Angelegenheiten nach dem SGB II (AS) - Zur Divergenz und zur grundsätzlichen Bedeutung iSv § 144 Abs 2 SGG bei Ansprüchen nach § § 28 Abs 7 SGB II
Gründe
I.
Der Kläger und Beschwerdeführer (im Weiteren: Kläger) begehrt die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts
Halle (SG) und die Durchführung des Berufungsverfahrens. In der Sache begehrt er die Erstattung von Fahrkosten als Teilhabeleistung.
Der 2002 geborene Kläger bezog gemeinsam mit seinen Eltern von dem Beklagten und Beschwerdegegner (im Weiteren: Beklagter)
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II).
Am 9. April 2018 beantragte der Vater und gesetzliche Vertreter des damals minderjährigen Klägers für diesen Leistungen zur
Teilhabe und Bildung für dessen Teilnahme im Schwimmverein, bei der Wasserwacht und im Tauchsportverein in Höhe von insgesamt
12 € monatlich im Zeitraum von Mai bis Juli 2018 und in Höhe von insgesamt 14,50 € monatlich im Zeitraum von August bis Oktober
2018.
Mit Bescheid vom 7. Mai 2018 gewährte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft des Klägers vorläufig Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts und dem Kläger zusätzlich für den Zeitraum von Mai bis Oktober 2018 Leistungen zur Bildung und Teilhabe
in Höhe von monatlich jeweils 10 €.
Den dagegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2018 zurück: Dem Kläger sei bereits
der Maximalbetrag von 10 € monatlich nach § 28 Abs. 7 SGB II gewährt worden.
Dagegen hat der Kläger, vertreten durch seinen Vater, am 30. Juli 2018 Klage erhoben und vorgetragen, es gehe ihm um die Erstattung
weiterer Mitgliedsbeiträge. Unter dem 21. Dezember 2018 hat der Kläger seine Klage erweitert und nunmehr die tatsächlichen
Aufwendungen, wie Ausrüstungskosten und Fahrkosten zu den Orten der Vereinstätigkeiten begehrt. Er beziehe sich auf das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23. Juli 2014 (1 BvL 10/12). Ausweislich der beigefügten Auflistung seien im Jahr 2018 Vereinsbeiträge und Fahrkosten in Höhe von 392 € sowie zusätzliche
Kosten in Höhe von 219,61 € (tauchsportärztliche Untersuchung, Jugendfeuerwehrlager DRK, Landesjugendlager THW, THW Jugendfahrt
und Sportschwimmerhose) entstanden. Es sei ihm nicht möglich, die Kosten aus dem Regelbedarf zu bestreiten bzw. anzusparen.
Mit Bescheid vom 22. Mai 2019 hat der Beklagte die Leistungen für den Zeitraum von Mai bis Oktober 2018 endgültig festgesetzt.
In der mündlichen Verhandlung vom 29. Oktober 2020 haben der Kläger und sein Vater als Bevollmächtigter den Streitgegenstand
auf die Fahrkosten für die Fahrten von der Wohnung bis zum Schwimmbad B. beschränkt, die Gewährung weiterer 58,80 € beantragt
und die Klage im Übrigen zurückgenommen.
Mit Urteil vom 29. Oktober 2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Ein Anspruch auf Erstattung von Fahrkosten für 35 Hin- und Rückfahrten vom Wohnsitz des Klägers zur
Schwimmhalle B. nach § 28 Abs. 7 SGB II (in der Fassung vom 22. Dezember 2016) bestehe nicht. Zwar habe das BVerfG in seiner Entscheidung vom 23. Juli 2014 zur Vorgängervorschrift
einen Anspruch auf Erstattung von Fahrkosten formuliert. Hierfür fehle es jedoch an einer rechtzeigen Antragstellung. Der
Kläger habe den Antrag auf Fahrkosten zu keiner Zeit während des streitigen Bewilligungszeitraums gestellt. Vielmehr habe
er ursprünglich nur weitere Mitgliedsbeiträge geltend gemacht. Die erstmalige Geltendmachung im Klageverfahren genüge nicht
der Antragstellung nach § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §
67 SGG komme nicht in Betracht, da hiervon nur das schuldlose Versäumnis einer gesetzlichen Frist des Prozessrechts erfasst sei.
Das SG hat im Urteil die Berufung nicht zugelassen.
Gegen das ihm am 20. November 2020 zugestellte Urteil hat der Kläger am 1. Dezember 2020 Nichtzulassungsbeschwerde beim Landessozialgericht
(LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt und zur Begründung vorgetragen: Er gehe davon aus, die Rechtssache habe grundlegende Bedeutung.
Zudem weiche das Urteil von der Entscheidung des BVerfG vom 23. Juli 2014 ab. Ihm sei die Möglichkeit der Beantragung von
Fahrkosten damals nicht bekannt gewesen, so dass er dies auch nicht habe beantragen können. Der Streitwert der eingereichten
Klagen habe 750 € überschritten, sei vom SG jedoch „heruntergehandelt“ worden. Auf die Folgen der teilweisen Klagerücknahme habe das SG nicht hingewiesen.
Die Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 29. Oktober 2020 zuzulassen und das Berufungsverfahren durchzuführen.
Der Beklagte beantragt,
die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
Er meint, es lägen keine Gründe für eine Berufungszulassung vor. Klärungsbedürftige Rechtsfragen seien nicht aufgeworfen worden.
Ein Verfahrensfehler liege nicht vor. Das Fehlen einer Ermessensprüfung durch das SG betreffe den sachlichen Inhalt der Entscheidung und nicht das prozessuale Vorgehen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte ergänzend Bezug genommen, die Gegenstand
der Entscheidungsfindung des Senats gewesen ist.
