Leistungen nach dem SGB II für hilfebedürftige Unionsbürger
Materielles Aufenthaltsrecht
Pflicht zur Aufklärung des aufenthaltsrechtlichen Sachverhalts
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II).
Die 1991 geborene Klägerin ist slowenische Staatsbürgerin und war am 14.10.2014 in die Bundesrepublik eingereist. Am 19.10.2017 beantragte sie beim Beklagten im Rahmen einer persönlichen Vorsprache für sich, ihren 1980 geborenen, deutschen Lebensgefährten und
den 2016 geborenen gemeinsamen, deutschen Sohn Leistungen nach dem SGB II. Neben anderer Unterlagen legte sie einen Mietvertrag vom 02.02.2015 über die von ihnen bewohnte Wohnung in der A-Straße
in A-Stadt vor, ausweislich dessen sie für die Drei-Zimmer-Küche-Bad/Toilette-Wohnung mit ca. 80 m² Wohnfläche eine monatliche
Brutto-Kaltmiete von 610,00 € schuldet, wobei die Heizkosten hiervon ausgenommen und direkt an den Versorger zu entrichten
sind.
Der Lebensgefährte der Klägerin erklärte am 15.11.2017 bei einer persönlichen Vorsprache, seit dem 27.09.2017 arbeitslos zu
sein nach fristloser Kündigung der S. AG zum 25.09.2017. Am 28.11.2017 ging ein eigener formeller Antrag des Lebensgefährten
des Klägers bei dem Beklagten ein.
Mit Bescheid vom 01.12.2017 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 04.01.2018, 09.02.2018 und 20.04.2018 bewilligte der
Beklagte dem Lebensgefährten und dem gemeinsamen Kind für die Monate November 2017 bis einschließlich April 2018 vorläufig
Leistungen nach dem SGB II. Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 26.04.2018 wurden ihnen mit Bescheid vom 30.04.2018 Leistungen für die Monate Mai 2018
bis einschließlich Oktober 2018 bewilligt.
Mit Bescheid vom 18.01.2018 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin vom 19.10.2017 mit der Begründung ab, sie besitze die slowenische Staatsangehörigkeit
und sei somit nach dem FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Durch ihr Kind, welches die deutsche Staatsangehörigkeit besitze, habe sie nach Art. 18 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Diese müsse bei der zuständigen Ausländerbehörde beantragt und durch diese erteilt werden.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin vom 19.01.2018, mit dem sie geltend machte, als Mutter eines deutschen Kindes keinem Ausschlussgrund zu unterfallen
und als freizügigkeitsberechtigte Unionsbürgerin keine entsprechende Aufenthaltserlaubnis von der Ausländerbehörde ausgestellt
zu bekommen, wurde vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 19.03.2018 als unbegründet zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel könne zugunsten der Klägerin allenfalls aus der Meistbegünstigungsklausel
des § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU hergeleitet werden. Zuständig für die Prüfung der Voraussetzungen der Erteilung eines Aufenthaltstitels sowie für die gegebenenfalls
sich anschließende Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels sei nach § 71 Abs. 1 S. 1 AufenthG die Ausländerbehörde und nicht der Beklagte. Die Erteilung eines solchen Titels wirke konstitutiv. Dies bedeute, die Erteilung
des Aufenthaltstitels habe rechtsbegründende Wirkung. Daher könne der Beklagte als hierfür unzuständiger Träger keine Entscheidung
über das Vorliegen eines Aufenthaltstitels nach dem AufenthG treffen. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II sei erst ab Erteilung des Aufenthaltstitels nicht mehr einschlägig.
