Voraussetzungen einer Weiterbewilligung von Krankengeld bei nicht rechtzeitigem Aufsuchen der Praxis des behandelnden Arztes
des Versicherten
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Krankengeld über den 15. Dezember 2016 hinaus bis zum 13. April 2017.
Die 1968 geborene Klägerin war bei der Beklagten aufgrund einer zum 31. August 2016 endenden Beschäftigung gegen Krankheit
versichert. Ab dem 29. August 2016 bis zum 13. April 2017 war die Klägerin durchgehend arbeitsunfähig. Ihr Arbeitsentgelt
wurde durch ihren damaligen Arbeitgeber bis zum Ende des Beschäftigungsverhältnisses fortgezahlt.
Im Anschluss, also ab dem 01. September 2016, zahlte die Beklagte der Klägerin Krankengeld in Höhe von kalendertäglich 51,63
Euro netto. Die Krankengeldinformation der Beklagten enthielt folgende Ausführungen: „Die Arbeitsunfähigkeit muss nahtlos
nachgewiesen werden. Ihr behandelnder Arzt muss spätestens am nächsten Werktag, der auf das Ende des zuletzt bestätigten Zeitraums
folgt, das weitere Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit bescheinigen.“
Ab 05. September 2016 wurde Arbeitsunfähigkeit wegen einer depressiven Episode zunächst vom Hausarzt der Klägerin, dem praktischen
Arzt und Zeugen Dr. J., bescheinigt. Des Weiteren befand die Klägerin sich deshalb ab dem 06. Oktober 2016 bei der Psychiaterin
und Psychotherapeutin Dr. O. in Behandlung. Nachdem Dr. J. am 05. Dezember 2016 eine Folgebescheinigung bis zum 15. Dezember
2016, einem Donnerstag, ausgestellt hatte, erfolgte die anschließende Krankschreibung bis zum 03. Januar 2017 erst am Montag,
dem 19. Dezember 2016.
Mit Bescheid vom 28. Dezember 2016 lehnte die Beklagte die Krankengeldzahlung für die Zeit über den 15. Dezember 2016 hinaus
ab. Die ärztliche Feststellung am 19. Dezember 2016 befinde sich außerhalb des zuvor bescheinigten Bewilligungszeitraums,
was eine weitere Krankengeldzahlung ausschließe.
Hiergegen legte die Klägerin, die in der Folge ununterbrochene weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – zunächst noch
ausgestellt von Dr. J., der darüber hinaus im Januar 2017 auch explizit eine durchgehende Arbeitsunfähigkeit seit September
2016 attestierte, im weiteren Verlauf dann von Dr. O., die darüber hinaus im Februar 2017 explizit eine seit Erstkontakt am
6. Oktober 2016 durchgehende Arbeitsunfähigkeit attestierte – bis einschließlich 13. April 2017 einreichte, am 10. Januar
2017 Widerspruch ein. Die Praxis des Zeugen Dr. J. sei am 15. Dezember 2016 unerwartet geschlossen gewesen. Am 16. Dezember
2016 habe die Klägerin mit dem Taxi in die Praxis fahren wollen, sie habe jedoch am Morgen heftigen Brech-Durchfall mit Angst
und Panikattacken bekommen, daraufhin in der Praxis angerufen und gefragt, was sie machen solle. „Nach Rücksprache mit Dr.
J., der sagte Bettruhe und C. nehmen auf ½ erhöhen“ solle sie am Montag in die Praxis kommen. Mit der Arbeitsunfähigkeit gebe
es kein Problem, da es sich um eine Folgebescheinigung bzw. einen Zahlschein handele.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2017 zurück. Das Versichertenverhältnis der Klägerin
habe am 15. Dezember 2016 geendet. Am 19. Dezember 2016 sei die Klägerin nicht mehr in einem Versicherungsverhältnis mit Krankengeldanspruch
versichert gewesen. Dass die Praxis am 15. Dezember 2016 geschlossen und die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nicht in
der Lage gewesen sei, ihre behandelnden Ärzte aufzusuchen, habe für die Entscheidung keine Bedeutung, es habe die Möglichkeit
bestanden, stattdessen einen anderen Arzt aufzusuchen oder einen Hausbesuch durch den ärztlichen Notdienst zu veranlassen.
Am 21. April 2017 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Hamburg erhoben. Ihr sei es am 15. und auch am 16. Dezember 2016 nicht möglich gewesen, einen Arzt aufzusuchen. Am 15. Dezember
2016 sei die Klägerin kurz vor 5 Uhr mit ihrem Ehemann zur Praxis von Dr. J. gefahren, die Praxis sei geschlossen gewesen.
Am 16. Dezember 2016 sei ihr Ehemann nach Bremen gefahren. Ihr sei es schlecht gegangen. Sie habe in der Praxis von Dr. J.
angerufen, man habe ihr gesagt, dass sie im Bett bleiben und am Montag wiederkommen solle.
Das SG hat den Zeugen Dr. J. zunächst schriftlich um Auskunft gebeten, ob er zwischen dem 15. und 19. Dezember 2016 Kontakt (auch
telefonisch) mit der Klägerin gehabt habe und was ggf. Inhalt eines Gesprächs mit der Klägerin bzw. deren Ehemann gewesen
sei. Dr. J. hat mit Schreiben vom 18. Oktober 2018 bestätigt, dass es dazwischen keinen Kontakt mit der Patientin gegeben
habe.
Daraufhin hat die Klägerin mitgeteilt, sie habe noch einmal mit Dr. J. gesprochen. Dieser habe erklärt, er könne sich nach
so langer Zeit an den Telefonanruf nicht erinnern. Er spreche nicht so gut Deutsch und befürchte, dass die beklagte Krankenkasse
ihn in irgendeiner Weise in Regress nehme.
