Rente wegen Erwerbsminderung
Erstattung der in einem Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten
Formell rechtswidriger Rentenbescheid wegen eines Begründungsmangels
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Erstattung der der Klägerin in einem Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten.
Die 1958 geborene Klägerin beantragte im Oktober 2017 bei der Beklagten die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Nachdem diese die Gewährung zunächst abgelehnt hatte, erließ sie unter dem 04. Juni 2018 einen Bescheid, mit dem sie die begehrte
Rente wegen Erwerbsminderung ab Mai 2017 gewährte. Dem Rentenbescheid waren die Anlagen
- Berechnung der Rente,
- Entscheidungen zu rentenrechtlichen Daten,
- Versicherungsverlauf,
- Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte und
- Rente und Hinzuverdienst
beigefügt. Der Anlage „Berechnung der Rente“ war zu entnehmen, dass sich der Zahlbetrag aus 33,1872 persönlichen Entgeltpunkten
(Ost), dem Rentenartfaktor 1,0 und dem aktuellen Rentenwert (Ost) von 28,66 € ergab. Weiter war dort im Einzelnen dargestellt,
welcher monatliche Zahlbetrag sich nach Abzug von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung für verschiedene Zeiträume
ab dem 01. Mai 2017 und welche Nachzahlung sich errechnete. Die Anlage „Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte“ enthielt
allgemeine Ausführungen dazu, wie Entgeltpunkte ermittelt werden. Weiter war dieser zu entnehmen, in welcher Höhe für die
Klägerin Entgeltpunkte (Ost) für Beitrags-, für beitragsfreie und für beitragsgeminderte Zeiten jeweils angesetzt wurden.
Eine konkrete Berechnung der Entgeltpunkte aus den Beitragszeiten sowie den beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten
enthielt weder diese Anlage noch eine sonstige dem Bescheid beigefügte.
Mit Widerspruch vom 12. Juni 2018 bemängelte die bereits damals durch ihren jetzigen Bevollmächtigten vertretene Klägerin,
dass der Bescheid mangels hinreichender Begründung nicht nachzuvollziehen sei. Ohne die vollständigen Berechnungsanlagen sei
eine Prüfung des Bescheides nicht möglich. Mit Schreiben vom 14. Juni 2018 übersandte die Beklagte daraufhin die fehlenden
Berechnungsgrundlagen, woraufhin der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Widerspruch mit Schreiben vom 27. Juli 2018 zurücknahm
und die Übernahme der Kosten des Widerspruchsverfahrens beantragte.
Mit Bescheid vom 16. August 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. September 2018 lehnte die Beklagte gestützt
auf § 63 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X) die Übernahme der Kosten des Widerspruchsverfahrens mit der Begründung ab, dass die Sachentscheidung richtig gewesen sei.
Am 01. Oktober 2018 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Cottbus erhoben.
Dieses hat die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2020 unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verpflichtet, die der Klägerin
im Widerspruchsverfahren gegen den Rentenbescheid vom 04. Juni 2018 entstandenen notwendigen Aufwendungen dem Grunde nach
zu erstatten. Zur Begründung, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin
auf der Grundlage des § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X einen Anspruch auf Erstattung der ihr im Widerspruchsverfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen habe. Der Widerspruch
habe nur deshalb keinen Erfolg gehabt, weil die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides in einer Verletzung einer nach
§ 41 SGB X heilbaren Verfahrensvorschrift gelegen habe. Der angefochtene Bescheid sei nicht hinreichend begründet i.S.d. § 35 Abs. 1 SGB X gewesen. Ein schriftlicher Verwaltungsakt müsse für einen seriösen, um Verständnis bemühten Leser ohne spezielle Kenntnisse
der besonderen Rechtsmaterie – z.B. des Sozialversicherungsrechts – aus sich heraus verständlich, nachvollziehbar und nachprüfbar
sein. Aus einem Rentenbescheid müsse ersichtlich sein, aufgrund welcher Berechnungsgrundlagen sich die mitgeteilte konkrete
Rentenhöhe pro Monat ermittle. Zu der erforderlichen Begründung gehöre unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Rentenrechts
auch die Mitteilung über die Berechnung der Entgeltpunkte, da diese einen Kernbestandteil der Berechnung der Rentenhöhe darstellten.
