Zulässigkeit der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht
Anforderungen an das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels bei einem Verstoß gegen den Grundsatz der Amtsermittlung
Tatbestand
Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1965 geborene Kläger war zuletzt bis März 2019 als Maschinenbediener und CNC-Stanzer versicherungspflichtig beschäftigt
gewesen. Seither ist er arbeitsunfähig krank bzw. arbeitslos. Sein Grad der Behinderung beträgt 50.
In der Zeit vom 18.04. bis 16.05.2017 befand sich der Kläger zur medizinischen Rehabilitation in der Rehaklinik G im G. Im
Entlassungsbericht vom 24.05.2017 wurden vor allem eine rezidivierende depressive Störung gegenwärtig mittelgradiger Episode,
eine Coxalgie beidseits bei Zustand nach Hüft-TEP beidseits und ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ II mit Polyneuropathie
diagnostiziert. Dem Kläger seien leichte Tätigkeiten bei wechselnden Körperhaltungen vollschichtig möglich.
Auf seinen Rentenantrag vom 16.04.2019 hin wurde der Kläger auf Veranlassung der Beklagten durch die D begutachtet. In ihrem
Gutachten vom 20.12.2019 wurden eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und Auswirkungen auf
die Teilhabe, eine Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion, derzeit leicht bis mittelgradig, ein metabolisches
Syndrom u.a. mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ 2 sowie ein Zustand nach beidseitigen Hüft-TEPs diagnostiziert.
Bei seinem behandelnden Psychiater B sei der Kläger nach eigenen Angaben vor ca. zwei Jahren zuletzt gewesen. Letztes Jahr
sei er in ambulanter Psychotherapie gewesen. Aktuell bestehe keine medikamentöse Behandlung und keine weitere Therapie der
depressiven Behandlung. Er lebe zusammen mit seiner Mutter. Er putze die Wohnung, mache die Wäsche und fahre zusammen mit
der Mutter zum Einkaufen. 2019 seien er und seine Mutter über sechs Monate in der Türkei gewesen. Die Stimmungslage des Klägers
habe bei der Untersuchung etwas gedrückt gewirkt, sonst nicht tiefergehend depressiv verstimmt erscheinend. Insgesamt sei
der Kläger für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt über sechs Stunden leistungsfähig.
Mit Bescheid vom 08.02.2020 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.
Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch mit der Begründung, dass wegen der von der Gutachterin D festgestellten Erkrankungen
seine Erwerbsfähigkeit vollständig aufgehoben sei. Außerdem hätte die Beklagte nicht geprüft, ob sich ein Rentenanspruch auch
wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung ergeben
könnte. Überdies sei der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen.
Nachdem der Beratungsarzt der Beklagten, L, festgestellt hatte, dass das Widerspruchsschreiben keinen neuen medizinischen
Sachverhalt dargelegt hätte und in dem Gutachten der Ärztin D die wesentlichen Gesundheitsstörungen des Klägers Berücksichtigung
gefunden hätten, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.06.2020 den Widerspruch zurück.
Am 17.06.2020 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers beim Sozialgericht Konstanz (SG) Klage erhoben. Er hat beantragt, den Bescheid vom 08.02.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2020 aufzuheben
und die Beklagte zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verurteilen. Die Begründung erfolge
in einem gesonderten Schriftsatz. Zudem hat er eine Mehrfertigung des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2020 beigefügt.
Mit Schreiben vom 22.06.2020 hat der Prozessbevollmächtigte eine Liste der behandelnden Ärzte eingereicht und zugleich mitgeteilt,
dass die Liste noch um die Universitätsklinik Ulm sowie B zu ergänzen sei.
Mit Schreiben vom 23.06.2020 hat der Prozessbevollmächtigte die vom Kläger unterschriebene Entbindungserklärung vorgelegt.
Mit Verfügung vom 03.07.2020 hat das SG dem Prozessbevollmächtigten Akteneinsicht gewährt und zur Klagebegründung aufgefordert.
Mit Schreiben vom 17.08.2020 hat das SG den Prozessbevollmächtigen an die Klagebegründung erinnert.
