Anspruch auf vorläufige Gewährung einer Therapie mit Cannabisblüten
Fehlende Glaubhaftmachung einer besonderen Eilbedürftigkeit
Zumutbarkeit des Abwartens einer Entscheidung in der Hauptsache
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Cannabisblüten im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens.
Der im Jahre 19G. geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Er leidet seit Jahren unter
chronischen Rückenschmerzen im Bereich der HWS und LWS. Eine psychische Beteiligung ist hinzugetreten. Im Jahre 2013 kam ein
Hodentumor dazu, der auch nach Sanierung Schmerzen bereitet, da dem Antragsteller ein zu großes Implantat eingesetzt wurde.
Verschiedene medikamentöse Schmerztherapien haben in der Vergangenheit nicht den gewünschten Erfolg gezeigt. Eine privatärztliche
Verordnung von Cannabis verschaffte dem Antragsteller Linderung; jedoch konnte er sich die private Verordnung nunmehr nicht
länger leisten.
Über den behandelnden Schmerztherapeuten Dr H. ließ der Antragsteller gegenüber der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für
Cannabisblüten beantragen. Hierbei verwies der behandelnde Arzt auf eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen
Faktoren, einen Zustand nach Hodenkrebs und ein HWS- und LWS-Syndrom.
Mit Bescheid vom 20. November 2020 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Die sozialmedizinischen Voraussetzungen zur Leistungsgewährung
seien nicht erfüllt, da Alternativen zur Verfügung stünden. Die Schwere der aktuellen Erkrankung sei nicht ersichtlich. Privatrezepte
seien keine Kassenleistung und könnten auch nicht erstattet werden.
Der Antragsteller erhob Widerspruch und trug nach gewährter Fristverlängerung zur Begründung vor, dass andere Schmerzmittel
keine Wirkung gezeigt hätten bzw dass konservative und medikamentöse Therapien die Beschwerden nur leidlich gebessert hätten.
Die Schmerzen würden insbesondere die Nachtruhe häufig behindern. Durch die Einnahme von Medikamenten sei die Konzentrationsfähigkeit
herabgesetzt. Es bestehe ein Dauerzustand mit einer Tendenz zur Verschlechterung. Die Antragsgegnerin beauftragte den medizinischen
Dienst der Krankenversicherung (MDK mit der sozialmedizinischen Begutachtung. Dieser führte mit Gutachten vom 26. Januar 2021
zunächst aus, dass die sozialmedizinischen Voraussetzungen erfüllt seien; mit Gutachten vom 10. Februar 2021 wurde hingegen
festgestellt, dass keine schwerwiegende Erkrankung, zB eine chronische Schmerzerkrankung Stadium III nach Gerbershagen vorliegen
würde. Dies werde auch nicht durch den Schmerztherapeuten angegeben. Die allgemein anerkannten medizinischen Maßnahmen seien
bisher in keiner Weise erkennbar ausgeschöpft worden. Dies betreffe sowohl Analgetika als auch ambulante oder stationäre rehabilitative
Maßnahmen. Auch urologische Maßnahmen seien nicht ausgeschöpft, denn bei der Implantation einer zu großen Prothese wäre diese
entsprechend zu ersetzen. Die private Nutzung von Cannabis durch den Antragsteller bleibe dabei unberücksichtigt. Ein Widerspruchsbescheid
ist – soweit ersichtlich – bislang nicht ergangen.
Am 8. März 2021 hat der Antragsteller vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Er leide nach seinem Vorbringen unter erheblichen
Schmerzen, welche mit herkömmlichen Schmerzmitteln nicht zu stillen seien und könne die Therapie mit Cannabisblüten nicht
aus eigenen Mitteln bestreiten. Er hat Atteste der behandelnden Ärzte vorgelegt, die seinen Versorgungswunsch stützen.
Mit Beschluss vom 25. März 2021 hat das SG den Antrag abgelehnt. Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht worden. Es könne offenbleiben, ob der Antragsteller
an einer schwerwiegenden Erkrankung leide. Denn ihm stünden allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende
Leistungen zur Verfügung. Der Antragsteller habe bisher keinerlei Rehabilitationsmaßnahmen und Heilmittel nur in sehr geringem
Umfang in Anspruch genommen. Es müssten zunächst diese Maßnahmen therapeutisch angewandt werden und nicht allein medikamentöse
Therapien. Außerdem sei nicht ersichtlich, warum der Antragsteller sich nicht um den Einsatz einer kleineren Hodenprothese
bemühe, wenn die jetzige über einen Zeitraum von sechs Jahren Beschwerden bereite.
Gegen den am 26. März 2021 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 12. April 2021 Beschwerde bei dem SG eingelegt. Dieses hat die Beschwerde dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen zur Entscheidung vorgelegt. Zur Begründung
hat er ausgeführt, dass er im Jahre 2016 eine angebotene Reha-Maßnahme auch für einige Zeit durchgeführt hätte. Dies habe
jedoch keine Schmerzlinderung erbracht. Auch der behandelnde Arzt halte eine Reha im Hinblick auf die Schmerzproblematik nicht
für erforderlich. Zwar sei es richtig, dass dem Antragsteller der Einsatz einer geeigneteren Hodenprothese angeboten worden
sei. Jedoch habe er diesen Eingriff wegen der Gefahr der Impotenz nicht durchführen lassen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Beschluss des SG Braunschweig vom 25. März 2021 aufzuheben und
die Antragsgegnerin zu verpflichten, vorläufig die Kosten für eine Therapie mit Cannabisblüten zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und schließt sich den dort genannten Gründen an.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den
Inhalt der Prozessakte und den Inhalt der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen, die der Entscheidung zugrunde
gelegen hat.