In einem Termin zur dann vertagten mündlichen Verhandlung vom 11. Oktober 2019 hat die Klägerin mündlich weiter vorgetragen,
dass sie am 16. Dezember 2016 Dr. J. angerufen und mit einer Sprechstundenhilfe gesprochen habe. Diese habe gesagt, dass Dr.
J. gerade neben ihr stehe. Sie habe das Gespräch der Sprechstundenhilfe mit Dr. J. mitgehört, auf Deutsch, daher habe sie
gewusst, dass es nicht seine Frau gewesen sei. Er habe gesagt, sie solle Montag wiederkommen und Bettruhe und C. empfohlen.
Im Hinblick auf die Arbeitsunfähigkeit habe er gesagt, es handele sich nur um einen Zahlschein, das könne auch noch Montag
nachgeholt werden. Dies habe ihr dann die Arzthelferin weitergegeben, aber sie habe schon alles mitgehört gehabt. Den Namen
der Arzthelferin könne sie nicht mehr erinnern.
In einem weiteren Termin zur mündlichen Verhandlung am 06. April 2021 hat das SG die Klägerin erneut persönlich angehört und Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugen S.K. (der Ehemann der Klägerin),
Dr. J. und B.R. (die Arzthelferin, die am 16. Dezember 2016 als einzige in Praxis Dienst tat). Der Zeuge Dr. J. hat bei dieser
Gelegenheit einen Brief der Klägerin an ihn vom 02. Februar 2018 zur Akte gereicht. Wegen der Einzelheiten des Ergebnisses
der Beweisaufnahme wird auf diesen Brief sowie den Inhalt des Protokolls der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
Das SG hat mit Urteil vom selben Tag die Klage als unbegründet abgewiesen.
Der angefochtene Bescheid vom 28. Dezember 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. März 2017 sei rechtmäßig und
verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten (§
54 Abs.
2 S. 1 des
Sozialgerichtsgesetzes <SGG>). Nach den Feststellungen im gerichtlichen Verfahren habe die Klägerin für den streitigen Zeitraum keinen Anspruch
auf Zahlung von Krankengeld gehabt.
Nach §
44 Abs.
1 S. 1 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (
SGB V) hätten Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Nach §
46 S. 1 Nr. 2
SGB V in der Fassung vom 16. Mai 2015 (gemeint: 16. Juli 2015 <BGBl. I 1211>) entstehe der Anspruch auf Krankengeld von dem Tag
der ärztlichen Feststellung an. Nach §
46 S. 2
SGB V bleibe der Anspruch auf Krankengeld jeweils bis zu dem Tag bestehen, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen der derselben
Krankheit ärztlich festgestellt werde, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten
Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolge; Samstage gälten insoweit nicht als Werktage. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) (Hinweis beispielhaft auf BSG, Urteile vom 16. Dezember 2014 – B 1 KR 37/14 R – und 10. Mai 2012 – B 1 KR 19/11 R –, zuletzt im Grundsatz bestätigt unter Schaffung eines neuen Ausnahmefalles: BSG, Urteile vom 11. Mai 2017 – B 3 KR 22/15 R – sowie vom 26. März 2020 – B 3 KR 9/19 R –) biete das Gesetz weder einen Anhalt für das Verständnis der Norm als bloßer Zahlungsvorschrift noch dafür, dass der Krankengeld-anspruch
gemäß §
44 SGB V schon bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit entstehe. Ob und in welchem Umfang Versicherte Krankengeld beanspruchen könnten,
bestimme sich nach dem Versicherungsverhältnis, das im Zeitpunkt des jeweils in Betracht kommenden Entstehungstatbestands
für Krankengeld vorliege, wobei bei jeder Unterbrechung des Vorliegens der Voraussetzungen die Anspruchsberechtigung erneut
geprüft werden müsse. Gemessen an diesen Grundsätzen habe die Klägerin ab dem 16. Dezember 2016 keinen Anspruch auf Krankengeld
gehabt. Im Zeitraum vom 16. bis 18. Dezember 2016 keine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bestanden, sodass in
diesem Zeitraum die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zahlung von Krankengeld nicht erfüllt gewesen seien. Am 19. Dezember
2016 (dem Tag der erneuten Feststellung der Arbeitsunfähigkeit) habe dann im Fall der Klägerin kein Versicherungsverhältnis
mit Anspruch auf Krankengeld mehr bestanden.
Die Klägerin sei bis zum 15. Dezember 2016 nach §
192 Abs.
1 Nr.
2 SGB V aufgrund ihres Krankengeldbezuges weiterhin mit Anspruch auf Krankengeld versichert gewesen. Nach §
192 Abs.
1 Nr.
2 SGB V bleibe eine Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger erhalten, solange Anspruch auf Krankengeld bestehe. Die aufgrund einer
Versicherungspflicht (versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit bis 31. August 2016: §
5 Abs.
1 Nr.
2 SGB V) bestehende Krankenversicherung der Klägerin habe somit bis zum 15. Dezember 2016 fortgewirkt. Jedoch habe dieser fortdauernde
Krankenversichertenschutz mit Ablauf des 15. Dezember 2016 geendet, da ab diesem Zeitpunkt kein weiterer Bezug von Krankengeld
mehr vorgelegen habe. Damit habe die Klägerin ab dem 16. Dezember 2016 (und damit auch am 19. Dezember 2016) grundsätzlich
keinen Anspruch auf Krankengeld mehr gehabt. Die erneute Feststellung der Arbeitsunfähigkeit habe daher nicht zu einer Zahlung
von Krankengeld führen können.
