Versorgung mit cannabishaltigen Medikamenten
Begriff der schwerwiegenden Erkrankung
Nachhaltige und dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität
Tatbestand
Streitig ist die Versorgung des Klägers mit cannabishaltigen Medikamenten sowie die Kostenerstattung für selbstbeschaffte
Medikamente im Zeitraum ab 10.03.2017.
Der 1980 geborene Kläger ist Mitglied der Beklagten und seit Juni 2017 arbeitsunfähig erkrankt ... Er ist schwerbehindert
mit einem GdB von 50.
Der Kläger leidet seit einem ...-Unfall im Jahr ... bei partieller ... unter einem chronischen Schmerzenssyndrom der Schulter
links, bei Verschlimmerung seit 2013 (Einsteifung mit Einschränkung der Rotation) und zudem seit 2016 unter einem chronischen
HWS-LWS-Syndrom. Aktenkundig sind mehrere ambulante und stationäre Krankenbehandlungen, u.a. auf dem Gebiet der interdisziplinären
Schmerztherapie. Sein behandelnder Arzt Dr. B. beantragte im Januar 2015 eine Ausnahmeerlaubnis für Cannabis bei der Bundesopiumstelle.
Der Kläger erhielt die Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG unter dem 17.07.2015.
1. Der Kläger wandte sich am 22.01.2016 an die Beklagte mit der Bitte um Prüfung, ob die Versorgung mit Medizinalcannabis
zu Lasten der GKV übernommen werden könnte. Diese forderte medizinische Unterlagen an und lehnte den Antrag mit Bescheid vom
11.05.2016 ab.
Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2016 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Es handle
sich um eine neue Behandlungsmethode, für die keine Empfehlung des Gemeinsam Bundesausschusses (G-BA) vorliege. Auch die Voraussetzungen
nach §
2 Abs.
1a SGB V würden nicht vorliegen. Ein neues Gesetzesvorhaben bezüglich cannabishaltiger Medikamente sei bisher noch nicht in Kraft
getreten.
2. Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben.
Am 28.02.2017 hat der Kläger wegen der Neuregelung des §
31 Abs.
6 SGB V einen Neuantrag bei der Beklagten (Eingang 02.03.2017) gestellt. Die Beklagte hat ein MDK-Gutachten eingeholt. Dieser hat
festgestellt, wegen § 3 Abs. 2 BtMG könne von einer schwerwiegenden Krankheit ausgegangen werden, zudem könne wegen des Einsatz von Cannabinoiden in der Vergangenheit
eine nicht ganz fernliegende spürbare positive Einwirkung nachvollzogen werden. Mit Bescheid vom 21.03.2017 lehnte die Beklagte
auch den Neuantrag ab. Im Widerspruchsverfahren legte der Kläger den Arztfragebogen des verordnenden Schmerztherapeuten W.
vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.01.2018 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers unter Hinweis auf den MDK zurück.
Das Sozialgericht hat mitgeteilt, dass der Bescheid vom 21.03.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2018 Gegenstand
des Verfahrens geworden sei.
Am 29.11.2017 hat der Kläger einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt (Verfahren unter Az.: S 2 KR 590/17 ER). Mit Beschluss des Sozialgerichts vom 19.01.2018 sind dem Kläger vorläufig Leistungen ab 29.11.2017 bis zum 30.04.2018
im Wege der einstweiligen Anordnung zugesprochen worden. Es sei glaubhaft gemacht worden, dass die Voraussetzungen nach §
31 Abs.
6 SGB V vorliegen. Gegen diesen Beschluss hat die Beklagte Beschwerde erhoben. Diese ist mit Beschluss des Bayer. LSG vom 25.06.2018
- L 4 KR 119/18 B ER - im Wesentlichen zurückgewiesen worden. Nach Angaben des Klägers seien diesem bis Februar 2018 keine Kosten entstanden
seien, insoweit sei das Antragsinteresse entfallen und die Beschwerde insoweit begründet. Ansonsten sei jedoch die Beschwerde
der Beklagten unbegründet und der Beschluss des Sozialgerichts zutreffend.
Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. K. nach §
106 SGG eingeholt. Dieser hat den Kläger ambulant im April 2018 untersucht und im Wesentlichen folgende Gesundheitsstörungen festgestellt:
Chronisches HWS-Syndrom ..., rezidivierende Schulterbeschwerden rechts ..., chronische Schultergelenkschmerzen links in Ruhe
und Belastung mit mittelgradiger Beweglichkeitseinschränkung ..., Entfernung freier Gelenkkörper ..., chronisches pseudoradikuläres
Lumbalsyndrom ..., chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren ... mit Schädigung Nervus axillaris
links ..., psychiatrisch diagnostiziertes ADHS, Nikotinabusus, rezidivierende Depression bzw. depressive Episode, Schlafstörung,
..., Polytoxikomanie, derzeit abstinent. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei den chronischen
Schultergelenkschmerzen um eine schwerwiegende Erkrankung handle, diese sei chronifiziert. Es sei jedoch unklar, warum die
Beweglichkeitseinschränkungen noch nicht behandelt werden konnten und warum die Beschwerden hier so lange andauern. Andere
Medikamente als cannabishaltige Medikamente seien vom Kläger nicht vertragen worden und hätten starke Nebenwirkungen. Die
orthopädischen Standardpräparate zur Schmerztherapie könnten zu Magen-Darm-Belastungen führen und seien beim Kläger daher
ungeeignet. Durch die cannabishaltige Medikation käme es zu einer deutlichen Verbesserung, so dass insoweit eine spürbar positive
Einwirkung vorliege.
Der weitere gerichtlich nach §
106 SGG beauftragte Sachverständige Dr. S. ist in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 27.06.2018 nach ambulanter Untersuchung
zu folgenden Diagnosen gekommen: ... Dr. S. hat mitgeteilt, dass die ADHS-Erkrankung und auch das chronische neuropathische
Schmerzsyndrom schwerwiegende chronische Erkrankungen seien. Die Schädigung des Nervus axillaris links sei dagegen keine schwerwiegende
Erkrankung. Wegen des Schmerzsyndroms stünden grundsätzlich zwar anerkannte Behandlungsmethoden zur Verfügung, hier sei bereits
eine anerkannte Stufentherapie versucht worden, diese habe jedoch zu multiplen Nebenwirkungen geführt. Gemäß der Ausstellung
der Medikamente sei über viele Jahre eine Behandlung mit einem Antidepressivum und Schmerzmitteln versucht worden, ohne dass
eine Verbesserung eingetreten sei. Diese Möglichkeiten seien daher ausgeschöpft. Bei Anwendung der cannabishaltigen Medikamente
bestünde eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
Die Beklagte hat geltend gemacht, Müdigkeit sei als Nebenwirkung nicht schwerwiegend, die Nebenwirkungen bei cannabishaltigen
Medikamenten seien gravierender. Der Kläger habe sich laut Attest von Herrn Dr. B. vom 23.01.2015 damals dort erst zwei Monate
in Behandlung befunden. Es könne also dort keine eigene Feststellung zur Wirksamkeit der Medikamente getroffen worden sein.
Es stelle sich die Frage, von wem die Nebenwirkungen damals festgestellt worden seien. Seit Februar 2014 seien nur wenige
Medikamente verordnet worden, es sei nicht sicher, dass die üblichen Schmerzmedikamente ausreichend getestet worden seien,
auch die ärztlichen Verordnungen im Zeitraum 2006 bis 2013 seien insoweit unklar.
Der Kläger hat einen Bericht seines behandelnden Schmerztherapeuten und zudem die medikamentösen Therapieversuche seit 2004
vorgelegt sowie Rechnungen über selbstbeschaffte cannabishaltigen Medikamente.
In einem weiteren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz auf Leistungen ab dem 01.05.2018 (S 2 KR 140/18 ER) haben sich die Beteiligten auf einen Unterwerfungsvergleich hinsichtlich des Ausgangs der Beschwerde beim BayLSG (Az:
L 4 KR 119/18 B ER) geeinigt.
