Tatbestand
Die Beteiligten streiten über eine Entschädigung wegen überlanger Dauer eines vor dem Sozialgericht (SG) und im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Hamburg geführten Verfahrens.
Die Klägerin erhob am 14. Mai 2010 Klage (Az.: S 31 EG 9 /10) vor dem SG Hamburg gegen die Freie und Hansestadt Hamburg wegen
Erziehungsgeldes in Höhe von 300 Euro monatlich für die Zeit vom 19. November 2007 bis 2. April 2008. Das Verfahren wurde
erstinstanzlich durch klageabweisendes Urteil vom 20. August 2013 beendet. Hiergegen legte die Klägerin am 8. November 2013
Berufung vor dem LSG Hamburg ein (Az. 1 EG 8/13), die am 24. Oktober 2019 zurückgewiesen wurde. Das Verfahren stellt sich
chronologisch wie folgt dar:
Datum
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Beteiligter
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Aktivität
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14.5.2010
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Klägerin
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Klageerhebung
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19.5.2010
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SG
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Eingangsverfügung
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17.6.2010
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Beklagte
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Klageerwiderung
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23.6.2010
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SG
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Verfügung (PKH Vorprüfung)
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23.7.2012
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SG
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Verfügung (Hinweis an Klägerin)
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13.8.2012
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Klägerin
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Eingang weiterer Klagebegründung
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15.8.2012
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SG
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Verfügung (Stellungnahme Beklagte)
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30.11.2012
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SG
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Terminierung zur Sitzung am 22.1.2013
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16.12.2012
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Klägerin
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Verzögerungsrüge
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20.12.2012
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SG
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Terminsaufhebung wegen Mandatsentziehung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin
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4.3.2013
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SG
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Verfügung (Anfrage Klägerin)
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18.4.2013
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SG
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Verfügung (erneute Anfrage Klägerin)
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26.4.2013
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SG
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Entbindung des beigeordneten Prozessbevollmächtigten
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17.6.2013
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SG
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Terminierung zur Sitzung am 23.7.2013
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19.7.2013
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SG
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Umladung auf den 20.8.2013
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20.8.2013
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SG
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Mündliche Verhandlung und Urteil
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8.11.2013
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Klägerin
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Eingang Berufung beim LSG
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15.11.2013
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LSG
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Eingangsverfügung
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21.11.2013
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Klägerin
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Eingang Berufungsbegründung
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2.12.2013
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Beklagte
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Eingang Berufungserwiderung
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16.12.2013
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Beklagte
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Ergänzung der Berufungserwiderung
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20.1.2014
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LSG
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Verfügung (Berufungserwiderung)
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15.5.2014
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LSG
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Verfügung (erneut Berufungserwiderung wegen falscher Adresse der Klägerin)
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1.7.2014
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LSG
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Verfügung: Wiedervorlage 1.10.2014
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1.10.2014
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LSG
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Verfügung: „zur Sitzung“
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10.11.2014
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Klägerin
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Verzögerungsrüge
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11.11.2014
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LSG
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Verfügung (Verzicht auf mündliche Verhandlung?)
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18.11.2014
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Beklagte
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Verzicht auf mündliche Verhandlung
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18.12.2014
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Klägerin
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Verzögerungsrüge
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14.1.2015
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LSG
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Mitteilung Senatswechsel
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15.1.2015
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LSG
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Erinnerung an Klägerin (Verzicht auf mündliche Verhandlung?)
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27.8.2015
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LSG
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Erneute Erinnerung
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29.9.2015
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LSG
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Anfrage Klägerin (Fortsetzung des Verfahrens?)
