Sozialgerichtliches Verfahren - Beschwerde über Nichtzulassung der Berufung - grundsätzliche Bedeutung - Grundsicherung für
Arbeitsuchende - Einkommensberücksichtigung - Anrechenbarkeit von nicht zugeflossenem Kindergeld - Verrechnung durch die Familienkasse
- freiwillige Ratenzahlung zur Tilgung von Schulden hinsichtlich Kindergelderstattung
Gründe
I.
Die Kläger und Beschwerdeführer (im Folgenden: Kläger) begehren die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts
(SG) Dessau-Roßlau und die Durchführung des Berufungsverfahrens zu ihrer Klage, mit der sie weitere Leistungen für den Zeitraum
vom 1. Juli bis zum 31. Oktober 2019 in Höhe von monatlich 50 € geltend machen.
Der im Jahr 1965 geborene Kläger zu 1. und die im Jahr 1969 geborene Klägerin zu 2. sind Ehegatten und bezogen im streitigen
Zeitraum gemeinsam mit ihren Kindern, dem 1995 geborenen Kläger zu 3. und dem 2003 geborenen Kläger zu 4. vom Beklagten und
Beschwerdegegner (im Folgenden: Beklagter) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Sie lebten gemeinsam zur Miete in einer Wohnung in A., für die sie eine monatliche Miete von insgesamt 534 € (Grundmiete
199 €, Betriebskosten 140 €, Heizkosten 195 €, exklusive Stellplatzmiete 50 €) zahlten. Die Warmwasserbereitung erfolgte dezentral.
Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 7. August 2017 hatte die Familienkasse Sachsen-Anhalt-Thüringen die Kindergeldzahlung
des Klägers zu 3. für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 28. Februar 2017 aufgehoben und die Klägerin zu 2. zur Erstattung
eines Betrags von 1.572 € aufgefordert. Am 11. August 2017 hatte sich die Bundesagentur für Arbeit mit einer Ratenzahlung
zur Tilgung der Forderung von 1.556 € mit monatlichen Raten von 50 € einverstanden erklärt. Ausweislich der Ratenzahlungsvereinbarung
sollten die monatlichen Raten auf ein benanntes Konto der Bundesagentur für Arbeit jeweils zum 28. eines Monats, beginnend
am 28. August 2017 und befristet bis zum 28. Juli 2019 gezahlt werden.
Der Kläger zu 1. erzielte im streitigen Zeitraum Einkommen aus einer Tätigkeit bei der Firma S in Höhe von 1.345 € brutto
(1.035,85 € netto). Die Klägerin zu 2. erzielte Einkommen aus einer Tätigkeit bei der M. GmbH in Höhe von 925 € brutto (741,61
€ netto). Der Zufluss erfolgte jeweils im Folgemonat. Der Kläger zu 4. erhielt Kindergeld in Höhe von 204 €.
Mit Bescheid vom 26. Oktober 2018 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 24. November 2018 und 4. April 2019 gewährte der
Beklagte den Klägern für den Zeitraum von November 2018 bis Oktober 2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Aufgrund
der Kindergelderhöhung gewährte der Beklagte den Klägern mit Änderungsbescheid vom 1. Juni 2019 für die Zeit von Juli bis
Oktober 2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 704,40 €. Dabei berücksichtigte er im Rahmen
seiner Leistungsberechnung Erwerbseinkommen der Kläger zu 1. und 2. sowie Kindergeld des Klägers zu 4. in Höhe von monatlich
204 €. Dagegen erhoben die Kläger unter dem 21. Juni 2019 Widerspruch.
Nach Erhöhung des Einkommens der Klägerin zu 2. hob der Beklagte mit Bescheid vom 1. Juli 2019 die Leistungen der Kläger ab
August 2019 wegen Wegfall der Hilfebedürftigkeit auf und gewährte ihnen mit Bescheid vom gleichen Tag für die Zeit von August
bis Oktober 2019 vorläufig Leistungen in Höhe von monatlich 597,75 € unter Berücksichtigung des voraussichtlichen Einkommens
der Kläger zu 1. und 2. und des Kindergelds des Klägers zu 4. von monatlich 204 €.
Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 2019 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger als unbegründet zurück.
Dagegen haben die Kläger am 16. Juli 2019 Klage vor dem SG Dessau-Roßlau erhoben und zur Begründung vorgetragen: Die Familienkasse
Sachsen-Anhalt-Thüringen habe die Kindergeldzahlung des Klägers zu 3. für die Zeit von Juli 2016 bis Februar 2017 aufgehoben
und die Kläger zur Erstattung von 1.572 € aufgefordert. Die Klägerin zu 2. habe mit der Familienkasse eine Ratenzahlungsvereinbarung
in Höhe von 50 € monatlich ab August 2017 vereinbart. Da eine Berücksichtigung der Aufhebung des als Einkommen bereits angerechneten
Kindergelds im Zeitraum Juli 2016 bis Februar 2017 nicht mehr möglich sei, müsse nunmehr im Rahmen der Einkommensanrechnung
die entsprechende Ratenzahlung an die Familienkasse in Höhe von monatlich 50 € berücksichtigt werden.
