Persönliche Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Die 1964 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war mit Unterbrechungen ua wegen Zeiten der Kindererziehung und Arbeitslosigkeit
im Wesentlichen von August 1980 bis Juli 1982 als Fleisch- und Wurstverkäuferin, 1983 als Altenpflegehelferin, 1989 als Bestückerin,
von 1989 bis 1991 als Fleisch- und Wurstverkäuferin, von Ende 1999 bis Februar 2002 als Taxifahrerin und schließlich von März
2002 bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit im September 2002 als Altenpflegehelferin beschäftigt.
Im Oktober/November 2002 und im April 2003 befand sich die Klägerin im Reha-Zentrum Bad Eilsen zur stationären Rehabilitation.
Nach dem Entlassungsbericht vom 7. Mai 2003 ist sie in dem letzten Beruf als Altenpflegehelferin drei bis sechs Stunden einsetzbar;
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kann sie leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen, Gehen,
ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Heben und Tragen sowie ohne sonstige häufige Zwangshaltungen der Wirbelsäule vollschichtig
verrichten.
Ihren am 8. Mai 2003 gestellten Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben lehnte die Beklagte mit Bescheid
vom 20. Mai 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 2003 ab, da die Klägerin noch in der Lage sei, leichte
bis mittelschwere Arbeiten mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Dass sie die Tätigkeit
einer Altenpflegehelferin nicht weiter ausüben könne, sei auf Grund ihres beruflichen Werdegangs unerheblich. Die Klägerin
sei mit ihrem Leistungsvermögen auch ohne Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in der Lage, einer Erwerbstätigkeit
nachzugehen.
Das Sozialgericht Lüneburg hat die Beklagte mit Urteil vom 27. Mai 2004 verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Das Landessozialgericht Niedersachen-Bremen (LSG) hat mit Urteil
vom 3. März 2005 in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Beklagte verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Gewährung
einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Zur Begründung
hat es im Wesentlichen ausgeführt: Abgesehen davon, dass die Beklagte wegen des ihr zustehenden Ermessensspielraums lediglich
zur Neubescheidung verpflichtet werden könne, sei die Berufung nicht begründet. Gemäß §
9 Abs
2 iVm Abs
1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) könnten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen
dafür erfüllt seien. Die in §
11 SGB VI genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien gegeben, ein Ausschlusstatbestand iS des §
12 Abs
1 SGB VI liege nicht vor. Ebenso seien die in §
10 Abs
1 SGB VI geregelten persönlichen Voraussetzungen erfüllt. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei iS von §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI durch Krankheit gemindert. Erwerbsfähigkeit sei als Fähigkeit zu verstehen, seinen bisherigen Beruf oder eine seiner Eignung,
Neigung und bisherigen Tätigkeit angemessene Erwerbs- oder Berufstätigkeit dauernd auszuüben. Dagegen komme es nicht auf die
Voraussetzungen rentenrechtlicher Vorschriften an. Eine Leistung zur Teilhabe könne daher entgegen der Auffassung der Beklagten
nicht mit der Begründung versagt werden, der Versicherte sei noch in der Lage, eine zumutbare Verweisungstätigkeit zu verrichten.
Das Leistungsvermögen der Klägerin für ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Altenpflegehelferin und auch für die zuvor verrichtete
Tätigkeit als Taxifahrerin sei nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. R. wesentlich eingeschränkt. Die weitere Voraussetzung
des §
10 Abs
1 Nr
2 Buchst b
SGB VI sei ebenfalls erfüllt. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin könne durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben voraussichtlich
wesentlich gebessert oder wieder hergestellt werden. Der Senat halte es in Anbetracht dessen, dass die Klägerin erst 40 Jahre
alt sei und stark motiviert scheine, für wahrscheinlich, dass ihr bei gleichbleibendem Gesundheitszustand mit einer geeigneten
Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben Möglichkeiten eröffnet werden könnten, wieder in vollem Umfang dauerhaft einer Erwerbstätigkeit
nachzugehen. Die Beklagte sei nunmehr verpflichtet, ihr Ermessen zur Frage, welche Leistung nach Art, Dauer und Umfang gewährt
werde, auszuüben und die Klägerin dann neu zu bescheiden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte sinngemäß eine Verletzung des §
10 SGB VI und führt hierzu im Wesentlichen aus: Bei Versicherten, die während ihres Berufslebens verschiedene Hilfsarbeiter- bzw Helfertätigkeiten
ausgeübt hätten, könne Anknüpfungspunkt für die Frage, ob die persönlichen Voraussetzungen des §
10 SGB VI erfüllt seien, nur der allgemeine Arbeitsmarkt sein. Könne wie im Fall der Klägerin eine berufliche Prägung durch ein konkretes
Tätigkeitsbild nicht festgestellt werden, so sei lediglich auf den qualitativen Charakter der zuletzt ausgeübten Tätigkeiten
abzustellen. Dementsprechend seien bei einem ungefestigten Berufsbild die persönlichen Voraussetzungen des §
10 SGB VI nicht erfüllt, wenn der Versicherte noch in der Lage sei, Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als sechs Stunden
täglich auszuüben. In diesem Fall sei die Erwerbsfähigkeit iS des §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI weder erheblich gefährdet noch gemindert. Ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sei damit im Fall der
Klägerin nicht gegeben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 3. März 2005 sowie das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom
27. Mai 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
II. Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG die Beklagte verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf
Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Entgegen der Ansicht der Beklagten sind die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
iS der §§
9 ff
SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 19. Februar 2002 (BGBl I 754) erfüllt.
