Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach dem am 3. bzw. 4.
Dezember 2001 verstorbenen Versicherten W. O. im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens streitig.
Die Beklagte gewährte der Klägerin (statt der begehrten Leistung) eine einmalige Witwenbeihilfe gemäß §
71 Abs.
1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (
SGB VII) in Höhe von 17.455,53 Euro (Bescheid vom 9. August 2002 in der Fassung des Bescheides vom 19. Februar 2004), weil sie die
Auffassung vertritt, eine Kausalität zwischen dem Tod und dem viele Jahre zuvor erlittenen Arbeitsunfall mit Hirnverletzung
sei nicht feststellbar. Hinsichtlich des weiteren Sachverhalts bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf
den Tatbestand des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 7. Mai 2008 verwiesen.
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe zu Recht und mit zutreffender Begründung im Rahmen des Überprüfungsverfahrens
die Änderung des eine Witwenrente versagenden Bescheides abgelehnt. Bei der Erstentscheidung sei sie nicht von einem unzutreffenden
Sachverhalt ausgegangen. Ein epileptischer Anfall als Unfallursache könne nicht festgestellt werden. Ein solcher ergebe sich
weder bei Auswertung der Dissertation mit dem Thema "Zungenbissverletzungen bei Todesfällen im cerebralen Krampfanfall" noch
aus der im Sektionsgutachten getroffenen Feststellung einer frischen Bissverletzung an der Zungenspitze. Es bleibe dabei,
dass ungewiss sei, zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort und aufgrund welcher unmittelbaren Ursache das Ertrinken des Versicherten
eingetreten sei. Die Klärung dieses Geschehensablaufs sowie der zum Ertrinken führenden Ursache und damit die Feststellung
eines Zusammenhangs zwischen den Folgen des Arbeitsunfalls vom 17. November 1989 und dem Tod des Versicherten seien nicht
möglich. Die Klägerin trage die Folgen dieser objektiven Beweislosigkeit.
Gegen die erstinstanzliche Entscheidung hat die Klägerin Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren hat sie nunmehr vorgetragen,
der Versicherte sei aufgrund der unfallbedingten Schädel-Hirn-Verletzung gestorben, denn er habe entweder Selbstmord begangen,
sei wegen des Auftretens eines epileptischen Krampfanfalls ins Wasser gestürzt oder es habe der aufgrund der unfallbedingten
Wesensänderung vermehrte Alkoholkonsum zu diesem Unglück geführt. Daneben sei allenfalls noch ein Sturz infolge Ausrutschens
wegen Glatteis denkbar, dies scheide jedoch als unwahrscheinlich aus, weil es bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in Elbnähe
wohl nicht zu einem Überfrieren der Hafenmauern gekommen sei. Zu Unrecht habe das Sozialgericht davon abgesehen, durch Einholung
eines Sachverständigengutachtens den Sachverhalt näher aufzuklären.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 7. Mai 2008 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. Mai
2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin
unter Änderung des Bescheides vom 21. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2002 statt der
gewährten Witwenbeihilfe eine Witwenrente nach dem am 3. bzw. 4. Dezember 2001 verstorbenen Versicherten W. O. zu gewähren,
hilfsweise Herrn Dr. H. zu vernehmen. Er wird folgendes bestätigen: Die schwere arbeitsunfallbedingte Hirnschädigung des Verstorbenen
hat mit großer Wahrscheinlichkeit dessen Tod durch Ertrinken herbeigeführt, zumal keine Fremdeinwirkungszeichen bei der Sektion
festgestellt wurden, die zum Tode hätten geführt haben können; hilfsweise die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Ein Zusammenhang des Todes des Versicherten mit dem Arbeitsunfall könne
schon deswegen nicht hergestellt werden, weil nichts über den Aufenthalt des Versicherten vom Zeitpunkt des Verlassens der
Wohnung bis zum Auffinden der Leiche bekannt sei und daher der Versuch einer abschließenden Aufzählung und Abwägung aller
denkbaren Möglichkeiten kläglich scheitern müsse.
Der Neurologe/Psychiater Dr. H. hat im Gutachten gemäß §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) vom 28. Dezember 2009 ausgeführt, es könne aus medizinischer Sicht nicht bewiesen werden, woran der Versicherte gestorben
sei. Da der Versicherte jedoch Selbstmordabsichten geäußert haben soll, sei von einem Selbstmord auszugehen, der dann Folge
der schweren Hirnschädigung sei. Jedenfalls ohne die Hirnschädigung und die daraus folgende Wesensveränderung mit epileptischen
Anfällen würde der Versicherte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch leben und einer Tätigkeit nachgehen.
Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die in der Sitzungsniederschrift vom 9. Februar 2010 aufgeführten Akten und Unterlagen
verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin (vgl. §§
143,
144,
151 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)) ist nicht begründet.
Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch, Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit
sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass dieses Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt
ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und so weit Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge
zu Unrecht erhoben worden sind. Obwohl § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht ausdrücklich vor einer erneuten Sachprüfung das Durchlaufen zweier formaler Prüfungsabschnitte verlangt, wird nach
der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch das Rücknahmeverfahren in der allgemeinen Verwaltung in Anlehnung an
das Wiederaufnahmeverfahren für rechtskräftige Urteile (vgl. §
179 SGG) als dreistufiges Verfahren angesehen. Daraus folgt, dass die Verwaltung in eine erneute Sachprüfung erst dann eintreten
muss, wenn Gründe geltend gemacht werden, die ihrer Art nach geeignet sind, die Verwaltungsentscheidung in Frage zu stellen
(erster Schritt) und diese Gründe tatsächlich vorliegen sowie der bestandskräftige Verwaltungsakt auf einen Umstand gestützt
ist, welcher infolge der geltend gemachten Überprüfungsgründe nunmehr zweifelhaft geworden ist (zweiter Schritt). Ergibt sich
also im Rahmen eines Antrages auf Erteilung eines Zugunstenbescheides nichts, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung
sprechen könnte, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung des ursprünglichen Bescheides berufen
(vgl. ständige Rechtsprechung BSG, Urteile vom 3. Februar 1988, 9/9a RV 18/86, vom 22. März 1989, 7 RAr 122/87 und vom 3. April 2001, B 4 RA 22/00 R). Vorliegend hat sich die Beklagte trotz relativ gründlicher Prüfung noch innerhalb der o. g. ersten Stufe bewegt (Prüfung
Aussage Dissertation mit dem Ergebnis, dass daraus kein anderer Sachverhalt folgt und deswegen auch die Rechtsanwendung nicht
zweifelhaft ist) und sich auf die Bestandskraft der früheren Ablehnungsbescheide berufen. Die klägerseitig vorgelegte Dissertation
bringt - wie das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat und auf dessen Ausführungen zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit
Bezug genommen wird (§
153 Abs.
2 SGG) - nichts Neues zum anzunehmenden Ablauf, in dessen Folge der Tod des Versicherten durch Ertrinken eintrat.
Auch das Gutachten von Dr. H. bringt nichts rechtlich relevant Neues, denn er kann ebenfalls zum Ablauf bis zum Ertrinken
nichts Sicheres sagen.
Der Anspruch auf Witwenrente nach § 65 i. V. m. §
63 Abs.
1 Satz 1 Nr.
3 und Satz 2
SGB VII setzt u. a. voraus, dass der Tod des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls eingetreten ist. Nach §
8 Abs.
1 Satz 1
SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit. Für einen Arbeitsunfall
ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit
zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper
einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheits(-erst-)schaden
oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen
aufgrund des Gesundheits(-erst-)schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für das Vorliegen eines
Arbeitsunfalls (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196). Während die einzelnen Glieder dieser Kausalkette (versicherte Tätigkeit, schädigende Einwirkung, Gesundheitsschaden) mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen müssen, genügt für den Ursachenzusammenhang eine hinreichende Wahrscheinlichkeit,
d. h. es müssen mehr Gesichtspunkte dafür als dagegen sprechen. Allerdings reicht die bloße Möglichkeit eines Zusammenhanges
nicht aus. Hier liegt ein Arbeitsunfall mit der Unfallfolge einer Hirnschädigung vor. Der Zusammenhang zwischen Arbeitsunfall
und/oder Hirnschädigung einerseits und Tod des Versicherten andererseits ist jedoch nicht wahrscheinlich zu machen, weil eine
Vielzahl von Kausalketten denkbar ist, in deren Folge der Versicherte ins Wasser gelangt und ertrunken ist. Nicht jede dieser