Mit Urteil vom 9. September 2020 hat das SG die Klage abgewiesen: Der monatliche Betrag von 50 € sei nicht vom Einkommen abzusetzen gewesen. Freiwillige Zahlungen zur
Tilgung von Schulden könnten nicht vom Einkommen abgesetzt werden (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 19. September
2008, B 14/7b AS 10/07 R). Bei den Ratenzahlungen an die Familienkasse Sachsen-Anhalt-Thüringen handele es sich um freiwillige Zahlungen zur Tilgung
von Schulden hinsichtlich der Kindergelderstattung. Auch das monatlich zufließende Kindergeld sei nicht um den Betrag von
50 € aus der Ratenzahlungsvereinbarung zu vermindern gewesen, da das zufließende Kindergeld andere Zeiträume betreffe als
die jeweilige Ratenzahlung.
Unter dem 5. Oktober 2020 haben die Kläger wegen der Nichtzulassung der Berufung in dem ihnen am 23. September 2020 zugestellten
Urteil Beschwerde beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt erhoben: Die Angelegenheit sei von grundsätzlicher Bedeutung.
Die streitige Rechtsfrage der Anrechenbarkeit nicht zugeflossenen Kindergelds betreffe nicht nur den vorliegenden Einzelfall,
sondern stelle sich als allgemein klärungsbedürftig dar. Es gehe nicht um die Absetzung eines Betrags von 50 €. Vielmehr sei
das Kindergeld vermindert um einen Betrag von 50 € ausgezahlt worden. Es gehe um den Zufluss eines verminderten Kindergeldbetrags.
Nur das tatsächlich zugeflossene Einkommen sei zu berücksichtigen. Zugleich begehren die Kläger für das Beschwerdeverfahren
die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
Die Kläger beantragen nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 9. September 2020 zuzulassen, das Berufungsverfahren durchzuführen
und ihnen Prozesskostenhilfe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten
ergänzend Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Beratung des Senats gewesen.
II.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung ist zulässig. Insbesondere ist die Beschwerdefrist von einem Monat gemäß
§
145 Abs.
1 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) gewahrt.
Sie ist jedoch unbegründet. Nachdem die Berufung aufgrund des Streitgegenstands nicht bereits gesetzlich eröffnet ist (hierzu
unter 1.), hat das SG die Berufung gegen das Urteil vom 9. September 2020 zu Recht nicht zugelassen, weil keiner der gesetzlichen Zulassungsgründe
(hierzu unter 2.) vorliegt.
1.
Ohne Zulassung ist die Berufung bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten
Verwaltungsakt betrifft, nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands den Betrag von 750 € übersteigt. Die hier begehrten
weiteren Leistungen in Höhe von 150 € überschreiten nicht den Wert von 750 €.
Da die Klage auch keine wiederkehrenden oder laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft, hätte die Berufung der Zulassung
durch das SG bedurft.
2.
Ist die Berufung nicht bereits gesetzlich eröffnet, ist sie gemäß §
144 Abs.
2 SGG zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr.
1), das Urteil von einer Entscheidung des LSG, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des
Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts
unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr.3).
a) Der Entscheidung in der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Eine grundsätzliche Bedeutung liegt vor, wenn
ein Verfahren bisher nicht geklärte, aber klärungsbedürftige und -fähige Rechtsfragen aufwirft, deren Klärung im allgemeinen
Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
Kommentar zum
SGG, 13. Auflage 2020, §
144 Rn. 28). Klärungsfähigkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn es auf die als grundsätzlich angesehene Rechtsfrage im konkreten
Rechtsfall ankommt, wenn sie also für den zu entscheidenden Streitfall rechtserheblich ist. Nicht klärungsbedürftig ist die
Rechtsfrage, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, weil sie sich beispielsweise unmittelbar aus dem Gesetz ergibt
oder sie bereits höchstrichterlich geklärt ist (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Dezember 2014, L 1 KR 318/14 NZB, juris). Ungeklärte Rechtsfragen sind weder von den Beteiligten aufgeworfen noch aus dem Inhalt der Verfahrensakten für
den Senat ersichtlich.