Am 20.09.2020 hat das SG die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach §
105 SGG angehört und Gelegenheit zur Äußerung bis zum 15.10.2020 gegeben.
Mit Gerichtsbescheid vom 19.10.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Warum der durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertretenen Kläger ausdrücklich nur eine
Bescheidungs- und keine Leistungsklage auf Rentengewährung erhoben habe, erschließe sich dem Gericht nicht. Die Bescheidungsklage
sei jedenfalls schon deswegen erfolglos, weil die Entscheidung auf Rentengewährung nicht im Ermessen der Behörde stehe, also
auch keine Neubescheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts in Betracht kommen könne. Ob trotz dieses
ausdrücklichen Klageantrags eine Umdeutung in eine Leistungsklage in Betracht komme, könne dahinstehen, da jedenfalls auch
eine solche Klage unbegründet wäre. Der Kläger sei nicht erwerbsgemindert im Sinne des §
43 SGB VI. Bei dem Kläger bestünden eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und Auswirkungen auf die
Teilhabe, eine Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion, ein metabolisches Syndrom u.a. mit insulinpflichtigem
Diabetes mellitus Typ 2 sowie ein Zustand nach beidseitigen Hüft-TEPs. Daraus lasse sich noch keine rentenrelevante quantitative,
d.h. zeitliche Einschränkung für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ableiten. Der Kläger könne noch zumindest
leichte Arbeiten sechs Stunden arbeitstäglich ausüben. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand und zum Leistungsvermögen
seien dem Gesamtergebnis der Ermittlungen und der Beweisaufnahme, insbesondere dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten
von der D zu entnehmen. Frau D habe die Aktenlage umfassend berücksichtigt und mit dem Kläger ein ausführliches Anamnesegespräch
geführt. Ihre Ausführungen seien schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Der Kläger zeige mit seinen der Gutachterin
geschilderten Alltagsaktivitäten (u.a. Wohnungsputz, Wäschewaschen, Einkaufsfahrten, Türkeireisen) durchaus noch ein Leistungsvermögen.
Die im Gutachten geschilderte fehlende aktuelle medikamentöse Behandlung und sonstige Therapie der depressiven Behandlung
spreche zudem gegen einen größeren Leidensdruck beim Kläger. Die Kammer habe daher keinen Anlass, an der Vollständigkeit der
erhobenen Befunde und der Richtigkeit der daraus gefolgerten Leistungsbeurteilung im Verwaltungsgutachten zu zweifeln. Die
Leistungsbeurteilung stehe im Übrigen im Einklang mit dem vorangegangenen Reha-Bericht aus dem G. Eine weitere Sachaufklärung
halte das Gericht nicht für erforderlich. Der Kläger habe gegen das Gutachten von Frau D keine substantiierten Einwände erhoben.
Auch seien keine Berichte über einen neuen oder verschlimmerten medizinischen Sachverhalt von dem Kläger seit Erstellung des
Gutachtens von Frau D vorgelegt worden.
Mit Schreiben vom 15.10.2020, eingegangen beim SG am 21.10.2020 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 08.02.2020
in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10.06.2020zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung,
hilfsweise eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren. Er hat zudem vorgetragen, dass der Kläger an einer chronischen
Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einer Anpassungsstörung, einer längeren depressiven Reaktion, derzeit
mindestens mittelgradig, einem metabolischen Syndrom mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ 2, einer Adipositas, einem
Bluthochdruck, einer Fettstoffwechselstörung sowie an einem Zustand nach Hüft-TEP beidseits leide. Auf die vorliegenden Arztberichte
werde Bezug genommen. Mithin sei die Leistungsfähigkeit des Klägers aufgehoben. Die Beklagte habe nicht überprüft, ob sich
ein solcher Anspruch hier auch wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen
Leistungsbehinderung ergeben könnte. Auch zur Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes habe die Beklagte trotz Kenntnis
der Funktionsbeeinträchtigungen bzw. Erkrankungen des Klägers keine Ermittlungen durchgeführt.
Das SG hat dem Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 22.10.2020 mitgeteilt, dass das Klageverfahren bereits mit Gerichtsbescheid
vom 19.10.2020 abgeschlossen worden sei.
Der Prozessbevollmächtigte hat gegen den ihm am 20.10.2020 zugestellten Gerichtsbescheid am 28.10.2020 Berufung beim Landessozialgericht
Baden-Württemberg eingelegt, ohne die Berufung zu begründen.
Mit Schreiben vom 19.01.2021 hat die Berichterstatterin dem Kläger unter Belehrung über die Vorschrift des §
106a Abs.
2 Nr.
1 SGG eine Frist zur Begründung der Berufung bis zum 26.02.2021 gesetzt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat den Empfang
des Schreibens vom 19.01.2021 mit Empfangsbekenntnis am 21.01.2021 bestätigt.