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28.10.2015
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Klägerin
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Verzicht auf mündliche Verhandlung
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9.12.2015
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LSG
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Terminierung auf 18.2.2016
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23.12.2015
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Klägerin
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Verzögerungsrüge
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15.2.2016
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LSG
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Termin zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung wird aufgehoben
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1.8.2016
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Klägerin
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Verzögerungsrüge
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22.10.2019
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LSG
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Terminierung auf 24.10.2019 (Entscheidung ohne mündliche Verhandlung)
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24.10.2019
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LSG
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Urteil (Klageabweisung)
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Das Urteil des Landessozialgerichts, in dem die Revision nicht zugelassen worden war, sollte der Klägerin laut Verfügung vom
17. Februar 2020 per Einschreiben mit Rückschein zugestellt werden. Während der Beklagten die Entscheidung laut Empfangsbekenntnis
vom 18. Februar 2020 an diesem Tag zugestellt wurde, gelangte der Rückschein des Zustellungsversuchs an die Klägerin nicht
zur Akte. Unter dem 4. Mai 2020 forderte das Bundessozialgericht die Verfahrensakten an, da ein Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe zur Durchführung einer Nichtzulassungsbeschwerde eingegangen sei. Mit Beschluss vom 28. Oktober 2020 lehnte
das Bundessozialgericht den Antrag auf Prozesskostenhilfe ab. In den Gründen heißt es, dass der Klägerin nach deren eigenen
Angaben das Urteil des Landessozialgerichts am 13. März 2020 zugestellt worden sei.
Die Klägerin erhob per Telefax am 15. Dezember 2020 Klage wegen überlanger Dauer des Ausgangsverfahrens.
Sie trägt vor, das Ausgangsverfahren habe insgesamt 9 Jahre, 9 Monate und 27 Tage gedauert, nämlich vom 16. Mai 2010 bis 3.
September 2013 in der ersten Instanz und vom 7. November 2013 bis 13. März 2020 („= Datum der Zustellung des Urteils des LSG
Hamburg vom 24.10. 2019“) im Berufungsrechtszug. Die zu entschädigende überlange Dauer in der ersten Instanz betrage zwei
Jahre, drei Monate und 17 Tage und in der zweiten Instanz fünf Jahre, vier Monate und sechs Tage. Damit liege ein unvertretbarer
gerichtlicher Verzug auch nach Berücksichtigung der gerichtlichen Vorbereitungs- und Einarbeitungszeit vor. Die unangemessene
Dauer sei mehrfach gerügt worden. Eine Wiedergutmachung auf andere Weise als Entschädigung sei nicht ausreichend.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Entschädigung in angemessener Höhe, mindestens von 9.177 Euro, zuzüglich Prozesszinsen
in Höhe von 5 Prozentpunkten über den jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im Rahmen des dieser Klage vorausgegangenen Verfahrens über die von der Klägerin beantragte Prozesskostenhilfe für die Durchführung
des Entschädigungsverfahrens hat die Beklagte vorgetragen, es liege nur eine Verzögerung von 41 Monaten vor. Da Verfahrensrügen
nur sechs Monate zurückwirkten, ergebe sich für das erstinstanzliche Verfahren nur eine Entschädigungspflicht für Juli 2012.
Aufgrund der Verzögerungsrüge vom 23. Dezember 2015 seien nur die Monate Juni, Juli und August 2015 entschädigungspflichtig.
Der Senat hat über die Klage am 20. Oktober 2021 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird ebenso Bezug genommen
wie auf den Inhalt der beigezogenen Akte LSG Hamburg, Aktenzeichen: L 1 EG 8/13 .
Entscheidungsgründe
Die Klage hat teilweise Erfolg, da die Klägerin von der Beklagten aus §
198 Abs.
1 Satz 1
Gerichtsverfassungsgesetz (
GVG) 4.600 Euro als Entschädigung für die überlange Dauer des Ausgangsverfahrens beanspruchen kann.
I. Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage statthaft. Maßgebend für das Entschädigungsklageverfahren sind §§
198 ff.
GVG sowie §§
183,
197a und
202 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Nach §
201 Abs.
2 Satz 1
GVG in Verbindung mit §
202 Satz 2
SGG sind die Vorschriften des
SGG über das Verfahren im ersten Rechtszug heranzuziehen. Nach §
54 Abs.
5 SGG kann mit der Klage die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn
ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Die Klägerin stützt die Entschädigungszahlung auf §
198 GVG, wonach angemessen entschädigt wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter
einen Nachteil erleidet (Satz 1 der Vorschrift). Eine vorherige Verwaltungsentscheidung sieht das Gesetz nicht vor.
Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. Die Klagefrist des §
198 Abs.
5 Satz 2
GVG, wonach eine auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer gerichtete Klage spätestens sechs Monate nach Eintritt der
Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden muss,
ist eingehalten. Das Urteil des Landessozialgerichts im Ausgangsverfahren ist mit Ablauf des 15. Juni 2020 in Rechtskraft
erwachsen. Grundsätzlich wird ein Urteil eines Landessozialgerichts, das die Revision nicht zugelassen hat, mit Ablauf der
Frist für die Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig (§
202 SGG; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl. Rn. 2b zu §
141). Der Lauf der Rechtsbehelfsfrist beginnt ab Zustellung an den jeweiligen Beteiligten. Im Ausgangsverfahren kann die in Bulgarien
zu erfolgende Zustellung an die Klägerin mit Einschreiben und Rückschein nicht nachgewiesen werden, da der Rückschein nicht
zur Akte gelangte. Für diesen Fall gilt gemäß §
63 Abs.
2 Satz 1
SGG in Verbindung mit §
189 Zivilprozessordnung (
ZPO), dass das Dokument als zu dem Zeitpunkt zugestellt gilt, an dem es der Person, an die die Zustellung gerichtet war, tatsächlich
zuging. Die Klägerin hat mehrfach vorgetragen, dass sie das Urteil des Ausgangsverfahrens am 13. März 2020 erhalten habe,
sodass mangels anderer Anhaltspunkte von diesem Zeitpunkt als tatsächlichem Zugangszeitpunkt auszugehen ist. Die bei einer
Auslandszustellung maßgebliche dreimonatige Beschwerdefrist (vgl. BSG, Beschluss vom 4. Juni 1975 – 11 BA 4/75, BSGE 40, 40) lief damit am 15. Juni 2020 ab, da der 13. Juni 2020 ein Sonnabend war (§
64 Abs.
3 SGG). Die am 15. Dezember 2020 erhobene Entschädigungsklage hat die sechsmonatige Frist gewahrt, denn im Sozialgerichtsprozess
setzt die Klagerhebung im Gegensatz zu §
253 Abs.1
ZPO keine Zustellung der Klage voraus. Lediglich der Eintritt der Rechtshängigkeit ist gemäß §
94 Satz 2
SGG aufgeschoben (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – B 10 ÜG 1/19 R – SozR 4-1720 § 198 Nr. 20; Schmidt, a.a.O, Rn. 30 zu § 202; Kaltenstein,
WzS 2020, 259, 262).
II. Die Klage ist in Höhe von 4.600 Euro auch begründet. Das Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht war anders als
das Klageverfahren vor dem Sozialgericht unangemessen lang. Insgesamt ergeben sich 46 Kalendermonate der Verzögerung. Eine
Wiedergutmachung auf andere Weise, insbesondere durch Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer, ist nach den hier gegebenen
Umständen nicht ausreichend. Die Klägerin kann eine Entschädigung in Höhe von 4.600 Euro beanspruchen.
Grundlage für den geltend gemachten Entschädigungsanspruch ist §
198 Abs.
1 Satz 1
GVG. Danach wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter
einen Nachteil erleidet. Für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit
nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß §
198 Abs.
4 GVG ausreichend ist (§
198 Abs.
2 Satz 2
GVG). Die Entschädigung beträgt 1.200,- EUR für jedes Jahr der Verzögerung, es sei denn, dieser Betrag ist nach den Umständen
des Einzelfalles unbillig (§
198 Abs.
2 Sätze 3 und 4
GVG). Eine Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer
des Verfahrens gerügt hat (§
198 Abs.
3 Satz 1
GVG).
