Anerkennung einer Berufskrankheit nach BKV Anl. 1 Nr. 2301 in der gesetzlichen Unfallversicherung wegen Lärmschwerhörigkeit
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung des bei ihm vorliegenden Tinnitus bei Hochtonschwerhörigkeit beidseits als Berufskrankheit
(BK) nach der Nummer 2301 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (
BKV).
Der 1943 geborene Kläger hat in den Jahren 1958 bis 1972 als Dreher gearbeitet. Von April 1972 bis Dezember 2002 ist er als
Feuerungsmaurer tätig gewesen. Seit dieser Zeit ist der Kläger nicht mehr berufstätig.
Mit Antrag vom 03.05.2007 haben die Bevollmächtigten des Klägers die HNO-ärztlichen Atteste des Dr. M. vom 19.06.2006 und
22.09.2006 vorgelegt. Diagnostiziert worden ist ein Tinnitus bei Hochtonschwerhörigkeit beidseits bzw. ein akut verstärkt
rechtsseitig aufgetretener Tinnitus. Bei der Spiegeluntersuchung hat sich kein wesentlicher pathologischer Befund ergeben.
Das Audiogramm hat eine beidseitige Innenohrschwerhörigkeit rechts mehr als links gezeigt, vorwiegend im Hochtonbereich.
Zur Aufklärung des Sachverhalts hat die Beklagte die Unterlagen des Dr. M. beigezogen und ein Vorerkrankungsverzeichnis der
AOK Baden-Württemberg eingeholt. Der Präventionsdienst der Beklagten ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger als Feuerungsmaurer
in den Jahren 1972 bis 2002 etwa 30,5 Lärmjahren mit einem Berufslärmpegel von 93 dB ausgesetzt gewesen ist.
Der gemäß §
200 Abs.2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (
SGB VII) ausgewählte Gutachter Dr. W. hat mit Gutachten vom 09.11.2007 ausgeführt, dass der Kläger Hörschutz nur unregelmäßig getragen
habe. Das früheste Audiogramm in den Akten stamme von 2002 und damit vom Ende der beruflichen Tätigkeit des Klägers. Zeichen
einer Lärmschwerhörigkeit würden sich dem Audiogramm nicht entnehmen lassen. Die Audiogramme von 2006 entsprächen in etwa
dem jetzigen gutachterlich erstellten Audiogramm. Es finde sich jetzt rechts ein Schrägabfall der Tonschwellen über 1 kHz
bis auf 50 dB bei 4 kHz. Es bestehe kein Wiederanstieg der Tonschwellen zu den höheren Frequenzen hin. Links finde sich eine
für eine Lärmschwerhörigkeit untypische kleine Senke im Tieftonbereich bei 0,5 kHz bis 30 dB. Die Schwellen lägen dann etwa
bei 20 dB, um im Hochfrequenzbereich über 3 kHz steil abzufallen. Auch hier bestünden keine Zeichen einer lärmtypischen C-5-Senke.
Auch mache die Unsymetrie der Tonschwellenkurven eine Lärmschwerhörigkeit unwahrscheinlich. Das Recruitment im Hochtonbereich
scheine nach dem SISI und dem Langenbeck-Test positiv. Für einen Haarzellschaden im Hochfrequenzbereich sprächen auch die
fehlenden Signalantworten über 2 kHz bei der Messung der otoakustischen Emissionen. Die von dem Kläger vermutete leichte Verschlechterung
des Hörvermögens in den letzten Jahren, in denen dieser nicht mehr berufstätig gewesen sei, spräche ebenfalls gegen das Vorliegen
einer Lärmschwerhörigkeit. Der mehr nach rechts lokalisierte beidseitige Tinnitus sei frühestens 2003, also nach Beendigung
der beruflichen Tätigkeit, aufgetreten und könne damit nicht mit Berufslärm in Zusammenhang gebracht werden. Vermutlich bestehe
eine degenerative Hochtoninnen-ohrschwerhörigkeit mit Tinnitus rechts ausgeprägter als links. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) für diesen nicht berufsbedingten Hörverlust mit Tinnitus betrage 10 v.H.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 21.12.2007 das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK) nach Nr.2301 der
BKV abgelehnt. Auch wenn der Kläger von 1972 bis Ende 2002 Lärm in gehörgefährdendem Ausmaß ausgesetzt gewesen sei, hätten die
vorliegenden Befunde und der Verlauf der Erkrankung ergeben, dass am ehesten von einer degenerativen, also von einer lärmunabhängigen
Hörschädigung auszugehen sei.
Der hiergegen gerichtete Widerspruch ist mit Widerspruchsbescheid vom 12.03.2008 zurückgewiesen worden.
