Weitergewährung einer befristeten Erwerbsminderungsrente
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Anspruch auf rechtliches Gehör
Recht auf Anhörung gerichtlicher Sachverständiger
Sachdienlichkeit von Fragen
Gründe
I
Die Klägerin begehrt die Weitergewährung ihrer bis zum 30.6.2016 befristeten Erwerbsminderungsrente.
Ihre gegen den Bescheid der Beklagten vom 8.4.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.7.2016 gerichtete Klage hat
das SG abgewiesen (Urteil vom 25.2.2019). Das LSG hat im dagegen von der Klägerin angestrengten Berufungsverfahren ein Gutachten der Chirurgin D eingeholt. Nach deren
Einschätzung kann die Klägerin, bei der seit 2001 eine Blutgerinnungsstörung bekannt ist und die 2011 eine Gehirnhautblutung
erlitt, körperlich leichte Tätigkeiten unter Beachtung verschiedener qualitativer Einschränkungen noch mindestens sechs Stunden
täglich verrichten (Gutachten vom 6.10.2020). Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 9.11.2020 zum Gutachten Stellung genommen. Zugleich hat sie beantragt, die Sachverständige
in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG zu verschiedenen von ihr aufgeworfenen Fragen zu hören. Sie hat diesen Antrag in
der mündlichen Verhandlung vom 22.2.2021 wiederholt. Das LSG ist dem nicht gefolgt und hat die Berufung mit Urteil vom selben
Tag zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin sei seit dem 1.7.2016 nicht (mehr) erwerbsgemindert. Die
ergänzenden Ermittlungen im Berufungsverfahren hätten die vom SG vorgenommene Leistungsbeurteilung bestätigt. Dem Antrag auf Anhörung der Sachverständigen D sei nicht zu entsprechen gewesen.
Eine Ladung nach §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
411 Abs
3 ZPO sei nicht veranlasst, weil das Sachverständigengutachten keinen Erläuterungsbedarf aufweise. Ebenso wenig sei die Sachverständige
zur Gewährung des Fragerechts aus §
116 Satz 2, §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §§
397,
402,
411 Abs
4 ZPO zu laden. Dies setze konkrete Fragen und Einwendungen voraus, die von der Klägerin nicht benannt worden seien. Die Sachverständige
habe sämtliche Unterlagen berücksichtigt, eine aktuelle Anamnese erhoben und die Klägerin eingehend ambulant untersucht. Auf
dieser Grundlage habe sie die maßgeblichen Beweisfragen umfassend beantwortet; ein Erläuterungsbedarf bestehe nicht, ebenso
wenig wie weitergehende Fragen.
Die Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung Beschwerde zum BSG eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom 23.4.2021 begründet hat. Sie macht als Verfahrensmangel eine Verletzung ihres Anspruchs
auf rechtliches Gehör in Form einer Missachtung ihres Fragerechts aus §
116 Satz 2, §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §§
397,
402,
411 Abs
4 ZPO geltend.
II
1. Nach Schließung des 13. Senats zum 1.7.2021 durch Erlass des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 24.6.2021 (vgl §
202 Satz 1
SGG iVm §
130 Abs
1 Satz 2
GVG) ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des BSG nunmehr der 5. Senat zuständig.
2. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Der von ihr noch formgerecht (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG) gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Der Senat macht zur Verfahrensbeschleunigung von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene
Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§
160a Abs
5 SGG).
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst grundsätzlich auch das Recht auf Anhörung gerichtlicher Sachverständiger (aus der verfassungsgerichtlichen Rspr zuletzt BVerfG <Kammer> Beschluss vom 2.5.2018 - 1 BvR 2420/15 - juris RdNr 3 mwN). Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG, dass unabhängig von der nach §
411 Abs
3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen
anzuordnen, jedem Beteiligten gemäß §
116 Satz 2
SGG, §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §§
397,
402,
411 Abs
4 ZPO das Recht zusteht, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich
erachtet (vgl aus jüngerer Zeit etwa BSG Beschluss vom 16.10.2019 - B 13 R 153/18 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 20.5.2020 - B 5 R 298/19 B - juris RdNr 12, jeweils mwN). Beim Fragerecht nach §
116 Satz 2
SGG steht ein anderes Ziel im Vordergrund als bei der Rückfrage an den Sachverständigen nach §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
411 Abs
3 ZPO. Letztere dient in erster Linie der Sachaufklärung und nicht der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl BSG Beschluss vom 27.11.2007 - B 5a/5 R 60/07 B - SozR 4-1500 §
116 Nr 1 RdNr 11 mwN). Das Fragerecht nach §
116 Satz 2
SGG soll dem Antragsteller hingegen erlauben, im Rahmen des Beweisthemas aus seiner Sicht unverständliche, unvollständige oder
widersprüchliche Ausführungen eines Sachverständigen zu hinterfragen, um auf das Verfahren Einfluss nehmen und die Grundlagen
der gerichtlichen Entscheidung verstehen zu können (BSG Beschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - juris RdNr 14; BSG Beschluss vom 23.6.2016 - B 3 P 1/16 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 27.9.2018 - B 9 V 14/18 B - juris RdNr 13).
Sachdienlich iS von §
116 Satz 2
SGG sind Fragen, wenn sie sich im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet sind (BSG Beschluss vom 24.6.2020 - B 9 SB 79/19 B - juris RdNr
6). Das Fragerecht nach §
116 Satz 2
SGG bzw §
411 Abs
4 ZPO erfordert allerdings nicht die Formulierung von Fragen. Es reicht aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret
zu bezeichnen, zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen (vgl aus jüngerer Zeit etwa BSG Beschluss vom 16.10.2019 - B 13 R 153/18 B - juris RdNr 10). Solche Einwendungen sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (§
411 Abs
4 Satz 1
ZPO). Ferner darf der Antrag auf Erläuterung eines Sachverständigengutachtens nicht rechtsmissbräuchlich gestellt sein (vgl hierzu bereits BVerfG Beschluss vom 29.8.1995 - 2 BvR 175/95 - NJW-RR 1996, 183 = juris RdNr 29 mwN; aus jüngerer Zeit zB BSG Beschluss vom 16.10.2019 - B 13 R 153/18 B - juris RdNr 11). Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren
Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen
zu erreichen. Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen
Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören, und er schriftlich sachdienliche Fragen im oben dargelegten
Sinn angekündigt hat (BSG Beschluss vom 20.5.2020 - B 5 R 298/19 B - juris RdNr 12; vgl BVerfG Beschluss vom 29.8.1995 - 2 BvR 175/95 - NJW-RR 1996, 183 = juris RdNr 29 mwN).
Liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht grundsätzlich dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt. Dies
gilt auch dann, wenn das Gutachten nach Auffassung des Gerichts ausreichend und überzeugend ist und keiner Erläuterung bedarf
(BSG Beschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - juris RdNr 15; BSG Beschluss vom 27.9.2018 - B 9 V 14/18 B - juris RdNr 14; BSG Beschluss vom 14.3.2019 - B 5 R 22/18 B - juris RdNr 34). Übergeht ein Gericht einen anforderungsgemäßen Antrag auf Erläuterung eines Sachverständigengutachtens völlig oder kommt
ihm allein deshalb nicht nach, weil das Gutachten ihm überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint, so liegt
darin ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör (BVerfG <Kammer> Beschluss vom 2.5.2018 - 1 BvR 2420/15 - juris RdNr 4).
b) Gemessen an diesem Maßstab durfte das LSG nicht von einer mündlichen oder schriftlichen Erläuterung des Gutachtens vom
6.10.2020 durch die Sachverständige D absehen (vgl dazu, dass gesetzlich keine Form für die Befragung vorgeschrieben ist, zB BSG Beschluss vom 24.2.2021 - B 13 R 37/20 B - juris RdNr 12).