1. Soweit die Klägerin Entschädigung in Geld aus §
202 Satz 2
SGG in Verbindung mit §
198 Abs.
1 GVG für eine möglicherweise im ersten Rechtszug entstandene Verzögerung begehrt, fehlt es an einer rechtzeitig erhobenen Verzögerungsrüge
(§
198 Abs.
3 Satz 1
GVG). Die Klägerin hat im Ausgangsverfahren am 14. Mai 2010 Klage vor dem Sozialgericht erhoben. Zu diesem Zeitpunkt war das
Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011
(BGBl. I S. 2302 – ÜGRG) noch nicht in Kraft getreten.
a) In anhängigen Verfahren, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜGRG (3. Dezember 2011) schon verzögert waren, war die
Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten zu erheben, Art. 23 Satz 2 ÜGRG. Bei dieser Frist handelt es sich um eine
materielle Ausschlussfrist. Sie präkludiert nicht nur den Anspruch auf Zahlung einer Geldentschädigung, sondern auch die gerichtliche
Feststellung der Überlänge bis zum Rügezeitpunkt (vgl. Röhl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, 1. Aufl., Stand: 9/2020, §
198 GVG, Rn. 174). Als unverzüglich hat das Bundessozialgericht in Übereinstimmung mit den anderen obersten Bundesgerichten eine
Verzögerungsrüge angesehen, wenn sie spätestens drei Monate nach Inkrafttreten des ÜGRG beim Ausgangsgericht eingegangen war
(vgl. BSG, Urteil vom 27. März 2020 – B 10 ÜG 4/19, juris). Im Dezember 2011 war das Ausgangsverfahren nach dem Vortrag der Klägerin
bereits verzögert. Die Klägerin hätte deshalb bis spätestens Ende Februar 2012 Verzögerungsrüge erheben müssen, wenn sie für
den Zeitraum bis zum Inkrafttreten des ÜGRG Ansprüche mit Erfolg hätte geltend machen wollen.
b) Die am 16. Dezember 2012 erhobene Verzögerungsrüge der Klägerin konnte mögliche Entschädigungsansprüche für das Verfahren
in erster Instanz nicht erhalten. Denn Zweck der Verzögerungsrüge ist es, das Gericht vor Eintritt einer Verzögerung zu warnen
und zur Beschleunigung des Verfahrens anzuhalten (vgl. BT-Drucks. 17/3802 S. 20; B. Schmidt, a.a.O., Rn. 28 zu § 202). Zwar
muss ein Beteiligter nicht frühzeitig nach Eintritt der Verzögerung Verzögerungsrüge erheben, anders liegt es aber, wenn die
Verzögerungsrüge gar nicht ihrem Zweck entsprechend genutzt, sondern abgewartet wird, bis sich ein baldiger Verfahrensabschluss
abzeichnet. Dann ist davon auszugehen, dass er sein Verhalten an dem Ziel orientiert, eine möglichst hohe Entschädigungssumme
zu erhalten (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. April 2017 – L 15 SF 18/16 EK AS, juris; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 8. Juli 2020 – L 6 SF 7/19 EK AS, juris). Im Ausgangsfall hatte der Vorsitzende am 30. November 2012 Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt. Die
am 16. Dezember 2012 bei Gericht eingegangene Verzögerungsrüge konnte in der laufenden Instanz ihre Warn- und Beschleunigungsfunktion
nicht mehr erfüllen. Das Ausgangsgericht hatte alles aus seiner Sicht Erforderliche getan, um die Instanz nunmehr mit der
mündlichen Verhandlung abzuschließen. Die verspätete Rüge ging deshalb ins Leere, so dass für das erstinstanzliche Verfahren
kein Entschädigungsanspruch in Geld mehr besteht.
c) Abgesehen davon ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R, juris; Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R, juris) in jeder Instanz
des Ausgangsverfahrens eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit zuzubilligen, die nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte
begründet und gerechtfertigt werden muss (siehe dazu unten unter 2 d). Da die Vorbereitungs- und Bedenkzeit regelmäßig 12
Monate beträgt, wäre auch bei rechtzeitiger Verzögerungsrüge keine entschädigungspflichtige Überlänge nach Februar 2012 mehr
verblieben.
2. Das Ausgangsverfahren vor dem Landessozialgericht war von unangemessener Dauer im Sinne des §
198 Abs.
1 Satz 2
GVG. Insgesamt liegt eine entschädigungspflichtige Überlänge von 46 Monaten vor – aber nicht von 64 Monaten, wie die Klägerin
meint.
a) Nach §
198 Abs.
1 Satz 1
GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil
erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit
und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Haftungsgrund für den gesetzlich
begründeten Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer bildet die Verletzung des in Art.
