Kindes zu werten sei. Stehe danach der gesamte Unterhaltsbedarf des Kindes fest, sei zu prüfen, in welchem
Verhältnis die von dem Stammversicherten erbrachten Geld-, Sach- oder Betreuungsleistungen zum gesamten Unterhaltsbedarf stünden.
Der von dem Stammversicherten erbrachte Unterhalt überwiege nur dann, wenn er höher liege, als die Hälfte des gesamten Lebensbedarfs
des Kindes. In der „Richtlinien für die Feststellung des überwiegenden Unterhalts im Rahmen der Familienversicherung für Stief-
und Enkelkinder (§
10 Abs.
4 SGB V)“ der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 8. November 2005 werde darauf hingewiesen, dass es darauf ankomme, dass das Mitglied
tatsächlich den überwiegenden Unterhalt gewähre. Lediglich die Verpflichtung hierzu oder die Berechtigung, Unterhalt beanspruchen
zu können, sei dagegen ohne Bedeutung. Als Einkommen zur Berechnung des überwiegenden Unterhalts würden alle Nettobezüge,
die zur Bestreitung des Lebensunterhaltes verwendet werden könnten, definiert. In Ziffer 2.2 der Richtlinie werde darauf hingewiesen,
dass bezüglich der Berücksichtigung/Nichtberücksichtigung einzelner Einkunftsarten auf das jeweils aktuelle gemeinsame Rundschreiben
der Spitzenverbände der Krankenkasse „Einnahmen zum Lebensunterhalt“ zurückgegriffen werden könne. Dies gelte auch für die
Bewertung von einmaligen Einnahmen. Der Unterhaltsbedarf des einzelnen Familienangehörigen richte sich nach Ziffer 3 der Richtlinie
grundsätzlich nach den gesamten Einnahmen aller Familienmitglieder, unabhängig davon, welcher Betrag von den Familienmitgliedern
an die gemeinsame Haushaltskasse tatsächlich abgeführt werde. Eine Differenzierung des Unterhaltsbedarfs der einzelnen Angehörigen
werde nicht vorgenommen. Nach Ziffer 4.1 der Richtlinien habe das Mitglied einen Angehörigen dann überwiegend unterhalten,
wenn es mehr als die Hälfte von dessen Unterhaltsbedarf aus seinem Einkommen aufgebracht habe. Verfüge der Angehörige selbst
über Einkünfte, so sei davon auszugehen, dass er diese bis zur Höhe seines Unterhaltsbedarfs zur Deckung seines eigenen Lebensunterhaltes
verwende. Das Mitglied leiste den überwiegenden Unterhalt eines Angehörigen nicht, wenn bereits die Hälfte des auf den Angehörigen
entfallenden Unterhaltsbedarfs aus dessen Mitteln, denen anderer Familienangehöriger oder Dritter gedeckt sei. Die Beklagte
habe den Unterhaltsbedarf der Klägerinnen zu 2. und 3. entsprechend dieser Vorgaben geprüft und sei zu dem Ergebnis gelangt,
dass die Klägerinnen – aufgrund der in den streitigen Zeiten erzielten eigenen Einnahmen – nicht mehr überwiegend von dem
Kläger zu 1. unterhalten worden seien. Wegen der Berechnung im Einzelnen werde Bezug genommen auf die Widerspruchsbescheide
der Beklagten vom 4. April 2016. Es sei nicht erkennbar, dass der Beklagten bei der Berechnung des überwiegenden Unterhaltes
Fehler unterlaufen seien. Insbesondere habe die Beklagte bei ihrer Prüfung auch den Naturalunterhalt bzw. Betreuungsunterhalt
berücksichtigt. Die Berechnungsweise sei seitens der Kläger auch nicht beanstandet worden. Die Regelung in §
10 Abs.
4 Satz 1
SGB V, wonach Stiefkinder nur dann familienversichert werden könnten, wenn der Stiefelternteil sie überwiegend unterhalte, sei
– anders als die Kläger meinten – verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes
des Art.
3 Abs.
1 des
Grundgesetzes (
GG) liege nicht vor. Stiefkinder würden im Vergleich zu leiblichen Kindern und Pflegekindern zwar benachteiligt, da diese unabhängig
davon familienversichert seien, ob sie das Mitglied überwiegend unterhalte.Die ungleiche Behandlung mehrerer Gruppen von Normadressaten
sei mit dem allgemeinen Gleichheitssatz jedoch vereinbar, wenn zwischen ihnen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht
bestünden, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten; ungleiche Behandlung und rechtfertigender Grund müssten
in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Dieses treffe hier zu. Der Gesetzgeber sei in einer typisierenden Betrachtungsweise
bei Pflegeeltern davon ausgegangen, dass sie aufgrund einer übernommenen Verpflichtung das Pflegekind ohne Gegenleistung betreuten,
beaufsichtigten und erzögen und damit zumindest – wie leibliche Eltern – den vollen Betreuungsunterhalt (§
1606 Abs.
3 Satz 2
BGB) erbrächten, der grundsätzlich gleichwertig mit den Unterhaltsleistungen in Geld- und Sachmitteln sei (§§ 1615a, 1612 Abs.