Mit Schreiben vom 04.03.2021 hat die Berichterstatterin dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mitgeteilt, dass nachdem weder
die Klage noch die Berufung bislang begründet wurden, Ermittlungen von Amts wegen nicht beabsichtigt seien. Der Kläger habe
bislang keine substantiierten Einwände gegen das im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten sowie die Leistungsbeurteilung
des Rehaentlassungsberichts erhoben. Die Fortführung des Berufungsverfahrens sollte überdacht werden. Dem Prozessbevollmächtigten
wurde eine Frist bis zum 30.03.2021 gesetzt.
Mit Schreiben vom 29.04.2021 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers vorgetragen, dass das Sozialgericht zu Unrecht ausgeführt
habe, dass der Kläger mindestens sechs Stunden täglich arbeiten kann. Der Kläger leide an einer chronischen Schmerzstörung
mit somatischen und psychischen Faktoren, einer Anpassungsstörung, einer längeren depressiven Reaktion, derzeit mindestens
mittelgradig, einem metabolischen Syndrom mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ 2, einer Adipositas, einem Bluthochdruck,
einer Fettstoffwechselstörung sowie an einem Zustand nach Hüft-TEP beidseits leide. Auf die vorliegenden Arztberichte werde
Bezug genommen. So habe die Beklagte außergerichtlich durch die Ärztin D eine Begutachtung durchgeführt. Im Gutachten vom
20.12.2019 würden eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und Auswirkungen auf die Teilhabe,
eine Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion, derzeit leicht bis mittelgradig, ein metabolisches Syndrom u.a.
mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ 2 sowie ein Zustand nach beidseitigen Hüft-TEPs diagnostiziert. Bei seinem behandelnden
Psychiater B sei der Kläger nach eigenen Angaben vor ca. zwei Jahren zuletzt gewesen. Letztes Jahr sei er in ambulanter Psychotherapie
gewesen. Aktuell bestehe keine medikamentöse Behandlung und keine weitere Therapie der depressiven Behandlung. Er lebe zusammen
mit seiner Mutter. Er putze die Wohnung, mache die Wäsche und fahre zusammen mit der Mutter zum Einkaufen. 2019 seien er und
seine Mutter über sechs Monate in der Türkei gewesen. Die Stimmungslage des Klägers habe bei der Untersuchung etwas gedrückt
gewirkt, sonst nicht tiefergehend depressiv verstimmt erscheinend. Weshalb das Gutachten damit endet, dass der Kläger für
leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt über sechs Stunden leistungsfähig sei, erschließt sich aufgrund der festgestellten
Krankheiten bzw. Funktionsbeeinträchtigungen im Gutachten sind. Mithin sei die Leistungsfähigkeit des Klägers aufgehoben.
Das SG habe nicht überprüft, ob sich ein solcher Anspruch hier auch wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen
oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung ergeben könnte. Auch zur Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes
habe das SG trotz Kenntnis der Funktionsbeeinträchtigungen bzw. Erkrankungen des Klägers keine Ermittlungen durchgeführt. Der Kläger
bitte um antragsgemäße Entscheidung.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Konstanz vom 19.10.2020, sowie den Bescheid vom 08.02.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 10.06.2020 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise
eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren,
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie dem weiteren Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten
beider Rechtszüge sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und gemäß §§
143,
144 SGG zulässige Berufung des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung begründet.
Gemäß §
159 Abs.
1 Nr.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Landessozialgericht durch Urteil eine mit der Berufung angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das
Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche
und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung sind erfüllt. Ein Mangel des Verfahrens liegt vor, wenn gegen eine
das gerichtliche Verfahren regelnde Vorschrift verstoßen worden ist. Wesentlich ist dieser Mangel, wenn die Entscheidung darauf
beruhen kann (allgemeine Meinung, stellvertretend Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 13. Auflage 2020, §
159 Rdnr. 3, 3a).
Ein zur Zurückverweisung berechtigender wesentlicher Verfahrensmangel liegt insoweit vor, als das SG den entscheidungserheblichen Sachverhalt entgegen der Verpflichtung zur Amtsermittlung (§
103 SGG) nicht hinreichend aufgeklärt hat. Eine Verletzung des §
103 SGG liegt vor, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, obwohl es sich ausgehend von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt
zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, 1. Aufl., §
103 SGG - Stand: 21.04.2020 - Rdnr. 90 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.03.2016, L 8 R 710/15, juris). Ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz ist ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne der §