Es lägen auch keine Ausnahmegründe vor, aufgrund derer von dem oben dargestellten Grundsatz abzuweichen wäre. Durch die Rechtsprechung
würden Versicherten gleichwohl Krankengeldansprüche zuerkannt, wenn die ärztliche Feststellung (oder die rechtzeitige Meldung
der Arbeitsunfähigkeit nach §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V) durch Umstände verhindert oder verzögert worden sei, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem Verantwortungsbereich
des Versicherten zuzurechnen seien (Hinweis auf BSG, Urteile vom 11. Mai 2017 – B 3 KR 22/15 – sowie vom 26. März 2020 – B 3 KR 9/19 R –).
Nach dieser Rechtsprechung stehe dem Krankengeldanspruch eine erst verspätet erfolgte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsfeststellung
nicht entgegen, wenn
1. der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan habe, um seine Ansprüche zu wahren, indem er einen
zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufgesucht und ihm seine Beschwerden geschildert habe, um
(a) die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erreichen, und
(b) dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. -erhaltenden zeitlichen Grenzen für den Krankengeldanspruch
erfolgt sei,
2. er an der Wahrung der Krankengeldansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes gehindert
worden sei (z.B. eine irrtümlich nicht erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung), und
3. er – zusätzlich – seine Rechte bei der Krankenkasse unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend mache. Seien diese Voraussetzungen erfüllt, sei der Versicherte so zu
behandeln, als hätte er von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit erhalten (Hinweis
auf BSG, Urteil vom 11. Mai 2017 – B 3 KR 22/15 –).
Diese Rechtsprechung sei in der Folge dahingehend fortentwickelt worden, dass es einem „rechtzeitig“ erfolgten persönlichen
Arzt-Patienten-Kontakt gleichstehe, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan habe und rechtzeitig
innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. -erhaltenden zeitlichen Grenzen versucht habe, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit
als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erhalten, und es zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt aus dem Vertragsarzt
und der KK zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen sei (Hinweis auf BSG, Urteil vom 26. März 2020 – B 3 KR 9/19 R –).
Das Gericht könne sich vom Vorliegen dieser Voraussetzungen nicht überzeugen. Zunächst sei es nicht ausreichend, dass die
Klägerin am 15. Dezember 2016 zu der Praxis des Dr. J. gefahren sein wolle, diese aber geschlossen gewesen sei. Der Kläger
wäre insoweit zuzumuten gewesen, am 16. Dezember 2016 – auch dies wäre nach der gesetzlichen Konzeption noch rechtzeitig gewesen
– erneut Anstrengungen zu unternehmen, um die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit herbeizuführen. Dies habe die Klägerin nicht
getan. Das Gericht könne sich nicht überzeugen, dass dieses Versäumnis in den Verantwortungsbereich der Beklagten falle.
Soweit die Klägerin vorgetragen habe, dass ihr am 16. Dezember 2016 durch die Sprechstundenhilfe des Dr. J. telefonisch eine
Anweisung des Dr. J. weitergegeben worden sei, nach der sie am Montag wiederkommen solle, und dass dies wegen des Zahlscheins
kein Problem sei, könne das Gericht diesen Vortrag nicht zur Entscheidungsgrundlage machen, da das Gericht sich nicht mit
der nötigen Sicherheit von dieser Tatsache überzeugen könne.
Beweismittel, die die Aussage der Klägerin bestätigten, lägen über die durch die Klägerin in der persönlichen Anhörung in
den mündlichen Verhandlungen vom 11. Oktober 2019 und 06. April 2021 gemachten Aussagen hinaus nicht vor. Die Klägerin habe
in der mündlichen Verhandlung am 06. April 2021 geschildert, dass sie in der Nacht zum 16. Dezember 2016 erheblich erkrankt
sei. Sie habe sich übergeben, habe Angstzustände und Durchfall gehabt. Sie habe bereits ihre Pychotablette (Anmerkung des
Verfassers: gemeint gewesen sei das Arzneimittel C.) genommen. Daher habe sie bei Dr. J. angerufen und gedacht, dieser mache
die Krankmeldung schon fertig. So habe sie ihn auch verstanden. Am Montag habe sie noch einmal mit dem Arzt gesprochen, sie
habe nicht auf das Datum der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit geguckt. Des Weiteren habe sie geschildert, dass sie mit
dem Zeugen Dr. J. über das Psychomedikament gesprochen habe. Formuliert habe die Zeugen diese Schilderungen des Gespräches
wiederholt in einer direkten Rede des Zeugen Dr. J. mit ihr, so habe Herr Dr. J. etwa gesagt: „Am Montag kommen Sie ja wieder.“
Herr Dr. J. habe ihr noch gesagt, sie brauche keine Krankmeldung, es sei ja ein Zahlschein.
Die Angaben der Klägerin zum Kerngeschehen (Telefonat) könnten zunächst durch den Zeugen K. nicht direkt bestätigt werden,
da dieser am 16. Dezember 2016 nicht im Haus der Klägerin gewesen sei und das Telefonat nicht mitgehört habe. Er habe insoweit
lediglich mitgeteilt, dass die Klägerin ihm am Freitag gesagt habe, dass sie angerufen habe. Nach Auffassung des Gerichts
habe der Zeuge K. an den Vorfall im Jahr 2016 insgesamt keine nennenswerten Erinnerungen mehr gehabt.
Der Zeuge Dr. J. habe die Schilderungen der Klägerin nicht bestätigen können, er habe nach Überzeugung der Kammer keinerlei
Erinnerung an ein Gespräch mit der Klägerin am 16. Dezember 2016 gehabt. Ein Vermerk in der Krankenakte sei im Hinblick auf
ein etwaiges Gespräch nicht gegeben.
