Aufrechnung gegen eine Witwerrente
Berufungseinlegung in einer der Amtssprachen der Europäischen Union
Tatbestand
Streitig ist die teilweise Aufrechnung der Witwerrente des Klägers mit einer Rückforderung der Beklagten.
Der 1947 in der damaligen Tschechoslowakei geborene Kläger bezieht seit 01.09.2012 eine große Witwerrente nach seiner am 31.08.2012
verstorbenen Ehefrau. Diese stammte ebenfalls aus der damaligen Tschechoslowakei und hat dort Versicherungszeiten zurückgelegt,
die nach dem Fremdrentengesetz (FRG) berücksichtigt worden sind und aufgrund derer der Kläger auch eine slowakische Witwerrente bezieht. Auch der Kläger hat
Zeiten in beiden Ländern zurückgelegt und bezieht neben der deutschen Altersrente u.a. eine slowakische Rente. Streitig ist
bis heute, ob bei der Berechnung der der verstorbenen Versicherten gezahlten Altersrente und der nachfolgend an den Kläger
gezahlten Witwerrente die Zeiten nach dem FRG in zutreffendem Umfang berücksichtigt worden sind (vgl. zuletzt Urteil des erkennenden Senats vom 18.03.2016 - L 13 R 223/12).
Mit Bescheid vom 29.05.2013 wurde die Witwerrente unter Anrechnung der slowakischen Witwerrente und in Anwendung der Ruhensvorschrift
in § 31 FRG neu festgestellt. Für die Zeit vom 01.09.2012 bis 30.06.2013 wurde darin eine Überzahlung in Höhe von 1.137,58 EUR festgestellt
und dieser Betrag vom Kläger zurückgefordert. Mit Bescheid vom 10.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.02.2014
wurde gegenüber dem Kläger bezüglich dieser Rückforderung erstmals eine Aufrechnung eines Teils seiner deutschen Witwerrente
verfügt. Mit Urteil des Senats vom 19.09.2017 (Az.: L 13 R 1010/14) wurde der Bescheid vom 10.12.2013 aus formalen Gründen aufgehoben.
Mit dem streitigen Bescheid vom 29.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.02.2018 nahm die Beklagte nach Anhörung
des Klägers erneut eine Aufrechnung vor und rechnete die mit Bescheid vom 29.05.2013 für die Zeit vom 01.09.2012 bis zum 30.06.2013
festgestellte Überzahlung in Höhe von 1.143,53 EUR einschließlich Mahngebühr in Höhe von 5,95 EUR in einer einmaligen Rate
von 93,53 EUR und 7 monatlichen Raten in Höhe von 150 EUR gegen die laufende Witwerrente auf. Der Widerspruchsbescheid wurde
am 02.02.2018 laut Verfügung als einfaches Einschreiben zur Post gegeben und enthält einen Absendevermerk vom 02.02.2018.
Ein Zustellnachweis befindet sich nicht in den Akten.
Am 07.03.2018 hat der Kläger unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid vom 02.02.2018 einen in slowakischer Sprache verfassten
Schriftsatz mit der Bitte um Übersetzung "ins Amtsdeutsch" beim Sozialgericht München abgegeben. Nach der inzwischen vorliegenden
Übersetzung hat er darin wie in allen anderen Schriftsätzen die fehlerhafte Rentenberechnung seit 2005 gerügt und angegeben,
dass er die Entscheidung vom 02.02.2018 am 09.02.2018 "bei der Post abgeholt" habe. Er ist mit Schreiben vom 05.04.2018 darauf
hingewiesen worden, dass die Gerichtssprache deutsch sei (§
61 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz -
SGG - i.V.m. §
184 Gerichtsverfassungsgesetz -
GVG -) und in einer Fremdsprache verfasste Schriftsätze keine unmittelbare rechtserhebliche Wirkung entfalteten und auch nicht
geeignet seien, Rechtsmittelfristen zu wahren. Da mangels eines grenzüberschreitenden Bezugs auch Art. 76 Abs. 7 VO (EG) Nr.