Gegen diesen ihr am 20.03.2018 zugestellten Widerspruchsbescheid erhob die Klägerin am 19.04.2018 Klage zum Sozialgericht für das Saarland. Begründend führte sie aus, sich nicht zum Zweck der Arbeitssuche, sondern primär zur
Betreuung ihres minderjährigen Kindes im Zuständigkeitsbereich des Beklagten aufzuhalten. Im Wege des Günstigkeitsvergleichs
habe auch in eigener Zuständigkeit durch den Beklagten eine umfassende Prüfung der in Betracht kommenden Aufenthaltsrechte
stattzufinden. Da sie das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht habe, erwerbsfähig und hilfebedürftig sei und ihren gewöhnlichen Aufenthalt gemeinsam mit ihrer Familie
in der Bundesrepublik Deutschland habe, stünden ihr Leistungen nach dem SGB II zu.
Der Beklagte trat der Klage unter Verweis auf die angefochtenen Bescheide entgegen und führte aus, weder werde die Anwendbarkeit
des Günstigkeitsprinzips noch die Unanwendbarkeit des Ausschlussgrundes nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II im vorliegenden Fall bestritten, allerdings habe der Beklagte nicht in eigener Zuständigkeit zu prüfen, ob der Klägerin ein
Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG zustehe. Danach bedürften Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht
durch das Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt sei oder auf Grund des Abkommens
vom 12.09.1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei ein Aufenthaltsrecht
bestehe. Die Klägerin habe gerade kein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU, da sie sich weder zum Zwecke der Arbeitssuche noch zum Zwecke einer Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte.
Ihr alleiniger Aufenthaltszweck sei die Betreuung des minderjährigen Kindes. Daher bedürfte die Klägerin eines Aufenthaltstitels
gem. § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG; worauf die Klägerin hingewiesen worden sei. Wäre die Ausländerbehörde bereits bei der ersten Vorsprache der Klägerin entsprechend
tätig geworden und hätte, wie nunmehr unter dem 12.04.2018, zumindest eine entsprechende Fiktionsbescheinigung erteilt, hätten
auch bereits früher Leistungen bewilligt werden können. Die Untätigkeit der Ausländerbehörde falle nicht in den Verwaltungsbereich
des Beklagten und führe nicht dazu, dass die Notwendigkeit der Erteilung eines solchen Titels als nicht obligatorisch anzusehen
sei. Das Meistbegünstigungsprinzip habe nicht die Intention, nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger mit freizügigkeitsberechtigten
Unionsbürgern gleichzustellen, sondern solle eine Ungleichbehandlung mit Drittstaatlern vermeiden, wie sich aus der Gesetzesbegründung
entnehmen lasse.
Nach Vorlage einer unter dem 12.04.2018 vom Landesverwaltungsamt - Zentrale Ausländerbehörde A-Stadt zugunsten der Klägerin
ausgestellten Fiktionsbescheinigung, hat der Beklagte der Klägerin ab dem 01.05.2018 monatliche Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung des Einkommens der aus ihrem deutschen Lebensgefährten und dem gemeinsamen Kind bestehenden Bedarfsgemeinschaft
bewilligt.
Mit Urteil vom 30.01.2019 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 18.01.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.03.2018
verurteilt, der Klägerin Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe ab Antragstellung zu gewähren. Begründend hat es ausgeführt, die zulässige kombinierte Anfechtungs-
und Leistungsklage sei begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 18.01.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.03.2018
sei rechtswidrig und die Klägerin hierdurch in ihren Rechten verletzt. Die Klägerin erfülle die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen
des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II und habe einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe ab Antragstellung. Die Klägerin sei nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Der Ausschlusstatbestand erfordere eine fiktive Prüfung des Grundes bzw. der Gründe für eine im streitigen
Leistungszeitraum bestehende Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU, welches die Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern in nationales Recht umsetze, und darüber hinaus, ob ein Aufenthaltsrecht
nach den gemäß § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU im Wege eines Günstigkeitsvergleichs („Meistbegünstigungsgrundsatz“) anwendbaren Regelungen des AufenthG bestehe.