19 Abs.
4 und Art.
20 Abs.
3 Grundgesetz (
GG) sowie Art. 6 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerten Rechts der Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit. Der unbestimmte
Rechtsbegriff der „unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens“ ist daher insbesondere unter Rückgriff auf die Grundsätze
auszulegen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 Abs. 1 EMRK und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art.
19 Abs.
4 GG) sowie zum Justizgewährleistungsanspruch (Art.
2 Abs.
1 i.V.m. Art.
20 Abs.
3 GG) entwickelt haben (BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 – B 10 ÜG 1/12 KL, juris; Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R, juris).
b) Die Inaktivität in der zweiten Instanz des Ausgangsverfahrens betrug nach Berücksichtigung einer angemessenen Vorbereitungs-
und Bedenkzeit insgesamt 46 Monate. Nachdem im Mai 2014 die Berufungserwiderung (erneut) an die Klägerin versandt worden war,
blieb das Gericht bis Mitte November 2014 untätig, lediglich die Geschäftsstelle hatte zweimal Wiedervorlagen verfügt. Erst
im November 2014 kam es zu erneuten gerichtlichen Verfügungen mit der Anfrage (und späteren Erinnerung daran), ob auf eine
mündliche Verhandlung verzichtet werde. Von Februar 2015 bis November 2015 wurde das Verfahren nicht bearbeitet. Die einmalige
Erinnerung im August 2015 an die letzte sieben Monate zurückliegende Verfügung konnte das Verfahren nicht fördern und steht
einer bloßen „Schiebeverfügung“ gleich, zumal auf das erneute Ausbleiben einer Antwort weiterhin monatelang nicht reagiert
wurde. Aktiv wurde das Gericht dann wieder im Dezember 2015 als für das Verfahren ein Termin zur Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung vorgesehen und der Termin im Februar 2016 dann wieder aufgehoben wurde. Anschließend blieb das Verfahren von März
2016 bis September 2019 43 Monate lang unbearbeitet, ehe es dann am 22. Oktober 2019 kurzfristig zur Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung im Senatstermin am 24. Oktober 2019 vorgesehen und dort durch Urteil entschieden wurde.
c) Im Berufungsverfahren hat die Klägerin erstmals am 10. November 2014 Verzögerungsrüge erhoben. Entgegen der Ansicht der
Beklagten wirkt eine Verzögerungsrüge nicht nur sechs Monate zurück. Die Klägerin moniert zu Recht, dass das nicht der Rechtslage
entspreche. Zwar hat der Bundesfinanzhof (BFH) als einziges Bundesgericht bisher mehrfach so entschieden (vgl. BFH, Urteil
vom 25. Oktober 2016 – X K 3/15, juris), dem Gesetzestext lässt sich diese Beschränkung aber nicht entnehmen; das Gesetz setzt nur überhaupt eine Verzögerungsrüge
voraus - „wenn“ - und regelt den frühestmöglichen Zeitpunkt ihrer Erhebung. Eine Rüge zu einem späteren Zeitpunkt ist deshalb
grundsätzlich unschädlich und begrenzt den Entschädigungsanspruch nicht (vgl. BSG, Urteil vom 5. Mai 2015 – B 10 ÜG 8/14 R, SozR 4-1710 Art. 23 Nr. 4; BGH, Urteil vom 10. April 2014 – III ZR 335/13, NJW 2014, 1967; BVerwG, Urteil vom 29. Februar 2016 – 5 C 31/15, juris; Marx in Marx/Roderfeld, ÜGG, § 198 Rn. 135). Die Argumentation des BFH überzeugt auch nicht: Wenn allein der Präventionszweck
der Verzögerungsrüge im Vordergrund stände, dürfte die Verzögerungsrüge überhaupt keine Rückwirkung entfalten. Dies soll aber