Das Sozialgericht hat dem Klageantrag des Klägers mit Urteil vom 30.10.2018 im Wesentlichen entsprochen und Kostenerstattung
für cannabishaltige Medikation die Vergangenheit ab dem 10.03.2017 abzüglich der Zuzahlungsbeträge zugesprochen (1.625,68
EUR) sowie festgestellt, dass der Kläger künftig von der Beklagten mit den verordneten Medikamenten zu versorgen ist. Der
erforderliche Vollbeweis hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzung des §
31 Abs.
6 SGB V sei durch die aktenkundigen Arztberichte und die gerichtlichen Sachverständigengutachten erbracht. Das Sozialgericht hat
zudem festgestellt, dass die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes von der Beklagten erbrachten Leistungen nicht durch
den Kläger zurückzuzahlen sind. Kostenerstattungsansprüche vor der Gesetzesänderung zum 10.03.2017 bestünden hingegen nicht.
3. Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und vorgetragen, das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung werde bezweifelt
... Zudem sei das Nichtbestehen von Alternativen zweifelhaft. Die Gutachter hätten sich auf die Angaben des Klägers verlassen,
es seien nur wenige Schmerzmittel getestet worden. Auch eine positive Einwirkung sei nicht objektiv darstellbar. Letztlich
entsprächen Blüten zur Inhalation nicht dem Wirtschaftlichkeitsprinzip (§
12 SGB V), Sativex sei als Fertigpräparat auch aus pharmakologischer Sicht besser geeignet.
Der aktuell behandelnde und verordnende Arzt Dr. C. teilte mit, er halte Sativex im Falle des Klägers für nicht geeignet,
zudem sei es für die vorliegende Therapie nicht zugelassen. Cannabis zum Inhalieren sei für den Patienten eine wirksame und
alternativlose Therapiestrategie. Eine nochmalige Umstellung sei dem Patienten nicht zumutbar.
Die Beklagte hat unter mehrfachem Hinweis auf die Grundsätzlichkeit des Rechtsstreits in die mündliche Verhandlung einen gebundenen
Vertreter entsandt. Eine Rechtsfrage von abstrakter Klärungsbedürftigkeit hat sie bis zum Ende der mündlichen Verhandlung
nicht formuliert.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgericht Augsburg vom 30.10.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Gerichtsakten beider Instanzen sowie der Eilverfahren (S 2 KR 590/17 ER und S 2 140/18 ER) und die Verwaltungsakten der Beklagten. Auf diese wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht nach umfangreicher Beweisaufnahme die Beklagte
zur Kostenerstattung für Medizinalcannabis ab Inkrafttreten des §
31 Abs.
6 SGB V und zur Übernahme der künftigen Versorgung des Klägers verurteilt.
Der Bescheid vom 21.03.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.01.2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in
seinen Rechten.
Es kann offenbleiben, ob der Kläger aufgrund des von der Beklagten nicht fristgerecht entschiedenen Antrags vom 22.01.2016
einen Anspruch aus Genehmigungsfiktion (§
13 Abs.
3a SGB V) hat, denn ihm steht der im angegriffenen Urteil zugesprochene Anspruch auf Kostenerstattung gemäß §
13 Abs.
3 SGB V zu. Die Beklagte hat den Antrag auf Versorgung ab dem 10.03.2017 zu Unrecht abgelehnt. Zudem hat der Kläger einen künftigen
Versorgungsanspruch, basierend auf den jeweiligen vertragsärztlichen Verordnungen, nach §
31 Abs.
6 SGB V.
Der Senat bezieht sich hierbei auf die ausführlichen und zutreffenden tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Ausführungen
des Sozialgerichts (§
153 Abs.
2 SGG), macht sich diese nach eingehender Prüfung zu eigen und merkt ergänzend an:
Nach den Vorgaben des Gesetzgebers ist Medizinalcannabis nur in eng begrenzten Ausnahmefällen eine GKV-Leistung (BT-Ds. 18/8965
S. 14, 23). Ein solcher Ausnahmefall ist hier gegeben.
I. Die Voraussetzungen des §
31 Abs.
6 S. 1
SGB V liegen in Auswertung und Würdigung der medizinischen Dokumentation vor. Dazu werden ergänzend folgende Feststellungen getroffen:
1. Der Kläger leidet unter einer schwerwiegenden Erkrankung iSd §
31 Abs.
6 S. 1
SGB V.
Der unbestimmte Rechtsbegriff der schwerwiegenden Erkrankung ist dem
SGB V nicht fremd und entsprechend dem Ausnahmecharakter der Vorschrift dahingehend auszulegen, dass die Krankheit lebensbedrohlich
sein muss oder aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigt (vgl. zur Rspr. des BSG zum off-label-use und Übertragbarkeit der Definitionen siehe LSG NRW, Beschluss v. 25.02.2019 - L 11 KR 240 / 18 B ER, Rz.