Die Klägerin könne sich unstreitig nicht auf ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU berufen, da die Voraussetzungen der Aufenthaltsrechte aus §§ 2, 3, 4, 4a FreizügG/EU nicht vorlägen. Ein Aufenthaltsrecht folge jedoch aus § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG iVm. § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU. Soweit Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern nach § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU iVm. den Vorschriften des AufenthG zu prüfen seien, sei es unerheblich, ob dem Unionsbürger ein Aufenthaltstitel nach dem AufenthG tatsächlich erteilt worden sei (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.08.2017 – L 19 AS 1131/17 B ER – Juris, RdNr. 41). Entgegenstehendes ergebe sich auch nicht aus dem Urteil des VGH Kassel (Urteil vom 16.11.2016 –
9 A 242/15 – Juris, RdNr. 23). Gegenstand der Entscheidung sei alleine die Rechtsfrage gewesen, ob neben einem Freizügigkeitsrecht nach
dem FreizügG/EU (konstitutiv) ein weiteres Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG erteilt werden könne. Der Entscheidung lasse sich hingegen nicht entnehmen, dass die Erteilung des Aufenthaltsrechts Voraussetzung
für den Wegfall des Ausschlusstatbestandes nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sei.
Bei der im Rahmen der Günstigkeitsklausel vorzunehmenden vergleichenden Betrachtung sei auf die jeweilige Rechtsstellung der
Klägerin im Ganzen abzustellen (VGH Kassel, aaO., RdNr. 31). § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG vermittele der Klägerin eine gegenüber dem Freizügigkeitsrecht günstigere Rechtsstellung, da der Klägerin ein Aufenthaltsrecht
aus §§ 2, 3, 4, 4a FreizügG/EU nicht zustehe. Unstreitig sei die Klägerin Elternteil des minderjährigen Sohnes, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitze,
und übe, neben dem Kindesvater, die Personensorge aus. Gem. § 28 Abs. 1 S. 2 AufenthG sei die Sicherung des Lebensunterhaltes im Fall des § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG keine Tatbestandsvoraussetzung. Die Klägerin sei ferner hilfebedürftig gem. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II. Von einem bedarfsübersteigenden Einkommen oder Vermögen, auch unter Berücksichtigung der Einbeziehung der Klägerin in die
aus dem Lebensgefährten und dem gemeinsamen Sohn bestehende Bedarfsgemeinschaft, sei der Kammer nichts bekannt geworden.
Gegen diese, ihm am 14.02.2019 zugestellte Entscheidung hat der Beklagte am 26.02.2019 Berufung eingelegt. Nachdem der Klägerin nach Vorlage der Fiktionsbescheinigung der Ausländerbehörde vom 16.04.2018 Leistungen nach
dem SGB II bewilligt worden seien, sei lediglich der Zeitraum ab Antragstellung bis zu diesem Zeitpunkt streitgegenständlich. Er wiederholt
im Wesentlichen die bereits seinerseits vorgebrachten Argumente. Allerdings sei die Wertung des SG hinsichtlich der Entscheidung des VGH Kassel unzutreffend. Dieser habe in seiner Entscheidung vom 16.11.2016 (9 A 242/15) klargestellt, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels konstitutiv sei. Darüber hätte auch das SG nicht mittelbar entscheiden dürfen, insbesondere da es selbst zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die Klägerin nicht freizügigkeitsberechtigt
gewesen sei. Die einzig vom SG in Bezug genommene Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfahlen sei eine vorläufige, die sich mit den vorliegenden streitigen
Fragen nicht auseinandersetze. Würde man dem Beklagten als unzuständiger Behörde eine fiktive Prüfung der Erteilung eines
Aufenthaltstitels auferlegen, bedeutete dies, dass die Regelungen der §§ 2 ff. FreizügG/EU aufgrund von § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU obsolet seien.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 30.01.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die mit der Berufung angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Akten, deren Inhalt Gegenstand
der mündlichen Verhandlung vom 08.02.2022 waren.