denkbaren Konstellationen begründet den geltend gemachten Anspruch, denn es müssen für einen Zusammenhang zwischen der arbeitsunfallbedingten
Hirnschädigung und dem Tod durch Ertrinken noch mindestens zwei weitere Glieder der Kausalkette hinzutreten, denn die schon
seit vielen Jahren vor dem Tod vorliegende Hirnschädigung hat nicht direkt zum Tod geführt. Bei den weiter erforderlichen
Elementen handelt es sich zum einen um das Ins-Wasser-Gelangen, also z. B. ein Sprung oder Sturz und zum anderen um den Grund
für das Ins-Wasser-Gelangen. Insbesondere das letztere Glied der Kette kann vielfältig sein, ohne dass eine abschließende
Aufzählung möglich ist. Es kann sich beispielsweise um einen zum Sturz führenden epileptischen Anfall, eine in einen Sprung
gipfelnde Selbstmordhandlung, einen zum Sturz führenden vermehrten Alkoholgenuss, aber auch ein zum Sturz führendes Stolpern
oder infolge einer Auseinandersetzung mit einem (unbekannten) Dritten, eine Ablenkung durch ein äußeres Ereignis oder eine
Unaufmerksamkeit handeln. Fest steht nur, dass das Sich-im-Wasser-Befinden den anschließenden Tod herbeiführte, denn die im
Rahmen der Obduktion festgestellte Todesursache war ein "Ertrinken". Das hinzugetretene Glied der Kausalkette muss mit dem
Beweismaß der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Dabei ist eine sog. Wahlfeststellung nicht
möglich, denn es gibt eine (unbegrenzte) Anzahl von Szenarien, die gleichermaßen dazu geführt haben können, dass der Versicherte
ins Wasser gelangt ist, von denen einige keinen Ursachenzusammenhang zu dem arbeitsunfallbedingten Hirnschaden haben. Das
würde selbst dann gelten, wenn man unterstellte, der Versicherte sei unfallbedingt (Wesensänderung) von Zuhause weggegangen
und habe sich auch an seinen unbekannten Aufenthaltsorten (unfallbedingt) nicht normal (also nicht so wie ein gesunder Mensch)
verhalten, denn auch dann können die Umstände, die beispielsweise zum Sturz ins Wasser geführt hätten, auch nicht unfallbedingte
sein. Ein Gesunder, der am Hafenbecken entlang geht, kann nämlich ebenso ausrutschen und ins Wasser fallen wie eine Person
mit einer Hirnschädigung.
Der Senat war nicht gehalten, entsprechend dem Hilfsantrag Dr. H. zu vernehmen. In seinem schriftlichen Gutachten unterstellt
dieser (obwohl das Gericht ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass ein konkreter Geschehensablauf nicht ermittelt und deswegen
von einem solchen nicht ausgegangen werden kann) die Verwirklichung von Selbstmordabsichten durch den Versicherten am Tage
seines Todes. Abgesehen davon, dass die Klägerin selbst sich im früheren Verfahren ausdrücklich gegen die Möglichkeit eines
Selbstmords verwehrt und im Überprüfungsverfahren bis zum Abschluss der ersten Instanz ausschließlich einen epileptischen
Anfall als unfallbedingtes Element in der zum Tode führenden Kausalkette behauptet hat, kann auch Dr. H. nichts vorbringen,
was das Vorliegen dieser Variante belegen kann. Der von ihm erwähnte "Abschiedsbrief", dessen Inhalt der Senat in der mündlichen
Verhandlung ausgewertet hat, zeigt zwar, dass der Versicherte seine Lebenssituation als bedrückend empfand und sich mit Selbstmordgedanken
auseinandersetzte, liefert aber keinen Hinweis auf eine konkrete Umsetzung einer Selbstmordabsicht am Tage des Todes, zumal
das Schriftstück zumindest mehr als zwei Wochen vor dem Tod des Versicherten geschrieben wurde und auch der Fundort in einem
Regal im Keller nicht für einen an die Hinterbliebenen gerichteten Abschiedsbrief spricht. Es kann nicht reichen, wenn Dr.
H. die Schwere der Hirnschädigung darlegend einen Selbstmord für gut denkbar hält. Dabei kann dahinstehen, ob bei Unterstellung,
es handele sich um Selbstmord, die Argumentation von Dr. H. zur überwiegenden Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhanges
überhaupt überzeugend ist. Bei der abschließenden Feststellung von Dr. H., der Versicherte würde ohne die Hirnschädigung mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch leben, handelt es sich nicht um eine medizinische Feststellung, sondern eine
reine Spekulation.
Insgesamt sind daher keine neuen Tatsachen vorhanden, die zu einer inhaltlichen Überprüfung der früheren Ablehnungsbescheide
führen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 Nr.
1 oder Nr.
2 SGG nicht vorliegen.