In dem sich anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Augsburg die Unterlagen der Beklagten beigezogen. Die Bevollmächtigten
des Klägers haben mit Schriftsatz vom 10.04.2008 hervorgehoben, eine berufsbedingte Innenohrschädigung sei wahrscheinlich,
weil der Kläger als Feuerungsmaurer 30,5 Lärmjahren einer Lärmbelastung von 93 dB ausgesetzt gewesen sei. Auch Dr. W. habe
eine doppelseitige Hörgeräteversorgung befürwortet.
Nach entsprechender Ankündigung hat das Sozialgericht Augsburg die Klage gegen den Bescheid vom 21.12.2007 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.03.2008 mit Gerichtsbescheid vom 28.08.2008 abgewiesen. Entsprechend dem Gutachten des Dr. W.
vom 09.11.2007 spräche der Krankheitsverlauf wie auch das audiometrische Bild des Gehörschadens gegen einen Lärmschaden. Vor
allem habe Dr. W. zutreffend festgestellt, dass sich die leichte Schwerhörigkeit bei dem Kläger über alle Frequenzbereiche
erstrecke und keine lärmtypische C-5-Senke aufweise. Eine spürbare Verschlechterung des Hörvermögens sowie ein Tinnitus hätten
sich erst nach Aufgabe der beruflichen Tätigkeit entwickelt. Auch die von Dr. M. am 22.09.2006 festgestellte unsymetrische
Ausbildung der beidseitigen Schwerhörigkeit bei gleicher Lärmbelastung beider Ohren spräche gegen eine berufliche Verursachung.
Die Bevollmächtigten des Klägers regten mit Berufung vom 30.09.2008 an, ein unabhängiges Sachverständigengutachten einzuholen.
Hätte der Sachverständige Dr. W. eine Gesamt-MdE gebildet aus Hörverlusten und Ohrgeräusch, wäre deutlich geworden, dass die
MdE mindestens 20 v.H. betrage. Mit Schriftsatz vom 17.09.2008 ergänzten die Bevollmächtigten des Klägers, dass die Messlatte
des Königsteiner Merkblattes in der vierten Auflage deutlich zu hoch angesetzt sei. Die Berufskrankheit (BK) nach der Nr.2301
sei zu einem "Stützrententatbestand" verkümmert.
Von Seiten des Senats wurden die Akten der Beklagten und die Akten des Sozialgerichts Augsburg S 8 U 109/08 beigezogen. Der Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28.04.2010 wurde auf Antrag der Bevollmächtigten des Klägers verlegt.
Die in der mündlichen Verhandlung vom 16.11.2010 nicht erschienenen Bevollmächtigten des Klägers beantragen entsprechend dem
Schriftsatz vom 30.09.2006,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 28.08.2008 sowie den Bescheid vom 21.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 12.03.2008 aufzuheben und festzustellen, dass bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach der Nr.2301 der Anlage zur
BKV vorliegt.
Der Bevollmächtige der Beklagten stellt entsprechend dem Schriftsatz vom 03.11.2008 den Antrag,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 28.08.2008 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß §
202 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) i.V.m. §
540 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) sowie entsprechend §
136 Abs.2
SGG auf die beigezogenen Unterlagen der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die am 01.10.2008 gegen den am 01.09.2008 zugestellten Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 28.08.2008 eingelegte
Berufung des Klägers ist gemäß §§
143,
144 und
151 SGG zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht Augsburg hat die Klage gegen den Bescheid vom 21.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 12.03.2008 zutreffend abgewiesen.
Berufskrankheiten sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche
bezeichnet und die ein Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet (§
9 Abs.1 Satz 1
SGB VII). Eine solche Bezeichnung nimmt die
BKV mit den Listenkrankheiten vor. Hierzu gehört nach Nr.2301 eine Lärmschwerhörigkeit (Merkblatt: Bek. des BMAS vom 01.07.2008,
GMBl 2008, 798; BG-Grundsatz: G20 "Lärm"). Eine Lärmschwerhörigkeit liegt vor, wenn sich eine Innenohrschwerhörigkeit in einem
Zeitraum entwickelt hat, in dem eine adäquate Lärmexposition bestand und die Lärmeinwirkung wahrscheinlich ursächlich ist
(Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, RdZ 7.3.3)
Mit der Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten wird indes nur die mögliche Ursächlichkeit einer beruflichen
Schädigung generell anerkannt und die Erkrankung als solche für entschädigungswürdig befunden. Im Einzelfall ist für das Vorliegen
des Tatbestands der Berufskrankheit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden
Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits
(haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten
schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht
grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit, ausreicht (BSG mit Urteil vom
27.06.2000 - B 2 U 29/99 R). Nach dem in der Unfallversicherung geltenden Prinzip der wesentlichen Mitverursachung ist nur diejenige Bedingung als ursächlich
für eine Berufskrankheit anzusehen, die im Verhältnis zu anderen Umständen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg und
dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs ist gegeben, wenn bei vernünftiger
Abwägung aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung
gestützt werden kann. Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach geltender ärztlich-wissenschaftlicher
Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden.