Gemäß §
9 Abs
2 SGB VI können Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen
dafür gegeben sind. Dabei unterliegt die Entscheidung über die Voraussetzungen, das "ob" der Leistung der uneingeschränkten
gerichtlichen Kontrolle, während das "wie" der Leistung im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten steht (vgl ua BSGE 85, 298, 300 = SozR 3-2600 § 10 Nr 2 S 3 mwN).
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des §
11 SGB VI liegen bei der Klägerin vor, und ein Ausschlussgrund iS des §
12 SGB VI ist nicht verwirklicht; hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.
Die Klägerin erfüllt auch die persönlichen Voraussetzungen des §
10 SGB VI.
Nach §
10 Abs
1 SGB VI haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen erfüllt,
1. deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder
gemindert ist und
2. bei denen voraussichtlich
a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann,
b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben
wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann,
c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann.
Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin aus den in §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI genannten Gründen gemindert ist.
Der Begriff der im Gesetz nicht definierten Erwerbsfähigkeit ist als Fähigkeit des Versicherten zu verstehen, seinen bisherigen
Beruf oder seine bisherige Tätigkeit weiter ausüben zu können. Nicht hingegen sind die Kriterien anwendbar, die für die Erfüllung
der Leistungsvoraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung maßgebend sind. Dies hat der 13. Senat des Bundessozialgerichts
(BSG) mit Urteil vom 29. März 2006 (SozR 4-2600 § 10 Nr 1) zu § 10 Nr 1 in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I 2261) entschieden. Dem schließt sich der erkennende Senat für die Auslegung des lediglich
redaktionell veränderten §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung an.
Entgegen der Ansicht der Rentenversicherungsträger ist das BSG bereits in seiner früheren Rechtsprechung davon ausgegangen,
dass Rehabilitationsleistungen nicht nur den Versicherten zugute kommen, die einen qualifizierten Beruf ausüben, sondern auch
von denjenigen in Anspruch genommen werden können, die in der Rentenversicherung keinen sog Berufsschutz genießen, weil sie
ungelernte Tätigkeiten verrichten. Schon in der grundlegenden Entscheidung zu dem seit 1957 geltenden Rehabilitationsrecht
hat das BSG hervorgehoben, dass § 1236 Abs 1
Reichsversicherungsordnung (
RVO) den Begriff der Erwerbsfähigkeit verwende, wohingegen § 1246
RVO die Berufsunfähigkeit betreffe, und ist ausdrücklich der Auffassung entgegengetreten, die Voraussetzungen für die Minderung
der Erwerbsfähigkeit im rehabilitationsrechtlichen Sinne seien im Lichte der Voraussetzungen eines Rentenanspruchs zu verstehen.
Bereits damals wurde darauf hingewiesen, dass die Vorschriften über den Anspruch auf Rehabilitationsleistungen nicht auf Vorschriften
über die Berufsunfähigkeit Bezug nähmen, sodass die Verweisbarkeit auf eine andere Tätigkeit dem Anspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen
nicht entgegenstehe (BSGE 28, 18, 20 = SozR Nr 4 zu § 1236
RVO Bl Aa4, Aa5R; vgl auch SozR 2200 § 1236 Nr 5 S 9 f mwN zur Änderung durch das ArVNG 1957; § 1236
RVO nF gegenüber § 1310
RVO aF). In späteren Entscheidungen hat das BSG diesen Ansatz immer wieder bekräftigt und insbesondere betont, dass für die Erfüllung
der leistungsrechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Rehabilitation eine Minderung oder Gefährdung der Erwerbsfähigkeit
des Versicherten im bisherigen Beruf oder in der bisherigen Tätigkeit genüge (BSGE 48, 74, 75 = SozR 2200 § 1237a Nr 6 S 8; BSGE 50, 156, 157f = SozR 2200 § 1237 Nr 15 S 19; BSGE 52, 123, 125 f = SozR 2200 § 1237a Nr 19 S 54 f).