Entscheidungsgründe
Die Berufung, die von Seiten des Beklagten insbesondere form- und fristgerecht (§
151 des
Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) eingelegt worden ist und gegen deren Zulässigkeit im Übrigen keine Bedenken bestehen, ist unbegründet.
Gegenstand des Verfahrens ist der Zeitraum seit Antragstellung am 19.10.2017 bis zur Leistungsbewilligung ab dem 01.05.2018,
für den es der Beklagte durch den steitgegenständlichen Ablehnungsbescheid vom 18.01.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19.03.2018 abgelehnt hat, Leistungen nach dem SGB II an die Klägerin zu erbringen. Bei ablehnenden Verwaltungsentscheidungen erstreckt sich der Zeitraum streitiger Entscheidungen
grundsätzlich bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (vgl. zB. BSG, Urteil vom 13.11.2008 – B 14 AS 24/07 R – Juris, RdNr. 13), wobei eine aufgrund veränderter Sach- und Rechtslage aufgenommene Bewilligung der Leistungen, wie hier
durch Bescheid vom 30.04.2018 ab dem 01.05.2018, den streitigen Zeit- raum aufgrund insoweit eingetretener Erledigung der
zwischen den hiesigen Beteiligten streitigen Rechtsfrage in zeitlicher Hinsicht begrenzt.
Im Ergebnis zutreffend hat das SG den Beklagten zur Leistungsgewährung an die Klägerin in der Zeit ab Antragstellung verurteilt. Der dem entgegenstehende Bescheid
des Beklagten vom 18.01.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.03.2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin
in ihren Rechten gemäß §
54 Abs.
1 S. 2
SGG.
Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S.1 SGB II in der vorliegend zur Anwendung kommenden Fassung durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22.12.2016 (BGBl. I, S. 3155) liegen vor.
Die Klägerin hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig und hat seit ihrer Einreise am 14.10.2014 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland. Sie ist auch hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 3, 9 SGB II. Der Senat nimmt insoweit auf die in diesem Zeitraum tatsächlich gewährten Leistungen nach dem SGB II an den mit der Klägerin zusammenlebenden Lebenspartner und das gemeinsame Kind Bezug, woraus sich die Bedürftigkeit der einzelnen
Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auch im Übrigen ergibt.
Entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten unterfällt die Klägerin im streitbefangenen Zeitraum auch nicht der Ausschlussregelung
des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, wonach vom Leistungsbezug u.a. Ausländerinnen und Ausländer ausgenommen sind, die kein Aufenthaltsrecht haben, deren Aufenthaltsrecht
sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach
Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über
die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589
(ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten sowie deren Familienangehörigen. Denn die Klägerin hatte in
diesem Zeitraum bereits ein (materielles) Aufenthaltsrecht, das für das Nichtvorliegen des Ausschlussgrundes ausreichend ist.
Wie der Senat in seinem Urteil vom 07.09.2021 (L 4 AS 23/20 WA – zur Veröffentlichung in Juris vorgesehen) bereits ausgeführt hat, erfordert diese Ausschlussregelung eine fiktive Prüfung
des Grundes bzw. der Gründe für eine im streitigen Leistungszeitraum bestehende Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU, welches die Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern in nationales Recht umsetzt, darüber hinaus, ob ein Aufenthaltsrecht nach
den gemäß § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU – in der vorliegend anwendbaren Fassung durch Art. 6 Nr. 1 des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20.07.2017 (BGBl. I, S. 2780) mit Wirkung ab dem 29.07.2017 bis zum 23.11.2020 – im Wege eines Günstigkeitsvergleichs anwendbaren Regelungen des AufenthG besteht (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R – Juris, RdNr. 32; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.08.2017 – L 19 AS 1131/17 B ER – Juris, RdNr. 34).