II.
Die Beschwerde ist form- und fristgemäß eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig.
Sie ist jedoch nicht begründet. Der Beschluss des SG Braunschweig vom 25. März 2021 ist rechtmäßig und hält der rechtlichen
Überprüfung stand. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf vorläufige Gewährung einer Therapie mit Cannabisblüten.
Nach §
86b Abs
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Das ist immer dann der
Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren
nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache im Fall des Obsiegens nicht mehr in der Lage wäre (vgl Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 19. Oktober 1977, 2 BvR 42/76, BVerfGE 46, 166, 179, 184 ). Steht dem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang
des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus Gründen der
Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Verfahren ist jedoch nur dann zulässig,
wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe
Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (Keller, Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl, 2020, §
86 b Rn 29 mwN). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden ein bewegliches System, so dass selbst bei einer offensichtlich
begründeten Klage ein Anordnungsgrund gegeben sein muss, da §
86b SGG nicht dazu dient, Ansprüche „auf der Überholspur“ durchzusetzen ( st Rechtsprechung des erkennenden Senats, vgl. Beschluss
vom 12. Februar 2021 - L 16 KR 24/21 B ER ; Keller, aaO, 86b Rn 2). Eilverfahren sind nicht der schnelleren Rechtsschutzgewährung zulasten anderer Hauptsacheverfahren
zu dienen bestimmt ( st Rechtsprechung des erkennenden Senats, u.a.: Beschluss vom 24. Februar 2021, L 16 KR 43/21 B ER). Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund sind gemäß §
920 Abs
2 Zivilprozessordnung (
ZPO) iVm §
86b Abs
2 Satz 4
SGG glaubhaft zu machen.
Gemessen an diesen Voraussetzungen ist schon eine besondere Eilbedürftigkeit nicht glaubhaft gemacht. Für die besondere Eilbedürftigkeit
kommt es darauf an, ob es der Antragstellerin zuzumuten ist, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Unzumutbarkeit
liegt beispielsweise bei einer konkreten Gefährdung der Existenz oder wenn gar die Vernichtung der Lebensgrundlage droht,
vor. Unzumutbarkeit hat der Senat auch in Fällen angenommen, in denen Versicherte nach den medizinischen Unterlagen lebensbedrohlich
erkrankt waren, einer Kranken(haus)behandlung zur Abwendung einer akuten Lebensgefährdung unmittelbar bedurften und die Kosten
dafür nach ihren nachgewiesenen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht vorschießen konnten ( vgl. Beschlüsse vom 4. Oktober
2017 - L 16 KR 251/17 B; 26. Juni 2017 - L 16 KR 91/17 B ER; 1. Juni 2017 - L 16 KR 444/17 B ER).
Von dem Antragsteller kann erwartet werden, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Denn es sind keine schweren, unzumutbaren
und nicht wieder gut zu machenden Nachteile ersichtlich. Dabei verkennt der Senat zwar nicht, dass der Antragsteller an Schmerzen
im Bereich von HWS, LWS und Hoden leidet. Nach dem Inhalt der vorliegenden medizinischen Unterlagen handelt es sich hierbei
jedoch nicht um ein akutmedizinisches Geschehen, welches mit ganz besonderer Eilbedürftigkeit behandlungspflichtig wäre. Vielmehr
führt die Ärztin I. im Attest vom 18. Januar 2021 aus, dass es sich um ein langjähriges chronisches Geschehen handelt, zu
welchem im Jahre 2013, dh vor acht Jahren, ein Hodentumor dazugekommen sei. Auf Grundlage dieser Ausführungen ist die Schlussfolgerung
der behandelnden Ärztin nicht nachvollziehbar, dass aktuell eine Versorgung mit Cannabisblüten dringend erforderlich sein
soll. Eine solche Dringlichkeit wird auch durch inkohärentes Verhalten des Antragstellers in Frage gestellt, der seinen Widerspruch
erst nach Stellung eines Fristverlängerungsantrags begründet und sich sodann auf eine besondere Eildürftigkeit beruft. Darüber
hinaus kann das Schmerzgeschehen im Bereich des Hodens zur Überzeugung des Gerichtes auch kein intolerables Ausmaß angenommen
haben, da der Antragsteller den Austausch einer beschwerdeträchtigen Prothese über einen Zeitraum von sechs Jahren bislang
nicht hat vornehmen lassen. Dies zeigt nach Überzeugung des Senats, dass die Beschwerdelage ohne weiteres ein Abwarten des
Hauptsacheverfahrens erlaubt.
Obwohl es hierauf nicht mehr ankommt, weist der Senat ergänzend darauf hin, dass auch ein Anordnungsanspruch nicht ersichtlich
ist. Zu Recht hat das SG ausgeführt, dass im Falle des Antragstellers allgemein anerkannte, dem medizinisch Standard entsprechende Leistungen zur
Verfügung stehen. Es ist nicht ersichtlich, dass Rückenschmerzen und eine beschwerdeträchtige Hodenprothese allein durch Cannabis
behandelt werden müssen. Mithin kann die Beschwerde keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).