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass das BSG jedenfalls in einer Entscheidung die rehabilitationsrechtlich relevante
Minderung der Erwerbsfähigkeit als berufsbezogen aufgefasst und darauf abgestellt hat, ob der Versicherte unabhängig von den
Besonderheiten des gerade innegehaltenen Arbeitsplatzes den typischen Anforderungen des ausgeübten Berufes noch nachkommen
könne (vgl BSG SozR 2200 § 1237a Nr 16 S 39). Das Urteil enthält keinerlei Hinweise darauf, dass es diese Aussage auf Ausbildungsberufe
beschränken wollte; schon deshalb ist fraglich, ob es als Beleg für die Auffassung dienen kann, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit
iS von §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI bei ungelernten Versicherten nach ihrer Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu beurteilen sei. Das Kriterium
der rehabilitationsrechtlich relevanten Minderung der Erwerbsfähigkeit ist - berufsbezogen - grundsätzlich auf Versicherte
in ungelernten Tätigkeiten in gleicher Weise anwendbar wie auf Versicherte in qualifizierten Berufen, denn typische Anforderungsprofile
können nicht nur die Ausübung qualifizierter (Ausbildungs-)Berufe, sondern auch die Verrichtung ungelernter Tätigkeiten prägen.
Letztere haben regelmäßig ebenfalls - losgelöst von einer konkreten Arbeitsstelle - ein bestimmtes Leistungsprofil und beinhalten
damit typische, vom Versicherten zu bewältigende Kernaufgaben und Verrichtungsmerkmale, die sich zwar nicht auf bestimmte
Ausbildungsinhalte beziehen werden, aber durch die konkrete Tätigkeit vorgegeben sind und praktisch erworbene Fähigkeiten,
Fertigkeiten und Kenntnisse verlangen. Hiervon abzugrenzen sind die spezifischen Belastungen und Anforderungen an einem konkreten
Arbeitsplatz, die nicht berufstypisch sind und daher unberücksichtigt bleiben müssen. Auf dieser Grundlage kommt eine Leistung
zur Teilhabe am Arbeitsleben bei dem ungelernten Versicherten ebenso wie bei dem gelernten Versicherten in Betracht, wenn
er den typischen Anforderungen seiner bisherigen Tätigkeit nicht mehr gewachsen ist. Bei dieser Betrachtungsweise wird der
als ungelernter Arbeiter tätige Versicherte entgegen der Befürchtung der Rentenversicherungsträger nicht gegenüber dem gelernten
Versicherten privilegiert; andererseits bleibt ihm ebenfalls der Zugang zu Leistungen zur beruflichen Teilhabe offen.
Die dargelegte bisherige Bedeutung kommt dem Begriff der Erwerbsfähigkeit auch in §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI der hier maßgeblichen Fassung zu.
§
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI verwendet den Begriff Erwerbsfähigkeit, obwohl das Gesetz auch denjenigen der Berufsfähigkeit kennt (s insbesondere §§
45 und
240 SGB VI), sodass der Wortlaut der Norm keine Einschränkung des Anwendungsbereichs auf qualifizierte, einen Berufsschutz auslösende
Tätigkeiten erkennen lässt. Ebenso wenig nimmt §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI Bezug auf §
43 Abs
3 SGB VI, nach dem derjenige nicht erwerbsgemindert ist, der unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens
sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Die fehlende Bezugnahme auf diese Regelung macht deutlich, dass die Frage der
Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit in §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI unabhängig von der etwaigen Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu beurteilen ist und sich damit
auf die Betrachtung seiner bisher ausgeübten Tätigkeit reduziert.
