Grundsatzrevision
Divergenzrevision
Verletzung der Amtsermittlungspflicht
Überraschungsentscheidung
1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich
sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist.
2. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des
Berufungsgerichts einerseits und in dem herangezogenen höchstrichterlichen Urteil andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen,
weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen.
3. Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach §
103 SGG stützt, muss ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen; ein Beweisantrag muss
unzweifelhaft erkennen lassen, dass eine weitere Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen für erforderlich gehalten wird.
4. Der Tatsacheninstanz soll durch einen solchen Antrag vor der Entscheidung vor Augen geführt werden, dass ein Beteiligter
die gerichtliche Sachaufklärungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als erfüllt ansieht; der Beweisantrag hat Warnfunktion,
eine solche Warnfunktion fehlt bei Beweisantritten, die in der Berufungsschrift oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind,
und ihrem Inhalt nach lediglich als Anregungen zu verstehen sind, wenn sie nach Abschluss von Amts wegen durchgeführter Ermittlungen
nicht mehr zu einem bestimmten Beweisthema als Beweisantrag aufgegriffen werden; eine unsubstantiierte Bezugnahme auf frühere
Beweisantritte genügt nicht.
5. Ein Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden
sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt.
Gründe:
I
Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin, bei der im Jahr 2002 ein Vertragskrankenhaus eine Versteifungsoperation
der Lendenwirbelkörper im Segment L 2 / 3 durchgeführt hatte, begab sich wegen gleichwohl langjährig persistierender Beschwerden
am 10.3.2008 in die vertragsärztliche Behandlung von Dr. C. in S.. Sie suchte ihn am 28.4.2008 bei stark eingeschränkter Gehfähigkeit
und massiven Schmerzen erneut auf und schloss an diesem Tag einen privatrechtlichen Vertrag mit der G. Klinik GmbH (S.), einer
Klinik für Wirbelsäulenchirurgie ohne Versorgungsvertrag, über stationäre Leistungen sowie einen privatrechtlichen Vertrag
mit Dr. C. über neurochirurgische belegärztliche Leistungen. Dieser führte am 30.4.2008 und am 5.5.2008 in zwei Schritten
eine Versteifungsoperation der Lendenwirbelkörper im Segment L 3 / 4 durch. Die Klägerin ist mit ihrem erstmals nach der Operation
gestellten Antrag auf Kostenerstattung (37 968,69 Euro) bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das
LSG hat zur Begründung ausgeführt, es könne ohne Beiladung von Dr. C. entscheiden, weil die Voraussetzungen einer notwendigen
Beiladung nicht vorlägen. Habe es sich bei der Behandlung der Klägerin um eine Notfallbehandlung im Sinne von §
76 Abs
1 S 2
SGB V gehandelt, stehe der Klägerin kein Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte zu. Im Übrigen seien die Voraussetzungen
des §
13 Abs
3 S 1
SGB V nicht erfüllt. Die allein in Betracht kommende Fallgruppe des Kostenerstattungsanspruchs wegen Unaufschiebbarkeit der Leistung
scheitere daran, dass es der Klägerin am 28. und 29.4.2008 auch bei dringendem Behandlungsbedarf weiterhin möglich gewesen
sei, sich mit der Beklagten in Verbindung zu setzen oder Behandlung im Klinikum S. in Anspruch zu nehmen (Urteil vom 27.3.2014).
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig und daher gemäß §
160a Abs
4 S 2 iVm §
169 S 3
SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus §
160a Abs
2 S 3
SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der Revisionszulassungsgründe nach §
160 Abs
2 Nr
1 bis
3 SGG.
1. Wer sich - wie die Klägerin - auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich
sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN).
Die Klägerin formuliert als Frage:
Welche zumutbaren Anstrengungen muss ein Patient in der Nacht und unmittelbar am Tag vor einer für den nächsten Morgen avisierten
Operation machen, um die KK mit einem dringenden Behandlungsfall zu konfrontieren?