Diesen Anforderungen habe der Rentenbescheid nicht genügt. Für die Klägerin sei nicht nachvollziehbar gewesen, wie die ausgewiesenen
persönlichen Entgeltpunkte ermittelt worden seien. Die rechnerische Ermittlung der Entgeltpunkte für Beitragszeiten mit vollwertigen
Pflichtbeitragszeiten, für beitragsfreie Zeiten und beitragsgeminderte Zeiten lasse sich erst den im Widerspruchsverfahren
übersandten Anlagen entnehmen. Dass es sich bei der unterbliebenen Übersendung der Anlagen „Entgeltpunkte für Beitragszeiten“
und „Entgeltpunkte für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten“ nicht um ein Versehen im Einzelfall handele, dies vielmehr
der im Interesse der Verschlankung erfolgten Neugestaltung der Rentenbewilligungsbescheide geschuldet sei, ändere nichts daran,
dass es sich um einen Begründungsmangel handele. Soweit das Bundessozialgericht in einer Angelegenheit des Kassenarztrechts
entschieden habe, dass sich die Begründung eines Bescheides nicht mit allen Einzelerwägungen auseinandersetzen müsse, sei
dies nicht auf die vorliegende Fallkonstellation zu übertragen. Während sich vertragsärztliche Honorarbescheide an einen sachkundigen
Personenkreis richteten, könne im Falle der Bewilligung einer Rente nicht davon ausgegangen werden, dass der Empfänger mit
den Einzelheiten des Rentenrechts bzw. der Rentenberechnung vertraut sei. Ein seriöser, um Verständnis bemühter Leser ohne
spezielle Kenntnisse der besonderen Rentenmaterie benötige indes für das Verständnis der konkreten Rentenhöhe die fehlenden
Unterlagen. Bei diesen handele es sich somit um wesentliche tatsächliche Gründe, die Teil der Begründung sein müssten. Der
vorliegende Begründungsmangel sei gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X im Widerspruchsverfahren durch Übersendung der Anlagen geheilt worden. Auch habe der Widerspruch der Klägerin nur deshalb
keinen Erfolg gehabt, weil die Verletzung einer Verfahrens- oder Formvorschrift nach § 41 SGB X unbeachtlich sei. Insbesondere stehe dem Erfolg des Widerspruchs nicht die Regelung des § 42 SGB X entgegen. Nach dieser Vorschrift könne die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40 SGB X nichtig sei, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form
oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen sei, wenn offensichtlich sei, dass die Verletzung die Entscheidung in der
Sache nicht beeinflusst habe. Dies aber könne nicht die Kostenfolge des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X ausschließen. Der diesbezüglich teilweise abweichenden Ansicht in der Literatur und der Rechtsprechung werde nicht gefolgt.
Die Vorschrift des § 42 SGB X beschränke die Rechtsfolgen von Verfahrensfehlern der Verwaltungsbehörden. Grundsätzlich sei ein unter Missachtung wesentlicher
Verfahrensvorschriften ergangener Verwaltungsakt rechtswidrig und unterliege auf Klage ungeachtet der materiellen Rechtslage
schon deshalb der Aufhebung. Von dieser Rechtsfolge nehme § 42 SGB X solche Verfahrensfehler aus, die für das materiell-rechtliche Ergebnis bedeutungslos gewesen seien. Hintergrund dieser Regelung
sei dabei der Grundsatz der Verfahrensökonomie und das Verbot unzulässiger Rechtsausübung. § 42 SGB X und § 41 SGB X stünden dabei in einem Exklusivitätsverhältnis. Sei ein Verfahrensfehler nach § 41 SGB X geheilt worden, sei der Bescheid mangelfrei. Er könne nicht mehr an einem Fehler i.S.d. § 42 SGB X leiden. § 42 SGB X komme in dieser Konstellation gar nicht erst zur Anwendung. Im Rahmen des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X komme es allein darauf an, dass ein Verfahrensfehler nach § 41 SGB X unbeachtlich geworden sei. Die Behörde solle Verfahrens- oder Formvorschriften von vornherein beachten. Dies werde ggfs.
mit der Folge einer Kostenerstattungspflicht sanktioniert. Ob ein Erfolg in der Sache selbst möglich gewesen wäre, sei insofern
unerheblich. Die Pflicht zur Erstattung von Aufwendungen werde allein dadurch begründet, dass Verfahrens- oder Formvorschriften
nicht eingehalten worden seien. Die Verwaltung solle sich nicht darauf verlassen können, dass nachträglich durch § 41 Abs. 2 SGB X bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen Verfahrens die bei Erlass eines Bescheides gemachten Verfahrens-
oder Formfehler geheilt werden könnten und dann unbeachtlich seien. Werde im Widerspruchsverfahren allein die mangelnde Begründung
gerügt, löse die Heilung dieses Verfahrensfehlers die Kostenfolge des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X aus.