Bestätigung findet dieses Ergebnis durch die Regelungen des §
11 Abs
1 und Abs
2a Nr
1 SGB VI. Nach Abs 1 haben Versicherte die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erfüllt,
die bei Antragstellung die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt haben (Nr 1) oder eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
beziehen (Nr 2). Gemäß Abs 2a Nr 1 werden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben an Versicherte auch erbracht, wenn ohne
diese Leistungen Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten wäre. Das Gesetz knüpft damit lediglich in Abs 1 Nr
2 und Abs 2a Nr 1 den Anspruch auf Teilhabeleistungen an das Vorliegen rentenrechtlicher Voraussetzungen, wohingegen nach
Abs 1 Nr 1 ausschließlich die Erfüllung der 15-jährigen Wartezeit Anspruchsvoraussetzung ist. Hätte der Gesetzgeber den Anspruch
auf Leistungen zur Teilhabe stets davon abhängig machen wollen, dass die Voraussetzungen einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
erfüllt sind, hätte es nahe gelegen, die fraglichen Vorschriften entsprechend zu fassen.
Eine dahin zielende Gesetzesfassung ist ausweislich der Entstehungsgeschichte der Norm auch zunächst erwogen worden. § 11 Abs 2 Nr 1 des Referentenentwurfs eines RRG 1992 bestimmte, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation
erfüllt sind, wenn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und die
Wartezeit von 15 Jahren erfüllt sind (Diskussions- und Referentenentwurf RRG 1992, S 42). Hierdurch sollten berufsfördernde Leistungen auf die Personen beschränkt werden, die von der Rentenversicherung
eine derartige Rente erhalten können und bei denen durch Leistungen zur Rehabilitation eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
abgewendet werden kann (vgl Begründung zum Diskussions- und Referentenentwurf RRG 1992, S 77). Schon §
11 Abs
1 SGB VI idF des RRG 1992 hat jedoch eine derartige Verknüpfung nicht vorgenommen. Diese Entwicklung spricht dafür, dass der Gesetzgeber Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben bei Erfüllung der 15-jährigen Wartezeit von dem Vorliegen rentenrechtlicher Voraussetzungen bewusst
abgekoppelt hat. Da bereits §
11 SGB VI regelt, in welchen Fällen Teilhabeleistungen von rentenrechtlichen Voraussetzungen abhängig bzw unabhängig sind, ist nicht
anzunehmen, dass der Gesetzgeber diese Frage außerdem in §
10 SGB VI habe regeln wollen.
Eine Auslegung des Begriffs Erwerbsfähigkeit in §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI im dargelegten Sinne wird zudem durch die ab 1. Januar 2001 geltenden veränderten rentenrechtlichen Vorschriften gestützt.
Ein besonderer Schutz des erlernten Berufs in Form der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit wird
ausweislich §
240 Abs
1 Nr
1 SGB VI nur noch für einen Übergangszeitraum gewährt. Im Übrigen kennt das Gesetz - abgesehen von den Renten für Bergleute in §
45 SGB VI - für alle Versicherten unabhängig von der Qualität des ausgeübten Berufs nur noch eine Rente wegen Erwerbsminderung (vgl
§
43 SGB VI). Dem widerspräche es, im Recht der Rehabilitation bzw der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben den erlernten Beruf anders
als eine sonstige Tätigkeit zu behandeln.
Entgegen der Ansicht der Rentenversicherungsträger lässt sich auch aus den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch
(
SGB IX), namentlich §
14 Abs
4 Satz 2 nicht ableiten, dass der Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe lediglich den einen qualifizierten Beruf ausübenden
Versicherten zwecks Vermeidung einer sonst zu erbringenden Rentenleistung zusteht. Nach dieser Vorschrift leitet die Bundesagentur
für Arbeit für die Klärung von Erstattungsfällen iS des Satzes 1 Anträge auf Leistungen zur Teilhabe zwecks Feststellung der
Voraussetzungen des §
11 Abs
2a Nr
1 SGB VI an den Träger der Rentenversicherung nur weiter, wenn sie konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass der Träger der Rentenversicherung
zur Leistung einer Rente unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage verpflichtet sein könnte. §
14 Abs
4 Satz 2
SGB IX normiert mithin eine Verhaltenspflicht der Bundesagentur für Arbeit lediglich für eine Alternative der versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen iS des §
11 SGB VI. Eine Aussage über den Inhalt des §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI lässt sich dem nicht entnehmen.