Der erkennende Senat lässt offen, ob die Klägerin damit überhaupt eine Rechtsfrage klar formuliert hat, die über den Einzelfall
hinaus von Bedeutung ist, oder nicht lediglich ihre persönliche Situation beschreibt. Es fehlt bereits an jeglicher Darlegung
der Klärungsbedürftigkeit, obwohl die Klägerin im Zusammenhang mit ihren Ausführungen zur Divergenz selbst ausführlich - hier
relevante - Passagen im Urteil des erkennenden Senats vom 25.9.2000 (BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 22 S 105 f) zitiert (vgl ferner BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15, RdNr 26, zur Unbeachtlichkeit persönlicher Unkenntnis des Versicherten über objektiv bestehende
Versorgungsmöglichkeiten; vgl insgesamt Hauck in Peters, Handbuch der Krankenversicherung Teil II,
SGB V, Stand Juli 2014, §
13 RdNr 250 ff mwN zur Rechtsprechung). Die Klägerin legt auch nicht hinreichend dar, inwiefern die von ihr gestellte Frage
im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sein könnte. Sie setzt sich nicht damit auseinander, dass das LSG
eine unaufschiebbare Behandlungsnotwendigkeit im Sinne eines Notfalls verneint und es für zumutbar gehalten hat, dass die
Klägerin zumindest durch ihren vor Ort anwesenden Ehemann am 29.4.2008 mit der Beklagten oder mit dem Klinikum S. Kontakt
hätte aufnehmen müssen, um Behandlungsmöglichkeiten abzuklären.
2. Die Klägerin bezeichnet den Zulassungsgrund der Divergenz (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG) nicht in einer den Anforderungen des §
160a Abs
2 S 3
SGG entsprechenden Weise. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in
der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in dem herangezogenen höchstrichterlichen Urteil andererseits gegenüberstellen
und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat und nicht etwa
lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN).
Die Klägerin formuliert als höchstrichterlichen Rechtssatz zu §
13 Abs
3 S 1
SGB V (unter Hinweis auf BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 22 S 105), dass eine KK eine unaufschiebbare Leistung dann nicht rechtzeitig erbringen kann, wenn im Hinblick auf das
Tatbestandsmerkmal Unaufschiebbarkeit eine Situation vorliegt, in der aus medizinischer Sicht die Leistung sofort, das heißt
ohne nennenswerten zeitlichen Aufschub zu erbringen ist. Sie stellt dem aber keinen davon abweichenden Rechtssatz des LSG
gegenüber, das selbst auf Rechtsprechung des BSG hingewiesen hat (BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15; BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 22). Die Klägerin macht lediglich Ausführungen dazu, warum das LSG das Tatbestandsmerkmal der Unaufschiebbarkeit vermeintlich
verkannt habe, mithin im Einzelfall das Recht nicht richtig angewendet habe.
3. Ein Verfahrensmangel ist ebenfalls nicht hinreichend bezeichnet. Nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen
kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von §
109 SGG und §
128 Abs
1 S 1
SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des §
103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende
Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet
werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36).
a) Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach §
103 SGG stützt, muss ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen (vgl zB BSG Beschluss vom 20.7.2010 - B 1 KR 29/10 B - RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 1.3.2011 - B 1 KR 112/10 B - Juris RdNr 3 mwN). Hierzu gehört nach ständiger Rechtsprechung des BSG die Darlegung, dass ein anwaltlich vertretener Beteiligter einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung
gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat (vgl dazu BSG Beschluss vom 14.6.2005 - B 1 KR 38/04 B - Juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 25.04.2006 - B 1 KR 97/05 B - Juris RdNr 6; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Ein Beweisantrag muss unzweifelhaft erkennen lassen, dass eine weitere Sachverhaltsaufklärung von Amts
wegen für erforderlich gehalten wird. Der Tatsacheninstanz soll durch einen solchen Antrag vor der Entscheidung vor Augen
geführt werden, dass ein Beteiligter die gerichtliche Sachaufklärungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als erfüllt
ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion. Eine solche Warnfunktion fehlt bei Beweisantritten, die in der Berufungsschrift
oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind, und ihrem Inhalt nach lediglich als Anregungen zu verstehen sind, wenn sie nach
Abschluss von Amts wegen durchgeführter Ermittlungen nicht mehr zu einem bestimmten Beweisthema als Beweisantrag aufgegriffen
werden; eine unsubstantiierte Bezugnahme auf frühere Beweisantritte genügt nicht (vgl zum Ganzen zB BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21, stRspr).