144 Abs.
2 Nr.
3 SGG und §
160 Abs.
2 Nr.
3 SGG. Weil die Beteiligten auf eine ordnungsgemäße Aufklärung des Sachverhalts nicht verzichten können, können Verstöße gegen
§
103 SGG über §
202 Satz 1
SGG in Verbindung mit §
295 ZPO nicht geheilt werden.
Die Pflicht zur Amtsermittlung ist dem Verantwortungsbereich des Gerichts zugewiesen. Nicht die Beteiligten, sondern das Gericht
bestimmt, welche Angaben für die von ihm zu treffende Entscheidung erforderlich sind. Das Gericht entscheidet im Rahmen von
Zweckmäßigkeitsüberlegungen nach dem Studium der Akten über die Reihenfolge der zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen
Maßnahmen. Diese Aufgaben darf das Gericht nicht an die Beteiligten delegieren. Es hat die Sachverhaltsermittlungen nach seinem
pflichtgemäßen Ermessen unabhängig vom Willen und der Interessenlage einzelner Prozessbeteiligter durchzuführen. Das Gericht
muss sich nicht mit den von einem Kläger angebotenen Beweismitteln begnügen, wenn es die Angaben für unzureichend erachtet,
weil es diese nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen kann (Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, 1. Aufl., §
103 SGG - Stand: 21.04.2020 - Rn. 19).
Zu ermitteln sind alle Tatsachen, die, ausgehend von der Rechtsauffassung des Sozialgerichts, für die Entscheidungsfindung
in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich sind. Das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl der Beweismittel sind in
das pflichtgemäße richterliche Ermessen des Gerichts gestellt. Es hat diejenigen Ermittlungen durchzuführen, zu denen es sich
nach der Sach- und Rechtslage gedrängt fühlen muss.
Welcher Beweismittel sich das Gericht bedient, ist eine Frage der pflichtgemäßen richterlichen Ermessensausübung. Das Gericht
ist gehalten, diejenigen Beweismittel zu verwenden, die nach den Umständen des Einzelfalles zur Aufklärung des entscheidungserheblichen
Sachverhalts geeignet und erforderlich sind. Umfang und Reihenfolge der Ermittlungen sind zum Teil durch die Umstände des
Einzelfalls vorgegeben. So hat das Gericht vor der Beauftragung eines Sachverständigen häufig die erforderlichen medizinischen
Befunde der behandelnden Ärzte einzuholen, ohne die z.B. verlässlichen Aussagen über den Zeitpunkt des Leistungsfalls häufig
nicht möglich sind. Bei streitigem Sachverhalt hat das Gericht zunächst die Tatsachen zu ermitteln, die es dem Sachverständigen
vorzugeben hat (§
404a Abs.
3 ZPO).
Rechtsgrundlagen für die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche sind die §§
43,
240 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (
SGB VI), die in dem angefochtenen Gerichtsbescheid in der maßgeblichen Fassung wiedergegeben worden sind.
Für einen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung ist danach klärungsbedürftig, ob der Kläger aus
medizinischen Gründen voll oder teilweise erwerbsgemindert ist (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2, Abs.
2 Satz 1 Nr. 1 und Sätze 2 und 3, Abs. 3
SGB VI) und ob er die sogenannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt (§§
43 Abs. 1 Nr. 2 und 3, Abs.
2 Nr.
2 und
3 und Abs.
4 bis
6,
241 SGB VI).
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind unstreitig erfüllt.
Eine klageabweisende Entscheidung kann sich deshalb nur dadurch rechtfertigen, dass die medizinischen Voraussetzungen für
eine volle oder teilweise Erwerbsminderung nicht nachzuweisen sind. Das SG war angesichts dessen gehalten, Ermittlungen zur Aufklärung des Leistungsvermögens des Klägers anzustellen. Allein die Tatsache,
dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Klage nicht ausführlich begründet hat, macht Sachverhaltsaufklärungsmaßnahmen
noch nicht entbehrlich. Der Bevollmächtigte hat im klageerhebenden Schriftsatz vom 17.06.2020 einen Klageantrag gestellt und
bereits damit das Klagebegehren, die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 08.02.2020, in der Fassung des Widerspruchsbescheids
vom 10.06.2020 konkretisiert und eine von der Leistungseinschätzung der Beklagten divergierende Entscheidung begehrt. Das
Klageziel war daher auch unter Berücksichtigung des mit eingereichten Widerspruchsbescheides vom 10.06.2020 klar erkennbar.