Dem Normverständnis im dargelegten Sinn kann schließlich nicht entgegengehalten werden, dass der ungelernte Versicherte in
diesem Fall seinen Rehabilitationsbedarf selbst steuern könne, indem er eine Tätigkeit annimmt, die ihn gesundheitlich überfordert,
um sich dann wegen Gefährdung seiner Erwerbsfähigkeit vom Rentenversicherungsträger als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben
eine (Erst-)Ausbildung finanzieren zu lassen. Abgesehen davon, dass derselbe Einwand grundsätzlich auch bei gelernten Versicherten
erhoben werden könnte, vermag die Möglichkeit des Missbrauchs im Einzelfall die Auslegung einer abstrakten Rechtsnorm auf
Grund des Wortlauts, der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte nicht in Frage zu stellen. Einem Missbrauch hat
die Beklagte vielmehr dadurch zu begegnen, dass sie prüft, ob die begehrte Leistung nach dem auch im Sozialrecht anwendbaren
Grundsatz von Treu und Glauben gemäß §
242 Bürgerliches Gesetzbuch zu versagen ist (vgl BSGE 65, 272, 277 = SozR 4100 § 78 Nr 8 S 36; BSGE 76, 67 = SozR 3-4100 § 141k Nr 2; BSG SozR 3-2400 § 25 Nr 6 jeweils mwN). Hierfür spricht auch §
103 SGB VI, in dem dieser Gedanke hinsichtlich der Rentenleistung positivrechtlichen Ausdruck gefunden hat. Danach besteht ein Rentenanspruch
nicht, wenn die für einen Rentenanspruch erforderliche gesundheitliche Beeinträchtigung absichtlich herbeigeführt worden ist.
Die Klägerin ist nach den Feststellungen des LSG, die für den Senat bindend sind (§
163 SGG) und denen die Beklagte auch nicht widersprochen hat, nicht mehr imstande, die zuletzt ausgeübten Tätigkeiten als Altenpflegehelferin
und Taxifahrerin zu verrichten. Der Klägerin sind nur noch körperlich leichte und gelegentlich mittelschwere Arbeiten im Wechsel
von Gehen, Stehen und überwiegendem Sitzen ohne Zwangshaltungen, ohne häufiges Bücken und Knien sowie ohne Heben und Tragen
von schweren Lasten zumutbar. Die Tätigkeit einer Altenpflegerin verlangt indes nach den Feststellungen des LSG häufigeres
Bücken sowie zumindest das Heben von schweren Lasten ohne mechanische Hilfsmittel und kann auch nicht überwiegend im Sitzen
ausgeübt werden. Ebenso verlangt die Tätigkeit einer Taxifahrerin das nicht mehr zumutbare Heben und Tragen schwerer Lasten
in Form des Ein- und Ausladens von Gepäck und lässt sich nicht ohne Zwangshaltung verrichten.
Die Entscheidung des LSG, dass die geminderte Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
iS des §
10 Abs
1 Nr
2 Buchst b
SGB VI voraussichtlich wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann, ist ebenfalls revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die nach dieser Norm gebotene Feststellung der Erfolgsaussicht einer Leistung zur Teilhabe muss sich auf die Prüfung beschränken,
ob der Versicherte grundsätzlich rehabilitationsfähig ist, was unter Berücksichtigung seiner körperlichen sowie geistigen
Leistungsfähigkeit, seiner Motivation und seines Alters positiv festzustellen ist. Da die Beklagte ihre Leistungspflicht bereits
verneint hat, weil ihrer Ansicht nach die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht gefährdet oder gemindert, und somit keine konkrete
Maßnahme Streitgegenstand ist, kommt eine maßnahmenbezogene Prüfung der Erfolgsaussicht von vornherein nicht in Betracht.
Zwar ist in der früheren Rechtsprechung des BSG davon die Rede, dass die Erfolgsaussicht nur anhand einer konkreten Maßnahme
geprüft werden könne (BSG SozR 2200 § 1237a Nr 16 S 39; BSGE 48, 74, 77 = SozR 2200 § 1237a Nr 6 S 9). Dies kann indes jedenfalls dann nicht gelten, wenn eine konkrete Maßnahme gar nicht im
Streit steht (so im Ergebnis auch Urteil des 13. Senats vom 29. März 2006 - SozR 4-2600 § 10 Nr 1).