Gegen dieses der Beklagten am 18. Juni 2020 zugestellte Urteil, in dem das Sozialgericht die Berufung zugelassen hat, richtet
sich die am 23. Juni 2020 eingelegte Berufung der Beklagten. Sie meint, es liege kein Begründungsmangel vor. Sie sei nur verpflichtet,
die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, müsse sich hingegen nicht mit allen in Betracht kommenden
Umständen und Einzelüberlegungen auseinandersetzen. Sie könne sich auf die Mitteilung der wesentlichen Gründe der Entscheidung
in solcher Weise und in solchem Umfang beschränken, dass der Betroffene seine Rechte sachgemäß wahrnehmen könne. Für einen
die Rentenhöhe feststellenden Bescheid seien neben der Darstellung der rentenrechtlichen Zeiten als weitere Berechnungselemente
die Benennung des Zugangs- und des Rentenartfaktors erforderlich, damit ermittelt werden könne, ob die Rentenhöhe korrekt
ermittelt worden sei. Soweit inzwischen die Ermittlung der Entgeltpunkte selbst nicht mehr im Einzelnen vorgerechnet werde,
sei der Rentenbescheid so konzipiert, dass die ergänzenden Anlagen für das Verständnis des Bescheids durch den Adressaten
nicht benötigt würden. Es seien vielmehr zusätzliche erläuternde Texte aufgenommen worden, die die ergänzenden Anlagen ersetzten.
Es solle nicht mehr jeder einzelne Schritt vorgerechnet, vielmehr die Berechnungsweise mit verständlichen Worten erläutert
werden. Selbst wenn jedoch ein Begründungsdefizit vorläge, würde dessen Beseitigung durch Nachholung gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X nicht zu dem begehrten Aufwendungsersatz nach § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X führen. Dem stünde § 42 SGB X entgegen. § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X folge mit seiner nicht erweiterungsbedürftigen Regelung dem Grundsatz, dass die Kostenentscheidung entsprechend der Sachentscheidung
ergehe, weil ohne die Heilung eines Verfahrens- oder Formfehlers nach § 41 SGB X eine dem Widerspruchsführer günstigere Sachentscheidung hätte ergehen müssen. Allein die Übersendung der ergänzenden Anlagen
stelle keine abweichende Sachentscheidung dar. Die Pflicht zur Erstattung von Aufwendungen werde auch nicht alleine dadurch
ausgelöst, dass Verfahrens- oder Formvorschriften verletzt worden seien. Die in diesem Zusammenhang vom Sozialgericht herangezogene
Entscheidung beziehe sich auf die Verletzung von Anhörungsrechten, denen – wie § 42 Satz 2 SGB X zeige – eine andere Stellung zukomme als der Begründungspflicht. Soweit das Sozialgericht in der Vorschrift des § 42 SGB X keinen Ausschluss der Kostenfolge des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X sehe, könne dem nicht gefolgt werden. Die Beklagte würde mit Kostenerstattungsansprüchen für Widerspruchsverfahren überzogen,
in denen es lediglich um die Übersendung der ergänzenden Anlagen ginge, es im Übrigen aber bei den erteilten Rentenbewilligungsbescheiden
verbleibe. Durch das Bundessozialgericht sei längst geklärt, dass eine Erweiterung des Anwendungsbereiches des § 63 SGB X nicht in Betracht komme. Denn es sei wesentlicher Grundsatz des Kostenerstattungsrechts, dass eine Kostenerstattung vom Obsiegen
abhänge. Für die Frage des Obsiegens komme es rein formal auf einen Vergleich des mit dem Widerspruch Begehrten und des Inhalts
der das Vorverfahren abschließenden Sachentscheidung an. Eine analoge oder erweiternde Anwendung der Regelung in § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X auf die in § 42 SGB X geregelten Fälle sei nicht möglich. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber versehentlich nur auf § 41 SGB X und nicht auf § 42 SGB X hingewiesen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 16. Juni 2020 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Sie meint, dass die Verschlankung der Bescheide zu einer Vorenthaltung
wesentlicher und elementarer Berechnungsanlagen führe. Es gehe um die Grundlage einer lebenslänglich gewährten Geldleistung,
aus der der Versicherte seinen Lebensunterhalt finanzieren solle, sodass er selbstverständlich erwarten dürfe, alle für die