Die Klägerin hat nach Erhalt des Gutachtens vom 6.10.2020 einen Antrag auf Anhörung dieser Sachverständigen innerhalb der
vom LSG gesetzten Stellungnahmefrist mit Schriftsatz vom 9.11.2020 gestellt. Sie hat verschiedene zu erläuternde Punkte benannt
und dazu Fragen gestellt. So hat sie herausgestellt, dass die Sachverständige zwar mit Blick auf die bestehenden Erkrankungen
des Herz-Kreislauf- und des Gefäßsystems Tätigkeiten im Akkord, am Fließband, mit regelhafter Nachtschichtarbeit oder der
Notwendigkeit des Hebens und Tragens schwerer Lasten ausschließe, insbesondere wenn sie zur Erhöhung des intraabdominalen
Drucks führen können. Gleichwohl halte die Sachverständige leichte körperliche Tätigkeiten mit weiteren qualitativen Einschränkungen
im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich für gesundheitlich zumutbar. Hierzu hat die Klägerin die Frage aufgeworfen,
woraus die Sachverständige dies ableite und ob sie nicht doch von einem plötzlichen und sich ggf nicht ankündigenden Anfallsleiden
ausgehe. Weiter hat die Klägerin gefragt, ob die Vermeidung von Tätigkeiten, die den intraabdominalen Druck erhöhen können,
nicht auch den Ausschluss von Arbeiten unter physischer und psychischer Anspannung verlange. Die Klägerin hat zudem gefragt,
woraus die Sachverständige schließe, dass angesichts der bestehenden Gefäßleiden intraabdominaler Druck zu vermeiden sei,
wenn sie gleichzeitig dem zuvor eingeholten Gutachten des Neurologen B vom 6.5.2020 entnehme, dass sämtliche Nachuntersuchungen
nach der Aneurysmabildung keine leistungseinschränkenden Befunde ergeben hätten. Die Klägerin hat als weiteren erläuterungsbedürftigen
Punkt benannt, dass die Sachverständige sich bei der Diagnose einer Gerinnungsstörung ohne wesentliche Leistungseinschränkungen
auf ein mehr als 15 Jahre altes Gutachten aus einem Verfahren des Schwerbehindertenrechts bezogen habe.
Jedenfalls die mit diesen beiden Punkten im Zusammenhang stehenden Fragen sind bei der insoweit gebotenen weiten Betrachtungsweise
(vgl Bergner in jurisPK-
SGG, 1. Aufl 2017, §
116 RdNr 23; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
116 RdNr 5) sachdienlich. Die Klägerin zielt damit zum einen erkennbar darauf ab, näher erläutert zu bekommen, aufgrund welcher Befunde
die Sachverständige D Tätigkeiten ausschließe, die den intraabdominalen Druck erhöhen können, und warum die Sachverständige
dazu konkret (nur) Tätigkeiten im Akkord, am Fließband, mit regelhafter Nachtschichtarbeit oder der Notwendigkeit des Hebens
und Tragens schwerer Lasten zähle. Im Gutachten vom 6.10.2020 heißt es hierzu lediglich zusammenfassend, diese Tätigkeiten
sollten "(a)us Gründen der Veränderungen von Seiten des Herz-Kreislaufsystems / des Gefäßsystems" nicht mehr abverlangt werden.
Zum anderen möchte die Klägerin die Sachverständige D offensichtlich näher zur Aktualität der Leistungseinschränkungen befragen,
die aus den vor 15 Jahren diagnostizierten Gerinnungsstörungen folgen.
c) Auf dem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses das von ihm bei
der Entscheidungsfindung maßgeblich herangezogene Gutachten der Sachverständigen D im Fall einer Erläuterung zu den von der
Klägerin genannten Punkten anders gewürdigt oder zumindest eine weitere Sachaufklärung für notwendig gehalten hätte.
3. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.