883/2004 nicht anwendbar sei, liege bisher keine wirksame Klage vor. Eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ist angekündigt
worden.
Der Kläger hat sich hierzu mit einem am 20.07.2018 beim Sozialgericht eingegangenen, erneut in slowakischer Sprache verfassten
Schreiben geäußert, in dem er im Wesentlichen den Vorsitzenden beleidigt hat.
Mit Gerichtsbescheid vom 25.07.2018 hat daraufhin das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es liege bereits keine wirksame
Klage vor, da fremdsprachliche Schriftsätze nach §
61 SGG i.V.m. §
184 GVG unbeachtlich seien.
Am 31.08.2018 ist beim Landessozialgericht ein in slowakischer Sprache verfasster Schriftsatz des Klägers eingegangen, mit
dem er sich gegen den Gerichtsbescheid vom 25.07.2018 gewandt hat. Dieser Schriftsatz ist im Wesentlichen identisch mit dem
anschließend von ihm selbst in deutscher Sprache verfassten Schriftsatz vom 01.10.2018 und enthält vor allem Ausführungen
zur Berechnung der Versichertenrente seiner verstorbenen Frau und der Witwerrente. Diese sei zu niedrig festgesetzt worden,
weswegen auch die Forderung der Beklagten in Höhe von 1.143,53 EUR nicht bestehe. Dazu hat er erneut umfangreiche Berechnungen
vorgelegt und erklärt, dass im Rahmen des laufenden Berufungsverfahrens eine Aufhebung des Gerichtsbescheids vom 25.07.2018
und eine Korrektur der Rentenberechnung entsprechend seiner Berechnung mit Nachzahlung der sich daraus ergebenden Beträge
zu erfolgen habe.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 25.07.2018 aufzuheben und das Verfahren an das Sozialgericht München zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Leistungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten
beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist gemäß §§
143,151
SGG zulässig, insbesondere statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt. Die Berufung ist im Sinne der zuletzt vom Kläger
beantragten Aufhebung des Gerichtsbescheids vom 25.07.2018 und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht auch
begründet. Gemäß §
159 Abs.
1 Nr.
1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die mittels Berufung angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht
zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Vorliegend hat das Sozialgericht
entschieden, dass bereits eine wirksame Klage nicht vorliege und die Klage ohne weitere rechtliche Prüfung oder Befassung
mit dem Streitgegenstand als unzulässig und damit durch Prozessurteil abgewiesen. Diese Auffassung hält einer rechtlichen
Überprüfung jedoch nicht stand. Ob die Aufrechnung im streitigen Bescheid vom 29.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 02.02.2018 rechtmäßig erfolgt ist und ob der auf Neuberechnung und Nachzahlung gerichtete Antrag des Klägers zulässig
ist, ist vom Senat nicht zu prüfen.
1.
Die Berufung ist ungeachtet der Tatsache, dass sie innerhalb der Berufungsfrist von einem Monat nach Zustellung des streitigen
Gerichtsbescheids nur in slowakischer Sprache eingelegt worden ist, zulässig. Die Berufung ist innerhalb der Monatsfrist schriftlich
beim Landessozialgericht eingegangen. Aus den beigefügten Anlagen ergeben sich sowohl die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts
als auch der Beklagte (§
151 SGG).
Der Zulässigkeit der Berufungseinlegung steht nicht entgegen, dass sie in slowakischer und nicht in deutscher Sprache verfasst
worden ist.
Zutreffend ist, dass nach §
61 Abs.
1 SGG i.V.m. §
184 Abs.
1 GVG die Gerichtssprache deutsch ist. Die gesetzliche Normierung der deutschen Sprache als Gerichtssprache betrifft alle Verfahrensstadien
im sozialgerichtlichen Verfahren, nicht nur die Sitzung. Sie gilt für alle Erklärungen des Gerichts und gegenüber dem Gericht.