Die Zeugin R. habe, befragt zu der Frage, ob die Klägerin am 16. Dezember 2016 in der Praxis angerufen habe, mitgeteilt, dass
dies laut dem Computersystem der Praxis, in dem die Zeugin vor der mündlichen Verhandlung noch einmal nachgeschaut habe, nicht
der Fall gewesen sei. Die Zeugin habe Dienst gehabt, da sie immer freitags Dienst habe. Im System werde so gut wie jeder Anruf
vermerkt.
Festzuhalten bleibe insoweit zunächst, dass die Aussage der Klägerin in wesentlichen Punkten wechselhaft sei. In ihrer Schilderung
des Telefonats habe sie teilweise davon gesprochen, dass sie mit dem Zeugen Dr. J. direkt gesprochen habe. Diese Schilderung
stimme zunächst mit den von der Klägerin gemachten Ausführungen im Widerspruchsschreiben überein, sei jedoch nunmehr nicht
mehr, was die Klägerin geltend mache. In dem Schreiben vom 02. Februar 2018 an den Zeugen J. wiederum habe die Klägerin ausgeführt,
dass mit der MFA (Sprechstundenhilfe) gesprochen habe. Von einem Kontakt – und sei er auch mittelbar – mit dem Zeugen Dr.
J. werde in dem Schreiben nichts erwähnt, was insofern verwundere, als es der Kammer logisch erscheine, einen direkten oder
indirekten Kontakt in einem derartigen Schreiben zu erwähnen.
In der mündlichen Verhandlung am 11. Oktober 2019 sei es erstmals zu dem Vortrag gekommen, dass der Kontakt mit dem Zeugen
Dr. J. über die Sprechstundenhilfe erfolgt sei. An dieser Darstellung des Sachverhalts habe die Klägerin auch in der mündlichen
Verhandlung am 06. April 2021 auf Nachfrage des Gerichts ausdrücklich festgehalten. Schon das Kerngeschehen werde durch die
Klägerin demnach auf drei verschiedene Arten geschildert, wobei es sich aus Sicht des Gerichts um ein Detail handle, welches
auch bei Schilderungen in erheblichen zeitlichem Abstand konstant bleiben sollte.
Die insoweit in ihrer Glaubhaftigkeit eingeschränkte Aussage werde durch die Aussage des Zeugen K. nicht direkt bestätigt.
Auch der Zeuge Dr. J., dessen Zeugenaussage hier kein besonderes Gewicht zugemessen werde, habe diese Darstellung nicht bestätigen
können, weder aus der eigenen Erinnerung noch aus der Krankenakte. Auch die Aussage der Zeugin R. habe die Angaben der Klägerin
nicht bestätigen können. Diese habe vielmehr Umstände geschildert, die den Vortrag der Klägerin zumindest ernsthaft in Frage
stellten. So habe die Zeugin ausgeführt, dass Anrufe von Patienten grundsätzlich in das Computersystem aufgenommen würden.
Ein Anruf der Klägerin sei nicht vermerkt.
Dies habe für das Gericht eine erhebliche Aussagekraft, da die Klägerin nach ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung
ein Gespräch geschildert habe, welches aus Sicht des Gerichts in jedem Fall einen Inhalt gehabt habe, der eines Vermerks bedurft
hätte. So sei nach der Klägerin nicht nur das Thema der Zahlscheine besprochen worden, für sich schon ein Grund für einen
Vermerk, sondern die Klägerin habe darüber hinaus auch noch vorgetragen, dass sie auch über ihre Medikation und die Sorge
einer Überdosierung gesprochen habe. Insoweit erscheine es dem Gericht im Hinblick auf den von der Zeugin R. bei der Vernehmung
gemachten Eindruck nicht wahrscheinlich, dass ein derartig umfangreiches Gespräch nicht im Computersystem vermerkt worden
wäre.
Sofern die Klägerin darüber hinaus vorgetragen habe, dass der Zeuge Dr. J. ihr später mitgeteilt habe, er habe das Antwortschreiben
an das Gericht verfasst, weil er Angst vor etwaigen Rückgriffen der Krankenkasse habe, habe dies für das Gericht keine Relevanz,
zumal dies auch durch den Zeugen K. nicht positiv habe bestätigt werden können. Das Gericht habe insoweit in der mündlichen
Verhandlung nicht den Eindruck gewonnen, dass seitens des Zeugen Dr. J. bei der Beantwortung der gerichtlichen Anfrage im
Jahr 2018 aus etwaiger Angst vor Regressansprüchen der Krankenkasse bewusst gelogen worden sei, was die Klägerin ihm mit dieser
Einlassung im Ergebnis unterstelle. Vielmehr scheine dieser lediglich keine konkrete Erinnerung an ein etwaiges mittelbares
Telefonat mit der Klägerin zu haben, was anhand eines derartigen Massengeschäfts nicht verwunderlich sei.
Eine Gesamtschau der genannten Umstände führe das Gericht hier zu dem Ergebnis, dass zumindest nicht positiv festgestellt
werden könne, dass die Klägerin am 16. Dezember 2016 in der Praxis des Zeugen Dr. J. angerufen habe. Der Vortrag sei im Hinblick
auf das Kerngeschehen zu widersprüchlich, um für sich genommen ausreichend zu sein, um das Gericht zu überzeugen. Hinzu komme,
dass die übrigen Anhaltspunkte den Vortrag nicht stützten, sondern eher gegen den Vortrag der Klägerin sprächen, auch wenn
sie nicht schlichtweg ausschlössen, dass der Vortrag der Klägerin zutreffe. Dies sei jedoch für das Gericht nicht ausreichend.