Die für den Kausalzusammenhang sprechenden Umstände müssen die gegenteiligen dabei deutlich überwiegen (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens,
§
8 SGB VII, Anm.10.1 m.w.N.).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind nach dem schlüssigen und überzeugenden Gutachten des Dr.W. vom 09.11.2007 die
medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK-Nr.2301 nicht gegeben. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes,
dass der Kläger insgesamt 30,5 Jahre als Feuerungsmaurer in gehörgefährdendem Ausmaß einer Lärmbelastung von 93 dB ausgesetzt
gewesen ist.
Wie Dr. W. mit Gutachten vom 09.11.2007 eingeräumt hat, legt allein dieser Umstand eine berufsbedingte Innenohrschädigung
nahe (Dr. W. hat den Begriff "wahrscheinlich" untechnisch verwendet.). Dies ist jedoch wie im Falle des Klägers nicht zwingend.
Denn das früheste Audiogramm in den Akten stammt aus dem Jahr 2002 und damit vom Ende der beruflichen Tätigkeit des Klägers.
Zeichen einer Lärmschwerhörigkeit haben sich dem Audiogramm nicht entnehmen lassen. Weiterhin liegen nach dem Gutachten des
Dr. W. keine Zeichen einer lärmtypischen C-5-Senke vor. Links findet sich eine für eine Lärmschwerhörigkeit untypische kleine
Senke im Tieftonbereich bei 0,5 kHz bis 30 dB. Auch die Asymetrie der Tonschwellenkurven macht eine Lärmschwerhörigkeit unwahrscheinlich.
Die Schwerhörigkeit hat sich bei dem Kläger im Wesentlichen erst nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben bzw. nach Beendigung
der lärmbelastenden Tätigkeit entwickelt. Der mehr nach rechts lokalisierte beidseitige Tinnitus ist frühestens 2003, also
nach Beendigung der beruflichen Tätigkeit aufgetreten und kann damit nicht mit Berufslärm in Zusammenhang gebracht werden.
- Eine Mitverursachung ist zwar grundsätzlich nicht ausgeschlossen, hier aber nicht überwiegend wahrscheinlich. Gelingt der
erforderliche Nachweis eines Ursachenzusammenhangs nicht, so geht dies nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten
des Klägers (ständige Rechtsprechung des BSG, zuletzt mit Beschluss vom 18.08.2010 - B 6 KA 21/10 B).
Der Senat teilt vielmehr das abschließende Votum des Dr. W. mit Gutachten vom 09.11.2007, dass vermutlich von einer degenerativen
Hochtoninnenohrschwerhörigkeit mit Tinnitus rechts ausgeprägter als links auszugehen ist.
In Anbetracht der eindeutigen Ausführungen des Dr. W. mit Gutachten vom 09.11.2007 ist es entgegen der Anregung der Klägerbevollmächtigten
nicht veranlasst gewesen, den Sachverhalt durch Einholung eines weiteren Gutachten gemäß §
106 Abs.3 Nr.5
SGG ergänzend aufzuklären. Von der Möglichkeit, einen Gutachter eigener Wahl nach §
109 SGG zu benennen, haben die Bevollmächtigten des Klägers keinen Gebrauch gemacht.
Wenn die Bevollmächtigten des Klägers mit Schriftsatz vom 17.09.2008 hervorgehoben haben, die Messlatte des Königsteiner Merkblattes
in der vierten Auflage sei deutlich zu hoch angesetzt, die Berufskrankheit Nr.2301 sei zu einer Art "Stützrententatbestand"
verkümmert, stützt dies das Klagebegehren nicht. Denn wie bereits ausgeführt liegt bei dem Kläger keine Lärmschwerhörigkeit
im Sinne der BK-Nr.2301 vor. Im Übrigen hat das BSG mit Urteil vom 12.04.2005 - B 2 U 6/04 R ausgeführt: "Auch dem sogenannten Königsteiner Merkblatt, welches von "führenden deutschen Audiologen in Zusammenarbeit mit
dem Berufsgenossenschaftlichen Forschungsinstitut für Lärmbekämpfung (später Berufsgenossenschaftliches Institut für Arbeitssicherheit)
erarbeitet ist" und "Empfehlungen für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit" enthält (Fassung 4. Auflage 1995,
wiedergegeben in Mehrtens/Perlebach,
BKV, M 2301 S 6 ff), ist nicht zu entnehmen, dass die nach dem Merkblatt erforderliche Notwendigkeit der dauerhaften Einwirkung
von Lärm inzwischen überholt wäre."
Nach alledem ist die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 28.08.2008 zurückzuweisen.
Die Anwesenheit des Klägers oder seiner Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vom 16.11.2010 ist nicht erforderlich
gewesen (§
110 Abs.1
SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§
183,
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs.2 Nrn.1 und 2
SGG).