Die Klägerin legt mit ihrem Beschwerdevorbringen einen Verfahrensmangel nicht in diesem Sinne dar. Sie legt nicht dar, dass
sie - anwaltlich vertreten - in der letzten mündlichen Verhandlung bei dem LSG am 27.3.2014 einen Beweisantrag gestellt hat.
Sie verweist lediglich auf ihren Schriftsatz vom 11.3.2014 und darauf, dass das LSG den - auf Bitte des LSG bei Aufruf der
Sache anwesenden - Ehemann der Klägerin als präsenten Zeugen hätte vernehmen müssen. Ferner meint sie, das LSG hätte auch
Dr. C. wegen seiner widersprüchlichen Angaben als Zeugen vernehmen müssen.
b) Die Klägerin bezeichnet auch eine Verletzung rechtlichen Gehörs nicht ausreichend. Wer die Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör (§
62 SGG, Art
103 Abs
1 GG, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 EMRK) rügt, muss hierzu ausführen, welchen erheblichen Vortrag das Gericht bei seiner Entscheidung nicht zur Kenntnis genommen
hat, welches Vorbringen des Rechtsuchenden dadurch verhindert worden ist und inwiefern das Urteil auf diesem Sachverhalt beruht
(vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 36; BSG Beschluss vom 10.3.2011 - B 1 KR 134/10 B - Juris RdNr 6 mwN).
Ein Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind,
wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BVerfG [Kammer] NJW 2003, 2524; BSG Beschluss vom 3.2.2010 - B 6 KA 45/09 B - Juris RdNr 7 mwN). Der Grundsatz soll indes lediglich verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht
werden, die auf Auffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. In diesem Rahmen
besteht jedoch kein allgemeiner Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichtet, die Beteiligten vor einem Urteil auf eine
in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden
Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1; BSG Beschluss vom 17.10.2006 - B 1 KR 104/06 B). Ebenso wenig muss das Gericht die Beteiligten auf alle nur möglichen Gesichtspunkte hinweisen und vorab seine Rechtsauffassung
zur Rechtssache bzw zu den Erfolgsaussichten zu erkennen geben (vgl zB BSG Beschluss vom 10.8.2007 - B 1 KR 58/07 B - Juris RdNr 7 mwN).
Die Klägerin legt mit ihrem Beschwerdevorbringen, sie sei von der Bewertung des Sachverhalts des LSG überrascht worden, dass
ihr am 28. und 29.4.2008 eine Kontaktaufnahme mit der Beklagten oder vertragsärztliche Versorgung im Klinikum S. noch möglich
gewesen sei, zumal das interdisziplinäre Wirbelsäulenzentrum des Klinikums S. erst 2010 gegründet worden sei, nicht hinreichend
dar, dass sie sich nicht zu den Entscheidungsgrundlagen des Berufungsgerichts habe äußern können. Im Gegenteil trägt sie im
Rahmen ihrer Aufklärungsrüge selbst vor, dass zentraler Streitpunkt des Rechtsstreits die Frage der Unaufschiebbarkeit der
Wirbelsäulenoperation gewesen sei.
c) Soweit die Klägerin schließlich rügt, dass Dr. C. hätte beigeladen werden müssen, legt sie nicht einmal ansatzweise dar,
warum hier die Voraussetzungen einer notwendigen Beiladung (§
75 Abs
2 SGG) vorgelegen hätten, deren Unterlassen allein einen Verfahrensfehler begründen kann.
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§
160a Abs
4 S 2 Halbs 2
SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des §
193 SGG.