Zwar kann sich die Klägerin nicht auf ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU berufen, da die Voraussetzungen der Aufenthaltsrechte aus §§ 2, 3, 4, 4a FreizügG/EU in der o.g. Fassung nicht vorlagen. Denn die Klägerin übte seit ihrer Einreise im streitgegenständlichen Zeitraums keine
(abhängige oder selbständige) Tätigkeit aus (§ 2 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FreizügG/EU) und hält sich nicht zu dem Zwecke auf, Dienstleistungen zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (§ 2 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 FreizügG/EU). Sie verfügt ferner nicht über ausreichende Existenzmittel, um ihren Lebensunterhalt und ihren Krankenversicherungsschutz
selbst zu decken (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU) und ist auch nicht einem freizügigkeitsberechtigten Familienmitglied nachgezogen (§ 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m § 3 FreizügG/EU). Die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht liegen für die Klägerin ebenfalls nicht vor (§ 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügG/EU), da sie erst im Jahr 2014 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, womit auch die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II ausscheidet.
Jedoch hat das SG zu Recht entschieden, dass der Klägerin ein Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU. iVm. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG zusteht. Hiernach ist dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge
die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Die Antragstellerin übte und übt das Sorgerecht für ihren am 16.01.2016 geborenen Sohn,
der deutscher Staatsbürger ist, hier in Deutschland aus. Dass ihr im Zeitpunkt der Antragstellung eine solche Aufenthaltserlaubnis
noch nicht formell durch die dafür zuständige Behörde erteilt worden war, ist insoweit ohne Belang.
Zwar ist, worauf der Beklagte zutreffend hinweist, in § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG vorgeschrieben, dass Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels bedürfen, sofern
nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens
vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl.
1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht. Im Bereich des im § 7 SGB II geregelten – und hier allein maßgeblichen und zu prüfenden – Leistungsausschlusses ist indes ausschließlich ausschlaggebend,
ob der betroffene Ausländer über ein Aufenthaltsrecht verfügt; ob dieses Recht in Form eines Verwaltungsaktes als Aufenthaltstitel
auch durch die dafür zuständige Ausländerbehörde festgestellt wurde, ist insoweit ohne Belang. Demzufolge kann auch nicht
verlangt werden, dass der Beklagte einen solchen Titel selbst erlässt, sondern nur, dass er im Rahmen der Anspruchsberechtigung
bzw. des Anspruchsausschlusses nach § 7 SGB II eigenständig prüft, ob ein solches Aufenthaltsrecht materiell besteht.
Denn Gerichte und Behörden haben im Rahmen ihrer Zuständigkeit, wenn es um Leistungen nach dem SGB II geht, ihrerseits selbst zu prüfen, ob eine Aufenthaltsberechtigung der betreffenden Person gegeben ist. Dazu ist auch von
Gesetzes wegen vorgesehen, dass sie erforderlichenfalls eigene Ermittlungen bei der Ausländerbehörde vornehmen; so ist z.B.
auch ein Datenabruf im automatisierten Verfahren aus dem Ausländerzentralregister durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit
und die Sozialhilfeträger gesetzlich vorgesehen (vgl. § 22 Abs. 1 Nr. 5a, Nr. 8 Gesetz über das Ausländerzentralregister),
was keiner Einwilligung der betroffenen Person bedarf (vgl. dazu Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 7 [Stand: 29.11.2021], RdNr. 121).
Auch das LSG Sachsen hat sich in seinem Beschluss vom 10.05.2021 (L 7 AS 342/21 B ER, Juris) ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt und überzeugend darauf hingewiesen, dass es der Erteilung eines
Aufenthaltstitels für die Anwendung des § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU und damit die Prüfung der zur Anwendung kommenden günstigeren materiell-rechtlichen Regelungen des AufenthG nicht bedarf, weil „die ursprünglich vorgesehene Änderung des § 11 FreizügG/EU ("Soweit Rechtsfolgen nach anderen Gesetzen davon abhängen, dass ein Ausländer einen Aufenthaltstitel besitzt, treten diese
Rechtsfolgen auch in Fällen des Satzes 1 nur ein, wenn dieser Aufenthaltstitel erteilt worden … ist." vgl. § 11 Abs. 14 S. 2 FreizügG/EU i.d.F. des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur sog. Klarstellung "anderslautender Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit",
vgl. BR-Drucks. 263/20, S. 7, 50 f.; BT-Drucks. 19/21750, S. 12, 47) nicht als Gesetz beschlossen wurde (vgl. Art. 1 Nr. 11
des Gesetzes v. 12.11.2020, BGBl. I S. 2416, 2418 f.; zum Gesetzgebungsverfahren und zu den angeführten Gründen der Aufhebung dieser beabsichtigten Regelung vgl. insb. BR-Drucks.