60 zitiert nach juris mit einer Übersicht zu Rspr. und Lit.).
In Auswertung der medizinischen Dokumentation ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Krankheit in Form eines chronischen,
neuropathischen Schmerzsyndroms der Schulter festzustellen, welches die Lebensqualität des Klägers nachhaltig beeinträchtigt.
Das beweisen das Gutachten des MDK und die beiden erstinstanzlichen Sachverständigengutachten, in welche nicht nur die Ergebnisse
einer ambulanten Untersuchung des Klägers, sondern auch die aktenkundigen Befundberichte seit 2004 eingeflossen sind.
Die beim Kläger ebenfalls diagnostizierte ADHS ist, wie von der Beklagten zutreffend angemerkt, keine schwerwiegende Erkrankung
iSd § 31 Abs. 6 SBG V. Das angegriffene Urteil stützt sich den zugesprochenen Anspruch jedoch zu Recht nicht auf diese Diagnose.
2. Im Falle des Klägers stehen keine allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen mehr zur Verfügung
(§
31 Abs.
6 S. 1 Nr.
1a)
SGB V).
In Auswertung und Würdigung der medizinischen Dokumentation seit 2004 und der eingeholten Gutachten ist festzustellen, dass
der Kläger seit mehreren Jahren Behandlungsversuche unternommen hat, ambulante und stationäre Krankenhausbehandlungen, stationäre
Rehabilitationsaufenthalte und multimodale Schmerztherapien. Die gerichtlichen Sachverständigen, das Klinikum ... sowie der
... Schmerztherapeut W. haben dokumentiert von verschiedenen medikamentösen Therapieversuche zur Schmerzreduktion berichtet
(u.a. mit ...). Von diesen Therapieversuchen ist entweder keine ausreichende analgetische Wirkung ausgegangen oder sie haben
Nebenwirkungen beim Kläger verursacht, insbesondere zu langanhaltenden Magen-Darm-Erkrankungen geführt.
Nicht entscheidungserheblich ist, ob noch weitere Therapieansätze potentiell zur Verfügung stehen könnten. Der Kläger hat
Anspruch darauf, dass ihm im Rahmen der ärztlichen Behandlung eine Möglichkeit eröffnet wird, nach Versagen empfohlener Therapieverfahren
eine individuelle Therapie mit Medizinalcannabis zu unternehmen. Die gesetzliche Voraussetzung bedeutet nicht, dass der Kläger
langjährig schwerwiegende Nebenwirkungen ertragen müsste, bevor ihm Cannabis als Alternative genehmigt werden könnte (Spickhoff/Barth,
3. Aufl. 2018,
SGB V §
31 Rn. 16, 17).
Dass die Aussagen des zum Zeitpunkt der Antragstellung behandelnden Schmerztherapeuten W. als begründete Einschätzung iSd
§
31 Abs.
6 S. 1 Nr.
1 lit b)
SGB V ausreichen, ist nicht zu vertiefen, da vorliegend die Voraussetzungen des lit. a) erfüllt sind.
3. Die Behandlung mit Cannabis hat beim Kläger eine spürbare positive Einwirkung auf den Behandlungsverlauf.
Die weit gefasste Formulierung des Gesetzgebers verlangt keinen Wirksamkeitsnachweis nach den Maßstäben evidenzbasierter Medizin
(BT-Drs. 18/8965, S. 25). Vielmehr genügen Wirksamkeitsindizien, die sich auch außerhalb von Studien oder vergleichbaren Erkenntnisquellen
oder von Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften finden können (vgl. mit Blick auf §
2 Abs.
1a SGB V, BSG, Urt. v. 02.09.2014 - B 1 KR 4/13 R, zitiert nach juris, Rn. 17 mwN). Erforderlich ist also eine gewisse Mindestevidenz im Sinne des Vorliegens erster wissenschaftlicher
Erkenntnisse, dass bei dem konkreten Krankheitsbild durch den Einsatz von Cannabinoiden ein therapeutischer Erfolg zu erwarten
ist (LSG NRW, Beschluss v. 25.02.2019, Az. L 11 KR 240/18 B ER a.a.O. unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss v. 26.06.2018; Az. 1 BvR 733/18, LSG NRW, Beschluss v. 19.10.2018, Az. L 16 KR 611/18 B ER und LSG Hessen, Beschluss v. 20.02.2018, Az. L 8 KR 445/17 ER).