Umstritten ist, ob Beteiligte verpflichtet sind, fremdsprachigen Schriftsätzen eine deutsche Übersetzung von einem beeidigten
Dolmetscher beizufügen. Grundsätzlich haben fremdsprachlich eingereichte Schriftsätze keine unmittelbare rechtserhebliche
Wirkung (Stäbler in Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, 1. Aufl. 2017, §
61 SGG, BSG, Urteil vom 22.10.1986 - 9a RV 43/85, Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 26.04.2001 - L 7 U 4894/99 -). Gleichwohl ist das Gericht aufgrund Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz (
GG) verpflichtet, dem Einreicher aufzugeben, eine Übersetzung beizufügen. Wiedereinsetzung in Fristen ist ggf. zu gewähren und
von Amts wegen eine Übersetzung einzuholen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass es sich hierbei um ein Klage-
oder Rechtsschutzbegehren handeln könnte (FG Hamburg, Urteil vom 15.03.2017 - 4 K 18/17; BVerfG, Beschluss vom 10.06.1975 - 2 BvR 1074/74 - BVerfGE 40, 95).
Dies gilt allerdings nur dann, wenn sich nicht aus vorrangigen Gemeinschaftsregelungen etwas anderes ergibt. Dabei ist vor
allem Art. 76 Abs. 7 VO (EG) 883/2004 zu beachten, wonach Behörden, Träger und Gerichte eines Mitgliedstaates die bei ihnen
eingereichten Anträge oder sonstigen Schriftstücke nicht deshalb zurückweisen dürfen, weil sie in einer Amtssprache eines
anderen Mitgliedsstaats abgefasst sind, die als Amtssprache der Organe der Gemeinschaft anerkannt ist. Diese Voraussetzungen
sind vorliegend erfüllt.
Der zur Wahrnehmung der Sprachenregelung berechtigte Personenkreis ergibt sich zunächst aus dem persönlichen Anwendungsbereich
(Art. 2 VO (EG) 883/2004). Dies sind Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem
Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen
und Hinterbliebenen. Außerdem muss ein grenzüberschreitender Bezug vorliegen, ein rein interner Sachverhalt genügt nicht (EuGH,
Urteil vom 22.09.1992 - Rs. C-153/91 (Petit), Slg. 1992 I-4973 - für den Fall eines belgischen Staatsangehörigen, der stets in Belgien gewohnt und nur in Belgien
gearbeitet hat). Der grenzüberschreitende Bezug unterliegt allerdings keinen strengen Anforderungen. Nach Leopold (Vorschriften
des EU-Sozialrechts über das gerichtliche Verfahren, in ZESAR 2017, 109-116) genügt es jedenfalls, wenn eine Person in mehreren
Mitgliedstaaten gearbeitet hat. Nach Wolff-Dellen (in Breitkreuz/Fichte,
SGG, 2. Aufl. 2014, §
61, Rn. 53) soll sich bei EU-Bürgern der notwendige grenzüberschreitende Bezug sogar schon aus der Staatsbürgerschaft eines
anderen EU-Mitgliedstaats ergeben.
Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers zur Überzeugung des Senats erfüllt. Die Slowakei ist seit 2004 Mitglied der
Europäischen Union. Entsprechend ist auch die slowakische Sprache eine der Amtssprachen der Europäischen Union. Der Kläger,
der wie seine verstorbene Ehefrau Versicherungszeiten in der Slowakei und in Deutschland zurückgelegt hat und eine Versichertenrente
wie auch eine Witwerrente bezieht, die nach deutschem und nach zwischenstaatlichen Recht berechnet ist, hat damit den erforderlichen
grenzüberschreitenden Bezug nachgewiesen. Hinzukommt, dass es dem Kläger im Wesentlichen um die Berücksichtigung der in der
Slowakei (früheren Tschechoslowakei) zurückgelegten Versicherungszeiten und der hieraus resultierenden Rentenberechnung geht.