II.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß §
145 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingelegt worden.
Sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Berufung gegen das Urteil vom 29. Oktober 2020 zu Recht nicht zugelassen.
Nachdem die Berufung aufgrund des Streitgegenstands nicht bereits gesetzlich eröffnet ist (hierzu unter 1.), hat das SG die Berufung gegen das Urteil vom 29. Oktober 2020 zu Recht nicht zugelassen, weil keiner der gesetzlichen Zulassungsgründe
(hierzu unter 2.) vorliegt.
1.
Gemäß §
144 Abs.
1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung im Urteil des SG, wenn der Wert des Streitgegenstands bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt
betrifft, 750 € nicht übersteigt. Der Kläger hat ausdrücklich beantragt, ihm Fahrkosten in Höhe von 58,80 € zu gewähren. Damit
ist die Beschwerdewertgrenze nicht erreicht.
Da die Klage auch keine wiederkehrenden oder laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft, hätte die Berufung der Zulassung
durch das SG bedurft.
2.
Ist die Berufung nicht bereits gesetzlich eröffnet, ist sie gemäß §
144 Abs.
2 SGG zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr.
1), das Urteil von einer Entscheidung des LSG, des Bundessozialgerichts (BSG), des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr.
2) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem
die Entscheidung beruhen kann (Nr.3).
a) Der Entscheidung in der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Eine grundsätzliche Bedeutung liegt vor, wenn
ein Verfahren bisher nicht geklärte, aber klärungsbedürftige und -fähige Rechtsfragen aufwirft, deren Klärung im allgemeinen
Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
Kommentar zum
SGG, 13. Auflage 2020, §
144 Rn. 28). Insoweit genügt ein Individualinteresse nicht. Ausgeschlossen von der Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung
sind damit Streitigkeiten, die ausschließlich die Interessen der an ihnen unmittelbar oder mittelbar Beteiligten berühren.
Ungeklärte Rechtsfragen sind weder von den Beteiligten aufgeworfen noch für den Senat aus dem Inhalt der Verfahrensakten ersichtlich.
Vielmehr ist hier eine Einzelfallentscheidung hinsichtlich der Anforderungen an eine rechtzeitige Antragstellung für Leistungen
nach § 28 Abs. 7 SGB II streitig.
b) Das SG weicht mit seiner Entscheidung auch nicht von der Rechtsprechung der in §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG genannten Gerichte ab (Divergenz). Der Zulassungsgrund liegt nur dann vor, wenn das Urteil des SG entscheidungstragend auf einem abstrakten Rechtssatz beruht, der von dem zur gleichen Rechtsfrage aufgestellten Rechtssatz
in einer Entscheidung eines der in §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG genannten Gerichte abweicht. Das SG müsste daher objektiv von einer höhergerichtlichen Entscheidung abgewichen sein.
Das Urteil des SG weicht nicht von der Entscheidung des BVerfG vom 23. Juli 2014 (1 BvL 10/12, juris Rn. 132, 148) ab. Zwar hat das BVerfG in dieser Entscheidung ausgeführt, § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass hinsichtlich der Erstattung von Fahrkosten eine Ermessensreduzierung
auf Null vorliege, so dass ein Anspruch darauf bestehe. Einen damit widersprechenden Rechtssatz hat das SG jedoch nicht aufgestellt. Vielmehr hat das SG diesen Rechtssatz seiner Entscheidung vorangestellt. Es hat seine Entscheidung allein auf die aus seiner Sicht fehlende Antragstellung
gestützt. Über Einzelheiten zur Antragstellung hat das BVerfG allerdings nicht entschieden, so dass das SG keinen abweichenden Rechtssatz zur zitierten Entscheidung des BVerfG aufgestellt hat.
c) Schließlich hat der Kläger keinen beachtlichen Verfahrensmangel im Sinne des §
144 Abs.
2 Nr.
3 SGG gerügt. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift zum Ablauf des sozialgerichtlichen Verfahrens, deren Inhalt
zwingend zu beachten ist. Insofern kann die Beschwerde nicht auf einen sachlichen bzw. inhaltlichen Mangel der Entscheidung,
sondern nur auf das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg dorthin gestützt werden. Bei der Beurteilung, ob ein die
Zulassung der Berufung rechtfertigender Verfahrensmangel unterlaufen ist, muss von der Rechtsauffassung des SG ausgegangen werden (zum Vorstehenden vgl. Leitherer a.a.O. § 144 Rn. 32 f.).
Der gerügte Umstand, das Gericht habe sich mit den „nachvollziehbaren Fahrkosten bei teilweiser Klagerücknahme anfreunden
können“ und nicht auf die Folgen der Klagerücknahme bei Unterschreiten des Streitwerts von 750 € hingewiesen, begründet keinen
Verfahrensfehler. Ausweislich der Sitzungsniederschrift über die mündliche Verhandlung vom 29. Oktober 2020 hat der Kläger
im Beisein seines Bevollmächtigten die Klage ausdrücklich auf die Fahrkosten von der Wohnung bis zum Schwimmbad B. beschränkt
und die Klage im Übrigen zurückgenommen. Darüber hinaus haben auch die ursprünglich geltend gemachten Kosten nach der im Klageverfahren
eingereichten Auflistung für das Jahr 2018 den Wert von 750 € nicht überschritten. Insoweit greift die gerügte Hinweispflichtverletzung
durch das SG nicht.
Die vom Kläger letztlich geltend gemachte Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall stellt allenfalls einen Rechtsanwendungsfehler
dar, der im Rahmen von §
144 Abs.
2 SGG unbeachtlich ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§
177 SGG).