Nachprüfbarkeit der Berechnung erforderlichen Berechnungen als direkten Teil des übersandten Bescheides zu erhalten. Von den
vier Variabeln der Rentenberechnungsformel würde ausgerechnet die einzige individuelle, nämlich die Anzahl der persönlichen
Entgeltpunkte nur als unprüfbares Ergebnis benannt. Der Verweis auf den Versicherungsverlauf gehe insoweit fehl. Denn selbst
ein Fachmann könne diesem nicht entnehmen, wie die Anrechnungszeiten bewertet wurden. Letztlich wälze die Beklagte das Kostenrisiko
auf den Versicherten ab. Soweit sie sich im Übrigen inzwischen darauf stütze, dass die Berechnungsunterlagen jederzeit angefordert
werden könnten, ändere dies nichts an dem extrem wesentlichen Aspekt der nicht verlängerbaren Rechtsmittelfrist. Diese werde
unzulässig verkürzt, wenn für die Prüfung der persönlichen Entgeltpunkte erst zusätzliche Bescheidbestandteile angefordert
werden müssten. Um eine Verfristung zu vermeiden, müsse letztlich "auf Verdacht" Widerspruch eingelegt werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen sowie den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die dem Senat
vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die vom Sozialgericht Cottbus nach §
144 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zugelassene Berufung der Beklagten ist statthaft und im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt
(§
151 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 16. August 2018 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 17. September 2018 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin ihre im Widerspruchsverfahren
gegen den Rentenbescheid vom 04. Juni 2018 entstandenen notwendigen Aufwendungen dem Grunde nach zu erstatten. Der Klägerin
steht ein Kostenerstattungsanspruch zwar mangels Erfolges in der Sache nicht nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X, wohl aber nach § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X i.V.m. § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X zu.
Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat,
die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen zu erstatten, wenn der Widerspruch nur deshalb keinen Erfolg
hatte, weil die Verletzung einer Verfahrens- oder Formvorschrift nach § 41 SGB X unbeachtlich ist. Gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die den Verwaltungsakt nicht nach § 40 SGB X nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Begründung nachträglich gegeben wird. Vorliegend war der an die Klägerin
gerichtete Rentenbescheid zwar nicht nichtig, zunächst jedoch formell rechtswidrig, litt nämlich an einem Begründungsmangel.
Dieser Mangel ist im Widerspruchsverfahren geheilt worden (hierzu zu 1.). Entgegen der Ansicht der Beklagten steht die Regelung
des § 42 SGB X der daraus folgenden Kostenerstattungspflicht nicht entgegen (hierzu zu 2.).
1. Der Rentenbescheid war zunächst zwar nicht nichtig, jedoch formell rechtswidrig, weil er an einem Begründungsmangel litt.
Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X ist ein schriftlicher Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen, in der die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen
Gründe mitzuteilen sind, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Aus der Begründung muss ersichtlich sein, welche
tatsächlichen und rechtlichen Gründe für die Entscheidung wesentlich waren. Anzugeben sind nach dem Wortlaut des Satzes 2
die wesentlichen Gründe. Dies sind grundsätzlich die entscheidungserheblichen Gründe. Eine jedes Detail aufgreifende Begründung
ist nicht erforderlich. Die Begründung muss sich daher zwar nicht mit allen Einzelüberlegungen auseinandersetzen. Erforderlich
ist aber, dass die Entscheidung nachprüfbar ist. Der Betroffene muss in die Lage versetzt werden, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen
bzw. zu verteidigen (Engelmann in SGB X – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – 9. Aufl. 2020, § 35 Rn. 7 f. m.w.N.). Maßstab ist dabei ein seriöser, um Verständnis bemühter Leser ohne spezielle Kenntnis der besonderen Rechtsmaterie
(zum Beispiel des Sozialversicherungsrechts).