Im Ergebnis bleibe unaufgeklärt, was am 16. Dezember 2016 und in der Folge zwischen der Klägerin und dem Zeugen Dr. J. vorgefallen
sei. Diese Unaufgeklärtheit des Sachverhalts führe zu einer Entscheidung zu Lasten der Klägerin.
Auch vom Vorliegen einer Geschäfts- und Handlungsunfähigkeit der Klägerin am 16. Dezember 2016 könne sich das Gericht nicht
überzeugen. Unterbleibe die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit etwa allein deshalb, weil den Versicherten nach
den Umständen des Falles Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit gehindert habe, seine Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig feststellen
zu lassen, so sei der Tag des Beginns der Arbeitsunfähigkeit und nicht der Tag der ärztlichen Feststellung der für die Berechnung
des Krankengelds maßgebende Zeitpunkt (Hinweis auf BSG, Urteil vom 22. Juni 1966 – 3 RK 14/64 –). In diesem Fall könne dementsprechend die unterbliebene Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ausnahmsweise rückwirkend
nachgeholt werden (Hinweis auf BSG, Urteile vom 26. Juni 2007 – B 1 KR 37/06 R – und 05. Mai 2009 – B 1 KR 20/08 R –). Hiervon könne sich das Gericht nicht überzeugen. Das von der Klägerin geschilderte Krankenbild sei insoweit nicht ausreichend,
um von einer Handlungsunfähigkeit auszugehen. Auch hier sei für das Gericht nicht aufgrund von objektiven Anhaltspunkten nachvollziehbar,
wie krank die Klägerin am 16. Dezember 2016 tatsächlich gewesen sei und auf welche Weise und in welcher Qualität sich dies
manifestiert habe.
Gegen dieses ihren Prozessbevollmächtigten am 01. Juni 2021 zugestellte Urteil richtet sich die am 29. Juni 2021 eingelegte
Berufung der Klägerin, mit der sie die Beweiswürdigung des SG als fehlerhaft rügt. Ihre Angaben zum Sachverhalt seien mitnichten wechselhaft, sondern stringent gewesen, in weiten Teilen
von ihrem Ehemann bestätigt und von den anderen Zeugen nicht widerlegt worden. Die unerwartete Schließung der Praxis am 15.
Dezember 2016 sei sowohl von ihr als auch von ihrem Ehemann glaubhaft geschildert worden. Ihre Angaben zum Telefonat am 16.
Dezember 2016 seien durchgehend glaubhaft und detailliert gewesen. Sie habe nie behauptet, mit Dr. J. selbst gesprochen zu
haben. Ihre Angaben hierzu seien in Teilen vom Ehemann bestätigt worden. Die Zeugen Dr. J. und R. hätten diese Angaben nicht
widerlegt, sondern sich letztlich nur auf eine fehlende Dokumentation und eine fehlende Erinnerung berufen. Beide seien sichtlich
bemüht gewesen, ordnungsgemäße Abläufe der Praxis darzustellen. Bezeichnend sei, dass die Zeugin R. ihre Ladung und Befragung
als „Anklage“ verstanden habe. Dass die Praxisdokumentation im System nicht lückenlos sei, zeige schon der Umstand, dass die
Praxisschließung am 15. Dezember 2016 dort nicht hinterlegt sei. Der Inhalt des klägerischen Schreibens vom 02. Februar 2018
stehe nicht im Widerspruch zu ihrem übrigen Aussagen. Dass sie im November 2018 nach den schriftlichen Einlassungen des Zeugen
Dr. J. gegenüber dem SG noch einmal das Gespräch mit ihm gesucht habe, sei von ihrem dabei ebenfalls anwesenden Ehemann bestätigt worden. Dass Dr.
J. zunächst angegeben habe, dass es ein solches Gespräch nicht gegeben habe, sei unbeachtlich. Denn im weiteren Verlauf seiner
Befragung habe er lediglich geäußert, dass er keine Erinnerung daran habe. Schließlich sei eine durchgehend bestehende Arbeitsunfähigkeit
nach den Angaben sowohl von Dr. J. als auch Dr. O. gesichert.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgericht Hamburg vom 06. April 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2016 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 23. März 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Krankengeld über den 15. Dezember
2016 hinaus bis zum 13. April 2017 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig. Die Klägerin missachte die Grundregeln der prozessualen Beweislast. Die
Zeugen Dr. J. und R. hätten sehr klar ausgesagt, dass es am 15. oder 16. Dezember 2016 keinen telefonischen Kontakt mit der
Klägerin gegeben habe.
Die Beteiligten haben durch Erklärungen vom 29. November 2021 (Klägerin) und 30. November 2021 (Beklagte) ihr Einverständnis
mit einer Entscheidung des Berichterstatters als Einzelrichter anstelle des Senats erteilt (§
155 Abs.
3 und
4 SGG).
Am 27. April 2022 hat der Berichterstatter über die Berufung mündlich verhandelt, die Klägerin wiederholt persönlich angehört
und weiter Beweis erhoben durch erneute uneidliche Vernehmung der Zeugen S.K., Dr. A. J. und B.R., diesmal im Hinblick auf
die in der Verhandlung vor dem SG zu Tage getretenen sprachlichen Schwierigkeiten der beiden erstgenannten Zeugen unter Mitwirkung eines Dolmetschers für die
arabische Sprache. Wegen der Einzelheiten des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten, die Sitzungsniederschrift vom 27.
April 2022 sowie den weiteren Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten nebst Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte (§§
143,
144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§
151 SGG) Berufung ist begründet. Das SG hat die zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.
1 und 4
SGG) zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2016 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 23.