Dies gilt unbeschadet des nicht sachdienlichen Klageantrags auf Neuverbescheidung. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht
mit den Beteiligten nach den §§
106 Abs.
1,
112 Abs.
2 Satz 2
SGG klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (Föllmer in: Schlegel/Voelzke,
jurisPK-
SGG, 1. Aufl., §
92 SGG - Stand: 29.03.2021 - Rdnr. 35ff). Eine fehlende Klagebegründung reicht insoweit noch nicht aus, um die Erfolgsaussichten
der Prozessführung zu beurteilen und in der Folge abzulehnen, wenn dem Gericht der Streitgegenstand anderweitig - zB durch
einen ausführlichen Widerspruchsbescheid, die Verwaltungsakten und/oder den Klageantrag - hinreichend bekannt ist (vgl. zur
PKH LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.05.2020, L 14 AS 530/20 B PKH; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.05.2014, L 13 AS 491/14 B, beide juris)
Mit Schreiben vom 22.06.2020 hat der Bevollmächtigte eine Aufstellung der den Kläger behandelnden Ärzte eingereicht und zugleich
mitgeteilt, dass der Kläger zudem in der Universitätsklinik U. sowie bei B in Behandlung sei. Am 23.06.2020 hat er dann die
vom Kläger unterschriebene Erklärung über die Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht eingereicht. Der Kläger
hat durch die Benennung der behandelnden Ärzte und deren Entbindung von der Schweigepflicht eine Befragung der Ärzte als sachverständige
Zeugen angeregt. Das SG hätte sich daher gedrängt sehen müssen, nach der Vorlage der Entbindungserklärung und der Benennung der Ärzte entsprechend
dieser Beweisanregung den Schweregrad der Diagnosen und der Befunde auf insbesondere auf psychiatrischem Gebiet sowie die
hieraus sich möglicherweise ergebenden Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Klägers durch Befragung der benannten Ärzte
als sachverständige Zeugen (§
118 Abs.
1 S. 1
SGG i.V.m. §
414 ZPO) zu ermitteln. Nach Überzeugung des Senats kommt es für die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung (§
43 Abs.
1 SGB VI) entscheidend darauf an, wie das Leistungsvermögen des Klägers insbesondere in zeitlicher Hinsicht auf Grundlage seiner Gesundheitsstörungen
auf psychiatrischem Fachgebiet zu bewerten ist. Zur Beantwortung dieser Frage muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten,
die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen (stRspr, vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 24.04.2014. B 13 R 325/13 B, juris mwN). Von einer Beweisaufnahme darf ein Gericht deshalb nur dann absehen bzw. einen Beweisantrag nur dann ablehnen,
wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn sie also als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig
ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache bzw. ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung
wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (BSG Beschluss vom 27.11.2007 - B 5a/5 R 406/06 B - Juris RdNr 8; Senatsbeschluss vom 20.10.2010, B 13 R 511/09 B, Juris Rdnr. 14 mwN).
Das SG war danach zunächst gehalten, die benannten Ärzte, möglicherweise unter Vorhalt des Gutachtens von D zu befragen, um weitere
Erkenntnisse über den Verlauf und Schweregrad der Erkrankung des Klägers zu erlangen. Der Kläger ist seinen ihm obliegenden
Mitwirkungspflichten nachgekommen.
Er hat durch die Nichtbegründung seiner Klage zudem keine Verfahrenspflichten verletzt. Die Klage muss nach §
92 Abs.
1 S 4
SGG die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel nicht angeben, sie soll es nur. Wegen der Untersuchungsmaxime des
§
103 S 1
SGG muss das Gericht auch ohne Vorliegen einer schriftlichen Klagebegründung den Sachverhalt von Amts wegen erforschen. Insofern
besteht keine Beweisführungspflicht für den Kläger (vgl. Schmidt in Mayer - Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum
SGG, 13. Auflage 2020, §
92 Rdnr. 14). Die fehlende Klagebegründung befreit das Gericht zudem nicht von einer Auseinandersetzung mit dem Streitstoff
und einer Beweiswürdigung (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.08.2012, L 10 SB 134/12, juris, Rdnr. 4). Die Angabe der zur Begründung dienenden Tatsachen ist folglich zwar Anlass für die Amtsermittlungspflicht,
diese wird aber hierdurch nicht begrenzt (Föllmer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, 1. Aufl., §
92 SGG (Stand: 29.03.2021), Rdnr. 50ff). Vorliegend bestand angesichts der ausreichenden und detaillierten Angaben des Klägers zu
den ihn behandelnden Ärzte die Möglichkeit, den Sachverhalt zunächst von Amts wegen, auch ohne Vorliegen einer schriftlichen
Klagebegründung, weiter aufzuklären. Zudem bestehen über die Präklusion verspäteten Vorbringens mit §
106a SGG oder eine Betreibungsanordnung mit nachfolgender Klagerücknahmefiktion (§
102 Abs
2 SGG) ausreichende verfahrensrechtliche Möglichkeiten, die Nichtmitwirkung von Beteiligten bei der Sachverhaltsaufklärung zu sanktionieren.
Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Sachverhalt ohne die Mitwirkung der Beteiligten nicht ermittelt werden kann. Dies war
jedoch vorliegend nicht der Fall. Erst wenn der Kläger beispielsweise einer Aufforderung zur Begutachtung nicht nachkommt
oder die zur Vernehmung der behandelnden Ärzte benötigten Entbindungserklärung nicht vorlegt, kann eine Mitwirkungspflichtverletzung
und eine Entbehrlichkeit weiterer Ermittlungen - auch nach §
109 SGG (vgl. hierzu Senatsurteil vom 14.12.2018, L 8 R 2569/17, juris) - angenommen werden.
Das SG war somit trotz der fehlenden Klagebegründung gehalten, zumindest die benannten und von der Schweigepflicht entbundenen Ärzte
als sachverständigen Zeugen zu hören. Zwar kommt den schriftlichen Äußerungen behandelnder Ärzte nur der Charakter von Auskünften
(§
106 Abs.
3 Nr.
4 SGG) oder schriftlicher Aussagen sachverständiger Zeugen (§§
106 Abs.
4,
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V. mit §§
377 Abs.
3,
414 Zivilprozessordnung [ZPO]) zu. Sie vermitteln dem Gericht deshalb nicht zwangsläufig die erforderliche Sachkunde über das objektive Vorliegen
von Krankheitsbildern und deren Auswirkungen auf das rentenrechtlich erhebliche Leistungsvermögen. Allerdings verschaffen
sie dem Gericht durch die Übermittlung der gestellten Diagnosen und erhobenen Befunde sowie eingeleiteten Behandlungsmaßnahmen
eine Entscheidungsgrundlage für die Frage, ob weitere Ermittlungen, beispielsweise durch Einholung eines Sachverständigengutachtens,
erforderlich sind. Ob sich im weiteren Verlauf der Ermittlungen Erkenntnisse über gesundheitliche Einschränkungen entgegen
der Einschätzung der Gutachterin im Verwaltungsverfahren D ergeben, welche die Leistungsfähigkeit des Klägers soweit einschränken,
dass sich die Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch mit einer zeitlichen Einschränkung bejahen lässt,
hat das SG zu gegebener Zeit zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2012, B 5 R 68/11 R, SozR 4-2600 § 43 Nr. 18).
Fehlt es somit in weitem Umfang an Ermittlungen, zu denen sich das SG im Rahmen des §
103 SGG gedrängt fühlen musste, so folgt daraus zum einen, dass die angefochtene Entscheidung hierauf beruhen kann, und zum anderen,
dass der Verfahrensmangel eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht. Letzteres ist nach der Gesetzesbegründung
(BT-Drucks. 17/6746, S. 27, zu Nummer 8) der Fall, wenn die Beweisaufnahme einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen
Mitteln erforderlich macht. Wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, sind Ermittlungen zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts
und der Frage der Erwerbsminderung noch in weitem Umfang erforderlich, was zwangsläufig einen derartigen Einsatz von personellen
und sächlichen Mitteln nach sich zieht (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.03.2016, L 8 R 710/15, juris).
Im Rahmen des von ihm bei der Entscheidung über die Zurückverweisung auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse des
Klägers an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz
abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel der Sachverhaltsaufklärung durch das Sozialgericht für eine Zurückverweisung
entschieden. Hierbei hat er berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist, weshalb
der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom SG unterlassenen Aufklärung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fällt. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen
Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit
bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn das gesamte Verfahren vor dem Senat hat vom Eingang
der Berufung am 28.10.2020 bis zum Tag der Verkündung des Urteils nur etwas mehr als ein halbes Jahr in Anspruch genommen.
Es erscheint deshalb prozessökonomischer, dem SG zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts in rechtskonformer Weise zu geben.
Das SG wird in seiner künftigen Kostenentscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu befinden haben.
Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs.
2 SGG), liegen nicht vor.