Gestützt darauf hat das Sozialgericht mit überzeugender Begründung, auf die der Senat nach eigener Prüfung und zur Vermeidung
von Wiederholungen Bezug nimmt (§
153 Abs.
2 SGG), das Fehlen der Anlagen zur Berechnung der Beitrags- sowie der beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten als Begründungsmangel
angesehen. Denn die Berechnung der Entgeltpunkte stellt für einen Rentenbescheid ein unverzichtbares, auch nicht nach § 35 Abs. 2 SGB X entbehrliches Begründungselement i.S.d. § 35 Abs. 1 SGB X dar. Allein die Anlagen „Berechnung der Rente“ und „Versicherungsverlauf“ sind nicht ausreichend, um zu überprüfen, ob die
Beklagte im Einzelfall eine zutreffende Rentenberechnung vorgenommen hat (vgl. auch Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 35 SGB X - Stand: 21.05.2021 -, Rn. 13.6).
Diesen formellen Mangel hat die Beklagte im Widerspruchsverfahren nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X geheilt, indem sie der Klägerin die Anlagen „Entgeltpunkte für Beitragszeiten“ und „Entgeltpunkte für beitragsfreie und beitragsgeminderte
Zeiten“ zur Verfügung gestellt hat. Die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X sind damit nach dem Wortlaut der Norm erfüllt.
2. Soweit die Beklagte meint, der Kostenerstattungspflicht stehe die Regelung des § 42 SGB X entgegen, folgt der Senat ihr nicht.
Ein Verwaltungsakt, der unter einem Verfahrens- oder Formfehler leidet, ist grundsätzlich rechtswidrig und ist deshalb im
Rechtsbehelfsverfahren aufzuheben. Von diesem Grundsatz machen insbesondere die §§ 41 und 42 SGB X Ausnahmen. Gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die den Verwaltungsakt nicht nach § 40 SGB X nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Begründung nachträglich gegeben wird. Nach § 42 Satz 1 SGB X kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40 SGB X nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften u.a. über das Verfahren oder
die Form zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst
hat. Dies gilt nicht, wenn die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt ist (Satz 2).
Die Auffassung der Beklagten, sie könne beide Vorschriften parallel anwenden, d.h. zunächst nach § 41 SGB X nachbessern, um sich sodann darauf zu berufen, dass es sich nur um einen formalen Mangel gehandelt habe, der nicht zur Aufhebung
des Bescheides führen würde, überzeugt den Senat nicht. Bei einem derartigen Normverständnis würde die Regelung des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X weitestgehend ausgehöhlt. Sie würde nämlich nur noch dann gelten, wenn es sich bei dem formellen Mangel um einen Anhörungsmangel
handelte. Hätte der Gesetzgeber aber dieses Ergebnis erreichen wollen, wäre zu erwarten, dass er in § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X auch ausdrücklich allein auf die Verletzung des Anhörungsrechts verwiesen hätte, anstatt vollumfänglich auf die Verfahrens-
und Formvorschriften nach § 41 Bezug zu nehmen. Zur Überzeugung des Senats ist daher davon auszugehen, dass sich beide Vorschriften
ergänzen. Ist ein Verfahrens- oder Formfehler bereits gemäß § 41 SGB X geheilt worden, so ist für die Anwendung des § 42 SGB X kein Raum mehr. Der Verwaltungsakt ist nach einer Heilung des Verfahrens- oder Formfehlers – wenigstens insoweit – nicht
mehr rechtswidrig. Ist eine Heilung nach § 41 SGB X hingegen nicht oder nicht mehr zulässig, ist sie nicht erfolgt oder liegt gar ein nicht nach § 41 SGB X heilbarer Fehler vor, kommt § 42 SGB X zur Anwendung (Schneider-Danwitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 41 SGB X - Stand: 01.12.2017 -, Rn. 4-5). Die Verwaltung hat somit in vielen Fällen ein Wahlrecht, ob sie nach § 41 vorgeht, oder ob sie sich auf § 42 SGB X verlässt. Entscheidet sie sich – so wie hier – im Widerspruchsverfahren zur Heilung des Mangels, dann löst dies auch die
Kostenfolge des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X aus, ohne dass es hierzu einer – wie die Beklagte meint - unzulässigen analogen oder erweiternden Anwendung der Norm bedürfte.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§
160 Abs.
1, Abs.
2 Nr.
1 SGG).