März 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte
auf Gewährung von Krankengeld über den 15. Dezember 2016 hinaus bis zum 13. April 2017.
Das SG hat die rechtlichen Grundlagen für den geltend gemachten Anspruch einschließlich der dazu ergangenen Rechtsprechung zutreffend
dargestellt, sodass zur Vermeidung von Wiederholungen hierauf Bezug genommen werden kann (§
153 Abs.
2 SGG). Anders als das SG hält der erkennende Senat trotz der Lücke in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen die Voraussetzungen für einen durchgehenden
Krankengeldanspruch jedoch wegen des Vorliegens eines Ausnahmegrunds im Sinne der aktuellen, vom erkennenden Senat für zutreffend
befundenen aktuellen Rechtsprechung des BSG für gegeben.
Das BSG lässt nunmehr Ausnahmen von der rechtzeitigen Feststellung weiterer Arbeitsunfähigkeit auch bei nichtmedizinischen Fehlentscheidungen
eines Arztes zu (BSG, Urteil vom 11. Mai 2017 – B 3 KR 22/15 R –) und verlangt in weiterer Fortentwicklung seiner Rechtsprechung auch nicht mehr, dass es zu einem persönlichen Arzt-Patient-Kontakt
gekommen sein muss, in dessen Rahmen dann die Fehlentscheidung getroffen wurde (BSG, Urteil vom 26. März 2020 – B 3 KR 9/19 R, dazu Knispel, jurisPR-SozR 17/2020 Anm. 3). Es reicht nun aus, dass es aus dem Arzt und den Krankenkassen zuzurechnenden
Umständen nicht zu einem persönlichen Arzt-Patient-Kontakt gekommen ist. Für die Zuordnung der Verantwortungsbereiche ist
von zentraler Bedeutung, dass unverändert die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie (AU-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)
mit der Zulassung einer rückwirkenden Feststellung von Arbeitsunfähigkeit (§ 5 Abs. 3 S. 2 AU-RL) geeignet ist, bei Vertragsärzten
und ihrem Personal die Fehlvorstellung zu unterhalten, es sei nicht erforderlich, einen Termin zur „nahtlosen“ AU-Feststellung
zu vergeben, da auch ein späterer Termin nicht leistungsschädlich sei. Insoweit kann regelmäßig davon ausgegangen werden,
dass Terminvergaben von dieser Fehlvorstellung gesteuert oder zumindest beeinflusst sind. Hinsichtlich der Anforderungen an
die zumutbaren Bemühungen der Versicherten gilt nunmehr, dass das Aufsuchen anderer Ärzte oder gar des Notdienstes nicht verlangt
werden darf.
Zudem muss berücksichtigt werden, dass der endgültige Verlust des Krankengeldanspruchs für die Versicherten eine große Härte
bedeutet. Das BSG hat zu Recht mit Blick auf das soziale Schutzbedürfnis der Versicherten in der GKV zu ihrer finanziellen Absicherung im Krankheitsfall
und die Verhältnismäßigkeit von leistungsrechtlichen Folgen bei tatsächlichen Fristversäumnissen auf das verfassungsrechtliche
Übermaßverbot hingewiesen, das vor allem in zweifelsfreien Arbeitsunfähigkeitsfällen ein Zurücktreten der mit §
46 S. 2
SGB V verfolgten Missbrauchsabwehr gegenüber dem sozialen Schutzbedürfnis rechtfertige (BSG, Urteil vom 26. März 2020 – B 3 KR 9/19 R –). Somit darf nicht durch zu hohe Anforderungen an ihre Bemühungen um eine Arbeitsunfähigkeitsfeststellung ein Anspruchsverlust
herbeigeführt werden (s. hierzu nur die zutreffend zusammenfassende Darstellung bei Knispel, jurisPR-SozR 2/2021 Anm. 2).
Der Gesetzgeber hat der besonderen Härte erst durch Einfügung des neuen §
46 S. 3
SGB V mit Wirkung vom 11. Mai 2019 (BGBl. I 646) Rechnung getragen, wonach für Versicherte, deren Mitgliedschaft vom Bestand des
Anspruchs auf Krankengeld abhängig ist, der Anspruch auch dann bestehen bleibt, wenn die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen
derselben Krankheit nicht am nächsten Werktag, aber spätestens innerhalb eines Monats nach dem zuletzt bescheinigten Ende
der Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird. Diese gesetzliche Neuregelung ist im Fall der Klägerin allerdings noch
nicht anwendbar.
Anders als das SG ist das erkennende Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin sich am letzten Tag, an dem eine lückenlose Arbeitsunfähigkeitsschreibung
auch ohne vorherige Terminvereinbarung üblich und möglich gewesen wäre, dem 16. Dezember 2016, telefonisch an die Arztpraxis
des Dr. J. wandte und die Auskunft bekam, sie solle wegen des geschilderten akuten Brech-Durchfalls mit Angst und Panikattacken zu Hause
bleiben und am folgenden Montag in die Praxis kommen, dies sei im Hinblick auf den Krankengeldanspruch leistungsunschädlich,
weil es sich lediglich um eine Folgebescheinigung, um einen Zahlschein handele.