Auf die Frage, ob dieses Begehren im Einzelfall zulässig erhoben wird, kommt es für die Frage, ob ein grenzüberschreitender
Bezug vorliegt und ein Rechtsmittel daher auch in der Muttersprache wirksam eingereicht werden kann, nicht an.
2.
Die Berufung ist im Sinne der beantragten Zurückverweisung auch begründet, weil das Sozialgericht die Klage aus diesem Grund
zu Unrecht als unzulässig behandelt hat. Die Klage, die innerhalb eines Monats nach der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids
vom 02.02.2018 am 07.03.2018 in slowakischer Sprache verfasst schriftlich beim Sozialgericht eingegangen ist, ist vom Kläger
zulässig erhoben worden. Sie ist auch nicht verfristet eingelegt worden. Zwar ist der Widerspruchsbescheid vom 02.02.2018
nach dem Absendevermerk schon am 02.02.2018 (einem Freitag) "zur Post gegeben" worden und würde - falls damit die tatsächliche
Übergabe an ein mit der Zustellung beauftragtes Unternehmen dokumentiert wurde - nach der sog. Drei-Tages-Fiktion spätestens
am 05.02.2018 als zugegangen gelten (§ 37 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X bzw. §
85 Abs.
3 Satz 2
SGG i.V.m. § 4 Verwaltungszustellungsgesetz - VwZG für den Fall der Zustellung durch die Post mittels Einschreiben). Die Bekanntgabefiktion des § 37 Abs. 2 SGB X bzw. § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG kommt allerdings dann nicht zum Tragen, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich zugegangen
ist (vgl. auch § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X); im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und seinen Zeitpunkt nachzuweisen. Der Kläger hat in seiner Klageschrift
angegeben, den Widerspruchsbescheid tatsächlich am 09.02.2018 bei der Post abgeholt zu haben. Damit hat er Tatsachen dargelegt,
aus denen schlüssig die nicht entfernt liegende Möglichkeit hervorgeht, dass ein Zugang des Verwaltungsakts erst nach dem
von § 37 Abs. 2 Satz 1 HS. 1 SGB X vermuteten Zeitpunkt erfolgt ist (vgl. etwa Pattar in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 37 SGB X, Rn. 106 mwN). Wann der Widerspruchsbescheid, der nach der Verfügung als Einschreiben zugestellt werden sollte, wofür die
vom Kläger angegebene Abholung bei der Post spricht, sich in der Akte aber keine Nachweise finden, tatsächlich zur Post gegeben
worden ist, kann dagegen nicht nachvollzogen werden.
Damit hat das Sozialgericht zu Unrecht nicht in der Sache entschieden. An einer Sachentscheidung fehlt es dann, wenn das Sozialgericht
entweder zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden hat oder aus anderen Gründen nicht zu einer Entscheidung über das materielle
Rechtsschutzanliegen gelangt ist (vgl. nur beispielhaft Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
159 Rn 2a, 2b und aktuell Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. März 2018 - L 15 SO 52/17 -). Das war vorliegend
der Fall. Das Sozialgericht hat sich mit dem Antrag des Klägers inhaltlich nicht befasst, weil es von einer unwirksamen Klageerhebung
ausgegangen ist. Auf das Vorliegen eines Verfahrensfehlers im Sinne des §
159 Abs.
1 Nr.
2 SGG und das Erfordernis einer umfangreichen und aufwändigen Beweisaufnahme kommt es in dieser Konstellation nicht an. Das Ermessen,
welches dem Landessozialgericht bei einer Entscheidung auf der Grundlage des §
159 SGG zusteht, übt der Senat im Sinne einer Zurückverweisung aus. Er räumt dem Erhalt des Instanzenzuges, auf den der Zurückverweisungsgrund
des §
159 Abs.
1 Nr.
1 SGG letztlich auch abzielt, im vorliegenden Fall den Vorrang gegenüber einer erstinstanzlichen Sachentscheidung durch den Senat
ein.
Eine Kostenentscheidung war durch den Senat nicht zu treffen. Sie bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs.
2 SGG), liegen nicht vor.