Wie das SG bereits ausgeführt hat, sind die rechtlichen Maßgaben zur Schuldentilgung bei der Einkommensanrechnung bereits hinreichend
geklärt. Hierzu hat das BSG mehrfach entschieden, im Zeitpunkt der Auszahlung des Einkommens offene Schulden bzw. Verbindlichkeiten sind nicht vom Einkommen
abzusetzen (vgl. BSG, Urteil vom 19. September 2008, B 14/7b AS 10/07 R, Urteil vom 30. September 2008, B 4 AS 29/07 R, Urteil vom 22. März 2012, B 4 AS 139/11 R, juris).
Soweit die Kläger vortragen, sie hätten die Raten von 50 € nicht auf das angegebene Konto der Bundesagentur für Arbeit überwiesen,
sondern die Familienkasse habe ihnen monatlich ein um 50 € vermindertes Kindergeld von 154 € ausgezahlt, erscheint dies ab
August 2019 bereits fraglich, da die Ratenzahlungsvereinbarung nur bis zum 28. Juli 2019 befristet war. Aber selbst wenn im
streitigen Zeitraum vermindertes Kindergeld gezahlt worden ist, führt dies rechtlich zu keiner anderen Bewertung. Denn auch
dann handelt es sich bei der Vereinbarung bzw. Zustimmung zu einer solchen Verrechnung um eine rechtliche Verfügung der Kläger
über ihr Einkommen. Auch die Verrechnung von Schulden mit Einkommen bewirkt beim Leistungsempfänger einen "wertmäßigen Zuwachs",
weil sie wegen der damit verbundenen Schuldbefreiung oder Verringerung anderweitiger Verbindlichkeiten aus der Vergangenheit
oder Zukunft einen bestimmten, in Geld ausdrückbaren wirtschaftlichen Wert besitzt (siehe BSG, Urteil vom 29. Juni 1994, 1 RK 45/93 zur Aufrechnung mit Arbeitsentgeltansprüchen; Urteil vom 10. Mai 2011, B 4 KG 1/10 R zu gepfändeten Einkommensteilen; Urteil vom 22. März 2012, B 4 AS 139/11 R zu einem vom Vermieter verrechneten Betriebs- und Heizkostenguthaben mit Mietzahlungen; juris). Die in einem zweiten Schritt
zu prüfenden rechtlichen Maßgaben des bereiten Mittels sind ebenfalls höchstrichterlich geklärt. So hat das BSG bereits entschieden, nur bei fehlender „tatsächlicher Verfügungsgewalt“ scheidet eine Einkommensanrechnung ausnahmsweise
aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2012, B 4 AS 132/11 R, juris Rn. 22). Die Ratenzahlungsvereinbarung bzw. Verrechnung des Kindergelds unterlag jedoch der Disposition der Kläger.
b) Das SG weicht mit seiner Entscheidung auch nicht von der Rechtsprechung der in §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG genannten Gerichte ab (Divergenz). Divergenz ist anzunehmen, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen
zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das SG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhanden abstrakten Rechtssatz der in §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG genannten Gerichte aufgestellt hat. Solche Rechtssätze hat das SG nicht aufgestellt.
c) Schließlich haben die Kläger keinen beachtlichen Verfahrensmangel im Sinne des §
144 Abs.
2 Nr.
3 SGG gerügt. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift zum Ablauf des sozialgerichtlichen Verfahrens, deren Inhalt
zwingend zu beachten ist. Insofern kann die Beschwerde nicht auf einen sachlichen bzw. inhaltlichen Mangel der Entscheidung,
sondern nur auf das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg dorthin gestützt werden. Bei der Beurteilung, ob ein die
Zulassung der Berufung rechtfertigender Verfahrensmangel unterlaufen ist, muss von der Rechtsauffassung des SG ausgegangen werden (zum Vorstehenden vgl. Leitherer a.a.O. § 144 Rn. 32 f.).
Allein der Vortrag der Kläger, es gehe nicht um die Absetzung von Einkommen, sondern um die Berücksichtigung des tatsächlichen
Einkommens, enthält keine Rüge der fehlenden Aufklärung der Umstände der Verrechnung im Sinne eines Verstoßes gegen die Amtsermittlungspflicht
(§
103 SGG). Vielmehr wird allein eine andere rechtliche Beurteilung begehrt.
Die von den Klägern letztlich geltend gemachte Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall stellt allenfalls einen Rechtsanwendungsfehler
dar, der im Rahmen von §
144 Abs.
2 SGG unbeachtlich ist.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
4.
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe war abzulehnen. Nach §
73a Abs.
1 SGG in Verbindung mit den §§
114 ff.
Zivilprozessordnung ist auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, soweit ein Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen
die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung
oder -verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Aus den oben genannten Gründen hat
die Beschwerde keine Erfolgsaussichten.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§
177 SGG).