Für eine allein auf den Versicherten und nicht auf eine konkrete Maßnahme bezogene Prüfung sprechen überdies systematische
Erwägungen in Form einer Abgrenzung des §
10 Abs
1 SGB VI zu §
13 Abs
1 und §
16 SGB VI iVm §
33 Abs
4 SGB IX. Während §
10 Abs
1 Nr
2 SGB VI eine (echte) Anspruchsvoraussetzung normiert und die diesbezügliche Entscheidung der vollständigen gerichtlichen Kontrolle
unterliegt, betreffen §
13 Abs
1 Satz 1
SGB VI und §
16 SGB VI iVm §
33 Abs
4 SGB IX den Ermessensbereich der Beklagten, der nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich ist. All das, was das
Gesetz in diesen Vorschriften regelt, kann angesichts der unterschiedlichen gerichtlichen Kontrolldichte nicht auch Gegenstand
des §
10 Abs
1 Nr
2 SGB VI sein. Gemäß §
13 Abs
1 Satz 1
SGB VI bestimmt der Träger der Rentenversicherung im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit
Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leistungen zur Teilhabe sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem
Ermessen. Bei der Auswahl der Leistungen werden gemäß §
16 SGB VI iVm §
33 Abs
4 Satz 1
SGB IX Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angemessen berücksichtigt. Das Gesetz
ordnet damit die Auswahl der konkreten Leistung zur Teilhabe im Einzelfall, ua unter Beachtung der Eignung des Versicherten,
dem Ermessensbereich zu. Damit wäre es unvereinbar, wenn die Erfolgsaussicht iS des §
10 Abs
1 Nr
2 Buchst b
SGB VI anhand einer konkreten Maßnahme zu prüfen wäre. Angesichts dieser Überlegungen wird in künftigen Fällen zu überdenken sein,
ob die bisherige Rechtsprechung zu korrigieren ist, soweit das Gerichtsverfahren eine konkrete Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben
betrifft.
Für die hier vorliegende Sachverhaltskonstellation ist jedenfalls maßgeblich, ob sich die geminderte Erwerbsfähigkeit des
Versicherten nach seinen persönlichen Verhältnissen voraussichtlich durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich
verbessern oder wiederherstellen lässt.
Der Beklagten ist zuzugestehen, dass bei diesem Verständnis der Begriff der Erwerbsfähigkeit in §
10 Abs
1 Nr
1 SGB VI eng mit der bisherigen Tätigkeit des Versicherten verknüpft ist, während derselbe Begriff in §
10 Abs
1 Nr
2 SGB VI einen anderen Sinngehalt hat. Dass sich das Rehabilitationsziel iS der Nr 2 nicht in der Wiederaufnahme der bisherigen Tätigkeit
erschöpft, ist im Grunde selbstverständlich und ergibt sich auch aus dem Leistungskatalog des §
16 SGB VI iVm §
33 SGB IX, der ua Berufsvorbereitung, berufliche Weiterbildung und berufliche Ausbildung umfasst. Dies zeigt, dass Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben nicht allein auf die Erhaltung, wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten
in seinem bisherigen Beruf oder seiner bisherigen Tätigkeit gerichtet sein müssen (vgl auch BSGE 48, 74, 76 = SozR 2200 § 1237a Nr 6 S 8 f). Der von den Rentenversicherungsträgern befürwortete Rückschluss auf einen ähnlich weiten
Sinngehalt des Begriffs der Erwerbsfähigkeit bei der Prüfung des Rehabilitationsbedarfs nach Nr 1 ist nicht zulässig, denn
er würde einen nicht unerheblichen Teil der Versicherten entgegen der gesetzlichen Systematik und der dem Gesetzgeber bekannten
bisherigen Rechtsprechung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben praktisch ausschließen.
Die Aussicht auf eine maßgebliche Besserung der Erwerbsfähigkeit ist auf Grund der Feststellungen des LSG, die von der Beklagten
nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden und daher für den Senat bindend (§
163 SGG) sind, zu bejahen. Danach ist es mit Rücksicht auf das Alter der Klägerin von erst 40 Jahren, ihre starke Motivation und
ihren Gesundheitszustand wahrscheinlich, dass durch geeignete Maßnahmen ihre Vermittlungschancen verbessert und ihr somit
Möglichkeiten eröffnet werden, wieder in vollem Umfang dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Insoweit unterscheidet
sich der hier entschiedene Fall von dem Sachverhalt, über den der 13. Senat des BSG im Urteil vom 29. März 2006 (SozR 4-2600
§ 10 Nr 1) zu entscheiden hatte, weil dort keine entsprechenden Feststellungen zur Erfolgsaussicht iS des §
10 Abs
1 Nr
2 SGB VI getroffen worden waren.
Die Beklagte ist daher nunmehr verpflichtet, unter Beteiligung der Klägerin und in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens aus dem
umfangreichen Katalog von in Betracht kommenden Maßnahmen eine geeignete Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben auszuwählen
und zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs
1 SGG.