Legt man diesen Sachverhalt zugrunde, sind sämtliche Voraussetzungen der neueren Rechtsprechung des BSG für die Unschädlichkeit einer verspätet erfolgten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsfeststellung gegeben. Es ist der Klägerin
nicht vorzuhalten, dass sie am 15. Dezember 2016 ohne Termin am Nachmittag in der Praxis erschien, weil dies so üblich war
und im Übrigen auch eine ärztliche Vorstellung am Folgetag noch ausgereicht hätte, um lückenlos die Arbeitsunfähigkeit bescheinigt
zu bekommen. Ebenso wenig ist der Klägerin vorzuhalten, dass sie nach der Feststellung, dass die Praxis unerwartet geschlossen
war, nicht einen anderen Arzt aufgesucht oder den ärztlichen Notdienst gerufen hatte. Zum einen hätte ja noch eine Vorstellung
am Folgetag ausgereicht, zum anderen wird ein solches „Ärzte-Hopping“ nach der neueren BSG-Rechtsprechung zu Recht von den Versicherten nicht (mehr) verlangt. Die Schilderung der telefonischen Auskunft am 16. Dezember
2016, auf die die Klägerin vertrauen durfte und deren Fehlerhaftigkeit dem Verantwortungsbereich der Beklagten zuzurechnen
ist, entspricht einer angesichts der bis heute unveränderten Regelung in § 5 Abs. 3 AU-RL und der dadurch bei vielen Ärzten hervorgerufenen, auch vom BSG in Bezug genommenen Fehlvorstellung immer wieder vorkommenden und daher lebensnahen Konstellation. So hat auch der in seinen
Angaben erkennbar defensive, das Einräumen von Fehlern sichtlich vermeiden wollende Zeuge Dr. J. auf Befragen durch den Berichterstatter danach, ob eine solche Fehlvorstellung auch bei ihm bestanden habe, jedenfalls eingeräumt,
dass es in sehr seltenen Fällen auch von ihm rückwirkende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gegeben habe. Sowohl Dr. J. als auch die Zeugin R. haben auf entsprechende Nachfrage ausdrücklich nicht erklärt, dass der von der unstreitig durchgehend arbeitsunfähigen Klägerin
geschilderte Sachverhalt ausgeschlossen sei, sondern dass er dazu nichts sagen könne (Zeuge Dr. J. ) bzw. dass sie dies nicht wisse (Zeugin R. ).
Die Einlassungen der Klägerin wiederum sind entgegen den Ausführungen des SG nicht in sich widersprüchlich, sondern im Gegenteil im Hinblick auf das Kerngeschehen durchgehend konsistent.
Bereits in ihren ersten Angaben in dem im Januar 2017 eingeleiteten Widerspruchsverfahren berichtete die damals noch unvertretene
Klägerin von der unerwarteten Schließung der Praxis am 15. Dezember 2016, dem Brech-Durchfall mit Angst und Panikattacken
am Folgetag und ihrem Anruf in der Praxis mit der Frage, was sie machen solle. Sie gab nicht an, direkt mit dem Zeugen Dr. J. gesprochen zu haben, sondern „nach Rücksprache“ sei gesagt worden „Bettruhe und C. nehmen auf ½ erhöhen“, und sie solle am Montag in die Praxis kommen; mit der Arbeitsunfähigkeit
gebe es kein Problem, da es sich um eine Folgebescheinigung bzw. einen Zahlschein handele. Bereits diese Detailtreue im Hinblick
nicht nur auf die ärztliche Anweisung, sondern auch auf die Begründung dafür, dass ein Aufsuchen der Praxis am Montag reiche,
sind für das erkennende Gericht ein deutlicher Hinweis darauf, dass diese Schilderung den Tatsachen entsprach.
Die Schilderung der nunmehr von der Klägerin beauftragten Prozessbevollmächtigten im Klageverfahren (Schriftsatz vom 13. Juli
2017), wonach die Klägerin Dr. J. telefonisch konsultiert habe, der ihr ein Medikament und Bettruhe verordnet habe, stammt
zum einen nicht unmittelbar von der Klägerin und bedeutet zum anderen nicht zwingend, dass der telefonische Kontakt unmittelbar
zwischen der Klägerin und Dr. J. stattfand.
In dem von Dr. J. erst im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem SG vorgelegten Brief der Klägerin an ihn vom 02. Februar 2018 gab die Klägerin explizit an, eine Arzthelferin („MFA“) telefonisch
gefragt zu haben, was sie machen solle, die ihr dann mitgeteilt habe, dass sie wegen der Arbeitsunfähigkeit am Montag kommen
könne, da es sich um eine Folgebescheinigung handele. Anders als des SG meint, erscheint es nicht zwingend, dass die Klägerin in diesem Zusammenhang, ohne dass es ersichtlich darauf ankam, konkrete
Angaben dazu macht, dass die telefonische Auskunft der Arzthelferin möglicherweise auf eine direkte Rücksprache mit dem neben
ihr stehenden Arzt zurückging.
In den Terminen zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 11. Oktober 2019 und am 06. April 2021 hat die Klägerin dann übereinstimmend auf direktes Befragen angegeben, dass das
Telefonat mit einer an der Anmeldung befindlichen Arzthelferin („es war Gewühle, einfach laut“) geführt worden sei, Dr. J.
jedoch hörbar danebengestanden habe, die Anweisungen zur Bettruhe und Medikamenteneinnahme gegeben, ein Aufsuchen der Praxis
am Montag empfohlen und als aus näher benannten Gründen unschädlich bezeichnet habe, was wiederum die Arzthelferin gegenüber
der Klägerin wiederholt habe. Bemerkenswert und ein weiterer Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin ist
hier die ergänzende Anmerkung, dass die Arzthelferin mit Dr. J. auf Deutsch gesprochen habe und daher nicht dessen Ehefrau
gewesen sein könne.