für sechs Monate der Fall sein. Zwar enthält §
198 Abs.
3 Satz 2 Halbs. 2
GVG eine 6-Monats-Frist (für die Wiederholung der Verzögerungsrüge), die Bestimmung spricht aber gerade gegen Rückwirkungsbeschränkungen
(vgl. Marx a.a.O. §
198 GVG Rn. 135). Denn in dieser Bestimmung kommt wie auch in §
198 Abs.
3 Satz 2 Halbs. 1
GVG das gesetzgeberische Ziel zum Ausdruck, keinen Anreiz für verfrühte Verzögerungsrügen zu schaffen. Dem Missbrauch durch verfrühte
Verzögerungsrügen tritt das Gesetz mit scharf sanktionierten Fristen (unheilbare Unwirksamkeit) trotz weicher Definition ihres
Beginns (Anlass zur Besorgnis unangemessener Verfahrensdauer) entgegen. Wird so die Geduld der Verfahrensbeteiligten eingefordert,
darf diese aber auch nicht bestraft werden (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 41). Dies bedeutet nicht, dass bewusst spät eingelegte
Verzögerungsrügen keinen Missbrauch darstellen können (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 41). Starre Fristen lassen sich daraus
aber nicht ableiten.
d) Grundsätzlich ist zudem dem Gericht in jeder Instanz des Ausgangsverfahrens eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit zuzubilligen,
die nicht durch konkrete verfahrensfördernde Schritte begründet und gerechtfertigt werden muss (BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R, juris; Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R, juris). Diese Vorbereitungs-
und Bedenkzeit kann am Anfang, in der Mitte oder am Ende der jeweiligen Instanz liegen und in mehrere, insgesamt 12 Monate
nicht übersteigende Abschnitte unterteilt sein (BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R, juris). Die Zeitspanne von 12 Monaten ist zwar regelmäßig zu akzeptieren;
nach den besonderen Umständen dieses Einzelfalls kann aber ausnahmsweise eine kürzere oder gar keine Vorbereitungs- und Bedenkzeit
anzusetzen sein (BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R, juris). Angesichts des relativ hohen Schwierigkeitsgrades des dem Ausgangsverfahren
zugrundeliegenden Falles (Elterngeld für eine bulgarische Staatsbürgerin mit Wohnsitz in Bulgarien, Gleichstellung nach EU-Recht)
erscheint es angemessen, bei der Zeitspanne von 12 Monaten je Instanz zu bleiben. Wird diese von den Zeiten gerichtlicher
Inaktivität in der zweiten Instanz,
6/2014 – 10/2014: 5 Monate,
2/2015 – 11/2015: 10 Monate,
3/2016 – 9/2019: 43 Monate,
zusammen 58 Monate,
abgezogen, ergibt sich eine entschädigungspflichtige Überlänge des Ausgangsverfahrens von insgesamt 46 Monaten. Die Klägerin
ist somit ausgehend von der entschädigungspflichtigen Überlänge von 46 Kalendermonaten in dem Ausgangsverfahren sowie dem
in §
198 Abs.
2 Satz 3
GVG vorgegebenen Richtwert von 1.200,00 Euro für jedes Jahr der Verzögerung in Höhe von 4.600 Euro zu entschädigen.Eine Wiedergutmachung
auf andere Weise gemäß §
198 Abs.
2 Satz 2, Abs.
4 GVG durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist angesichts der hier vorliegenden
Umstände nicht ausreichend.
e) Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Prozesszinsen ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung der §§
288 Abs.
1,
291 Satz 1
BGB. Diese Vorschriften sind im Rahmen von Entschädigungsklagen (auch) in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten anwendbar,
weil Spezialregelungen, die den allgemeinen Anspruch auf Prozesszinsen verdrängen könnten, nicht bestehen (BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 9/13 R, juris). Die Zinsen sind ab Rechtshängigkeit, d.h. nach §
94 Satz 2
SGG ab Zustellung der Klage, hier ab dem 6. Januar 2021, zu zahlen.
Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG zuzulassen liegen nicht vor.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §
197a Abs.
1 Satz 1
SGG in Verbindung mit §§ 63 Abs. 2 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz und orientiert sich an dem aus dem Antrag der Klägerin ersichtlichen Bedeutung der Sache für sie.