1
BGB). Demgegenüber sei ein Stiefvater oder eine Stiefmutter dem Stiefkind gegenüber familienrechtlich nicht verpflichtet. Die
elterlichen Rechte und Pflichten würden gegenüber ihrem Stiefkind typischerweise von ihrem Ehegatten wahrgenommen, von dem
das Kind abstamme. Bei diesen Unterschieden dürfe der Gesetzgeber die Einbeziehung des Stiefkindes in die Familienversicherung
auf den Fall beschränken, dass das Kassenmitglied sein Stiefkind überwiegend unterhalte, wobei Unterhaltsleistungen in Form
von Pflege und Erziehung mit gewertet werden müssten. Auch eine Verletzung des Art.
6 GG sei nicht erkennbar.Diese Norm verpflichte als Freiheitsrecht nicht nur den Staat, Eingriffe in die Familie zu unterlassen,
sondern sie enthalte auch eine wertentscheidende Grundsatznorm, die für den Staat die Pflicht begründe, Ehe und Familie zu
schützen und durch geeignete Maßnahmen auch wirtschaftlicher Art zu fördern. Dieser Verpflichtung werde der Gesetzgeber im
Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung jedoch dadurch gerecht, dass er unter bestimmten Voraussetzungen Kindern von
Versicherten den beitragsfreien Krankenversicherungsschutz der Familienversicherung (§
10 SGB V) gewähre. Konkrete Ansprüche auf eine bestimmte Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung ließen sich aus Art.
6 Abs.
1 GG nicht herleiten. Die Familienversicherung der Klägerin zu 2. habe daher in der Zeit vom 14. bis zum 30. November 2014, vom
1. Januar bis zum 28. Februar 2015 sowie ab Mai 2015 und die Familienversicherung der Klägerin zu 3. ab dem 1. August 2015
nicht mehr bestanden. Die Beklagte habe die Familienversicherung auch rückwirkend aufheben können. Sei zuvor kein entgegenstehender
Verwaltungsakt ergangen, könne die Krankenkasse auch rückwirkend durch Bescheid feststellen, dass eine Familienversicherung
in der Vergangenheit nicht bestanden habe, ohne aus den §§ 45, 48 Abs. 1 SGB X folgende Einschränkungen beachten zu müssen. Für familienversicherte Mitglieder der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung
setze sich nach §
188 Abs.
4 Satz 1
SGB V die Versicherung mit dem Tag des Endes ihrer Versicherungspflicht als freiwillige Mitgliedschaft fort. Das freiwillig weiterversicherte
Mitglied sei berechtigt, seinen Austritt aus der Krankenkasse zu erklären (§
188 Abs.
4 Satz 1
SGB V). Der Austritt werde jedoch nur wirksam, wenn das Mitglied eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall nachweise (§
188 Abs.
4 Satz 2
SGB V). Die Klägerinnen zu 2. und 3. hätten weder ihren Austritt erklärt, noch liege ein Nachweis einer anderweitigen Versicherung
vor, weshalb die Beklagte die Klägerinnen zu Recht in die obligatorische Anschlussversicherung gem. §
188 Abs.
4 Satz 1
SGB V aufgenommen habe.
Die Kläger haben am 1. Juni 2019 Berufung eingelegt. Sie sind weiterhin der Ansicht, dass §
10 Abs.
4 Satz 1
SGB V in der bis zum 10. Mai 2019 geltenden Fassung wegen Verstoßes gegen Art.
3 Abs.
1 und Art.
6 GG verfassungswidrig sei.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts und der Bescheide der Beklagten vom 16. bzw. 17. September 2015
in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 6. April 2016 zu verurteilen, festzustellen, dass die Klägerinnen zu 2. und 3.
bei dem Kläger zu 1. familienversichert waren und zwar die Klägerin zu 2. im Zeitraum 14. bis 30. November 2014, 1. Januar
bis 28. Februar 2015 sowie ab Mai 2015 und die Klägerin zu 3. ab 1. August 2015.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Auf Nachfrage des Gerichts hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger mitgeteilt, dass die Klägerin zu 3. die Voraussetzungen
der ab Mai 2019 geltenden Fassung des §
10 Abs.
4 Satz 1
SGB V aufgrund von eigenen Einkünften und Auszug aus der elterlichen Wohnung nicht erfülle.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Gerichts-
und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Durch das Einverständnis der Beteiligten konnte der Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung über die
Sache entscheiden.
Wie sich aus dem Vortrag der Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 1. Juli 2020 ergibt, ergeben sich für die Kläger aus
der neuen Rechtslage keine Vorteile.