Im Berufungsverfahren hat die unverstellt redende Klägerin diesen Hergang im Wesentlichen bestätigt, auch wenn sie nunmehr
eingeflochten hat, sie könne nicht mehr genau sagen, ob sie – neben der Arzthelferin – auch mit Dr. J. persönlich gesprochen
habe, dessen Stimme sie jedoch auf jeden Fall gehört habe. Nachlassende Erinnerung und bestehende Unsicherheiten sind angesichts
des Zeitablaufs ohne weiteres nachvollziehbar. Entscheidend für die Frage, ob ein Ausnahmegrund im Sinne der neueren Rechtsprechung
des BSG vorliegt, ist auch nicht, welcher Gesprächspartner aus der Praxis unmittelbar welche Angaben gegenüber der Klägerin gemacht
hat, sondern der Inhalt der Auskunft, der wiederum über die Jahre im Kern gleichbleibend und glaubhaft geschildert worden
ist. Daneben steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass das Telefonat von der Zeugin R. angenommen wurde, der an der Anmeldung
gerade neben ihr stehende Zeuge Dr. J. jedenfalls mittelbar in das Gespräch einbezogen wurde und die von der Klägerin geschilderten
Auskünfte auf ihn als Urheber zurückgingen. Weder die Zeugin R. noch der Zeuge Dr. J. haben ausschließen können, dass sich
das Geschehen so zutrug. Beide haben nachvollziehbar ausgeführt, dass sie keine Erinnerung an das Geschehen (mehr) haben.
Der Ehemann der Klägerin hat jedenfalls indirekt bestätigt, dass am 16. Dezember 2016 ein Telefonat der Klägerin mit der Praxis
Dr. J. stattgefunden habe, indem er die diesbezügliche Auskunft der Klägerin am Abend jenes Tages ihm gegenüber angegeben
hat. Soweit die Zeugen Dr. J. und R. sich darauf berufen, dass ein solches Telefonat im Computersystem der Praxis grundsätzlich
vermerkt worden wäre, kann nicht ausgeschlossen werden – und wird von den Beteiligten auch nicht kategorisch ausgeschlossen
–, dass dies abweichend vom Regelfall hier im Einzelfall unterblieb. Bei lebensnaher Betrachtungsweise muss unterstellt werden,
dass in der Hektik des Alltags eigentlich vorgesehene Handlungen unterbleiben können. Erfahrungsgemäß nimmt man sich schon
einmal vor, eigentlich sofort zu erledigende Dinge dann später zu erledigen, wenn es ruhiger ist, und diese geraten dann doch
in Vergessenheit. Für eine solche Situation spricht hier die Angabe der Klägerin, dass es während des Gesprächs im Bereich
der Anmeldung der Praxis sehr laut („Gewühle“) gewesen sei. Eine solche Situation würde auch zwanglos erklären, dass ausnahmsweise
und nebenbei die telefonische Anfrage der Klägerin an den zufällig anwesenden Arzt weitergegeben und von diesem über die Arzthelferin
beantwortet wurde. Eine exorbitant große Bedeutung vermag das Gericht dem unterbliebenen Vermerk im Übrigen nicht beizumessen.
Insbesondere dürfte die telefonische Vorsprache für die Abrechnung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung ohne Belang
sein, weil die Klägerin in jenem Quartal in der Praxis bereits behandelt worden war. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang
ist, dass die durchaus bedeutsame, durchgängig von der Klägerin angegebene, von ihrem Ehemann bestätigte, weder von Dr. J.
noch von der Zeugin R. bestrittene und daher als wahr anzunehmende Praxisschließung jedenfalls am Nachmittag des 15. Dezember
2016 im Computersystem der Praxis nicht vermerkt ist, was dafür spricht, dass darin nicht alle wesentlichen Vorgänge festgehalten
werden.
Schließlich spricht für die Richtigkeit der klägerischen Schilderung der Vorgänge am 15. und 16. Dezember 2016 der Umstand,
dass sich die Klägerin nach ihrem Schreiben an den Arzt vom 02. Februar 2018 und dessen Auskunft gegenüber dem SG, wonach es an diesen Tagen keine Kontakte gegeben habe, an Dr. J. wandte und ihn im November 2018 aufsuchte. Dieses Vorbringen ist von ihrem Ehemann bei beiden Befragungen bestätigt worden
einschließlich des dahingehenden Inhalts, dass die Klägerin den Arzt gebeten habe, ein weiteres Schreiben an die Krankenkasse
aufzusetzen, um die Dinge in ihrem Sinne richtig zu stellen, was der Arzt am Ende zugesagt habe. Dafür, dass dies so gewesen
ist, spricht, dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr bei Dr. J. als Hausarzt in Behandlung war und ihn trotzdem einmalig aufsuchte, was jener in der Verhandlung vor dem SG nach einem Blick in die Kartei der Klägerin (eine Sammlung loser Blätter) bestätigt hat. Dass Dr. J. das Stattfinden dieses Gesprächs zunächst in Abrede gestellt, dann im weiteren Verlauf seiner Befragung(en) jeweils zumindest
nicht mehr ausgeschlossen und sich auf fehlende Erinnerung berufen hat, relativiert die Glaubhaftigkeit seiner Angaben, soweit
sie über eine fehlende Erinnerung hinausgehen. Soweit die Klägerin Äußerungen des Zeugen Dr. J. wiedergibt, wonach er Angst vor einem Regress gehabt habe, erscheint dies nach dem Eindruck des Gerichts von dem Zeugen in
der mündlichen Verhandlung ohne weiteres nachvollziehbar. Sowohl er als auch die Zeugin R. , die ja schon das Prozedere vor dem SG als Anklage empfunden hat, sind ersichtlich bemüht gewesen, sich bei ihren Aussagen zurückzuhalten und jede Gefahr von Angaben,
die den Eindruck von nicht hundertprozentig korrektem Vorgehen in der Praxis erwecken könnten, zu vermeiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 oder 2
SGG liegen nicht vor.