263/20 <Beschluss>, S. 2 bzw. BT-Drucks. 19/21750, S. 61 f.; BT-Drucks. 19/23186, insb. S. 5, 7 ff., 10; BT-Plenarprotokoll
19/184, insb. 23169 C f., 23171 C, 23172 B f.; Tewocht, ZAR 2021, S. 43, 46). Daher genügt für einen Unionsbürger weiterhin das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht nach
dem AufenthG, um nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen zu sein (LSG Sachsen, aaO., RdNr. 44 mwN.).
Inwieweit dieses Ergebnis mit der vom Beklagten angeführten Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom
16.11.2016 – 9 A 242/15) nicht vereinbar wäre, vermag der Senat nicht zu erkennen. Dort war allein die Rechtsfrage entschieden worden, ob ein Ausländer,
der nach den Vorschriften des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist, auch einen Anspruch auf die Erteilung eines zusätzlichen Aufenthaltstitels nach Maßgabe des
AufenthG hat, wenn dies für ihn im Rahmen des nach Art. 11 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU vorzunehmenden Günstigkeitsvergleichs keinen rechtlichen Vorteil bedeutet. Zu den Prüfungskompetenzen im Rahmen der Leistungsausschlussregelungen
des SGB II durch die Leistungsträger nach dem SGB II oder die Sozialgerichte hat sich das OVG nicht geäußert.
Schließlich entspricht auch allein diese Gesetzesauslegung den Wertungen des
Grundgesetzes (
GG), namentlich vorliegend dem durch Art.
6 GG garantierten Schutz der Familie. Der Klägerin als Mutter eines deutschen minderjährigen Kindes, für das sie die Personensorge
hierzulande gemeinsam mit dem deutschen Kindsvater ausübt, existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II wegen eines noch nicht ausgestellten Aufenthaltstitels bei tatsächlich bestehendem Aufenthaltsrecht zu verweigern, wäre mit
Art.
6 GG schlechterdings nicht zu vereinbaren.
Nach Art.
6 Abs.
1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Gemäß Art.
6 Abs.
2 S. 1
GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Gegen den
Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten
versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen (Art.
6 Abs.
3 GG). Die Familie im Sinne von Art.
6 Abs.
1 GG ist die Gemeinschaft von Eltern und Kindern (vgl. Burghart in: Leibholz/Rinck,
Grundgesetz, 83. Lieferung 04.2021, Art.
6 GG, RdNr. 60). Um diese Gemeinschaft zwischen Eltern und einem Kleinkind aufrechterhalten zu können, muss deren Lebensunterhalt
im Sinne eines Existenzminimums sichergestellt sein und es muss der Klägerin die Chance gegeben werden, sich auf dem innerdeutschen
Arbeitsmarkt perspektivisch zu integrieren, um auch weiterhin mit ihrer Familie hier zusammenleben zu können (vgl. dazu bereits
Beschluss des Senats vom 27.09.2021 – L 4 AS 19/21 B ER).
Ein Leistungsausschluss der Klägerin nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a SGB II lag daher nicht vor, weil sie ein materielles Aufenthaltsrecht hat, weshalb die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des
SG vom 30.01.2019 zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür fehlen (§
160 Abs.
2 SGG).