In diesem Sinne gilt nach den Praxisleitlinien Schmerzmedizin der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin "Cannabis in der
Schmerzmedizin" (https://dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis) der Einsatz von Cannabis bei neuropathischen
Schmerzen, welche beim Kläger festzustellen sind, für etabliert.
In Auswertung der medizinischen Dokumentation ist zudem festzustellen, dass das Klinikum ..., der Schmerztherapeut W. und
die gerichtlichen Sachverständigen von positiven Auswirkungen auf den Gesundheitszustand des Klägers im Einzelfall unwidersprochen
berichten - dies trotz gleichzeitiger Reduzierung der Co-Analgetika. Auch der MDK hat bestätigt, dass diese spürbare positive
Einwirkung nachvollziehbar sei.
II. Die Beklagte hat die Genehmigung des klägerischen Antrags gemäß §
31 Abs.
6 S. 2
SGB V unrechtmäßig verweigert.
Durch das Erfordernis der Antragstellung soll der Ausnahmecharakter der Regelung hervorgehoben werden (BT-Drs. 18/8965, S.
25). Die Beklagte darf die Genehmigung vor der Erstverordnung jedoch nur in begründeten Ausnahmefällen verweigern. Damit soll
der Therapiehoheit des Vertragsarztes Rechnung getragen werden (BT-Drs. 18/10902, S. 20).
Vorliegend hat die Beklagte weder Anhaltspunkte für einen begründeten Ausnahmefall vorgetragen, noch sind solche ersichtlich.
Kontraindikationen wie Abhängigkeits- oder Suchtgefahr sind nach der medizinischen Dokumentation nicht gegeben. Soweit der
Sachverständige Dr. K. in seiner Diagnoseliste "Polytoximanie, derzeit abstinent" aufgezählt hat, ist mit dem Bericht des
Universitätsklinikums ... vom 09.07.2010 bewiesen, dass der Kläger "vor ca. 10 Jahren", d.h. als Jugendlicher einen Drogenentzug
vorgenommen hatte. Drogenkonsum oder Medikamentenmissbrauch sind seit der Zeit ab 2000 nicht dokumentiert. Vielmehr bestätigt
der aktuell behandelnde und verordnende Arzt Dr. C. überzeugend dem Kläger in Bezug auf die getätigte Medikation "große Sorgfalt".
III. Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit Medizinalcannabis in der von seinen behandelnden Ärzten verordneten
Form und Dosis.
Grundsätzlich gilt auch im Rahmen der medikamentösen Versorgung der Versicherten das Wirtschaftlichkeitsgebot des §
12 SGB V. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Krankenversicherungsträger in seiner Versorgung mit Medizinalcannabis - unabhängig
von der jeweiligen medizinischen Erforderlichkeit - die kostengünstigste Darreichungsform festzulegen hat, wenn Darreichungsformen
unterschiedliche Wirkweisen haben. Denn Form und Dosis der Therapie sind ausschließlich von dem behandelnden Vertragsarzt
patientenindividuell zu bestimmen. Beim Kläger sind zudem bereits im Jahr 2015 erfolglose Therapieversuche mit Marinol/Dronabinol
und Sativex dokumentiert. Auch wenn grundsätzlich Fertigpräparate aus pharmakologischer Sicht vorzugswürdig sein sollten,
gilt dies, wie sich aus den Behandlungsversuchen des Klägers ergibt, für diesen gerade nicht. Zudem hat der Kläger als Sachleistung
ein verfügbares Cannabisprodukt zugesprochen erhalten, also keine Versorgung außerhalb der Grundregel der §§
2,
12 SGB V.
IV. Die Erstattungsforderung im Zeitraum ab dem 10.03.2017 ist durch aktenkundige Rezepte in der verurteilten Höhe von 1.625
EUR nachgewiesen.
Die Berufung der Beklagten bleibt damit ohne Erfolg.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§
183,
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) bestehen nicht.