Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung; Anerkennung einer Praxisbesonderheit; Keine Hinweispflichten
der Prüfgremien
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Festsetzung eines Regresses wegen unwirtschaftlicher Verordnung von Arzneimitteln auf der
Grundlage einer Richtgrößenprüfung.
Der Kläger war im Jahr 2002 als Allgemeinmediziner in E. niedergelassen und nahm als "dörflicher Landarzt" an der vertragsärztlichen
Versorgung teil. Bei insgesamt 6.589 Behandlungsfällen verordnete er im Jahre 2002 Arzneimittel im Gesamtwert von (brutto)
581.809,45 Euro. Wegen einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um 69,67 % leitete der Prüfungsausschuss Niedersachsen
gegen ihn ein Richtgrößenverfahren ein, bei der er zunächst im Wege der Vorabprüfung die Brutto-Ausgaben um 5.582,88 Euro
bereinigte und Praxisbesonderheiten im Wert von 74.849,54 Euro anerkannte. Mit Schreiben vom 27. Juli 2006 teilte der Prüfungsausschuss
dem Kläger mit, dass sich der vorläufig errechnete Nettoregress auf 63.103,29 Euro belaufe.
Der Kläger gab daraufhin an, dass er "eine Praxis mit vollständiger Familienmedizin vom Kleinkind bis zum pflegebedürftigen
Alten mit wenig fachärztlicher Beteiligung" betreibe. Daraus ergebe sich ein ausgesprochen hoher Verordnungsanteil an sonst
eher fachärztlichen Präparaten. Dies sei als Praxisbesonderheit zu berücksichtigen. Außerdem machte er Praxisbesonderheiten
nach Anl 3 zur Richtgrößen-Vereinbarung (RGV) und die Behandlung besonders kostenaufwendiger Fälle bzw spezieller Krankheitsbilder
geltend.
Mit Bescheid vom 8. Dezember 2006 setzte der Prüfungsausschuss Niedersachsen einen Regress in Höhe von 32.325,38 Euro fest.
Praxisbesonderheiten wurden im Umfang von 108.496,62 Euro anerkannt. Dabei entfielen 29.004,76 Euro auf die präparatebezogene
Berücksichtigung nach der Anl 3.1 der RGV, 36.851,77 Euro auf die fallbezogene und indikationsabhängige Berücksichtigung nach
der Anl 3.2 der RGV und 31.230,78 Euro auf sog weitere Praxisbesonderheiten. Außerdem berücksichtigte der Prüfungsausschuss
das Verordnungsvolumen für einzelne Versicherte als Praxisbesonderheiten in Höhe von insgesamt 11.409,31 Euro. Zusätzlich
nahm er weitere Abzüge (zB für Verordnungen von Hilfsmitteln, Impfstoffen, Medizinprodukten und ggf bei unklaren Datensätzen)
in Höhe von 1.586,83 Euro vor.
Hiergegen richtete sich der Kläger mit seinem Widerspruch vom 2. Januar 2007, zu dessen Begründung er ua geltend machte, er
betreue ca 100 Patienten in verschiedenen Altenheimen. Mit Bescheid vom 20. August 2009 gab der Beklagte dem Widerspruch in
Höhe von 14.855,23 Euro statt und reduzierte den Regress auf eine Summe von 17.470,15 Euro. Zugunsten des Klägers stufte er
freiwillig versicherte Patienten, die die Altersgrenze von 65 Jahren überschritten hatten und bisher als Mitglieder (M) bzw
Familienangehörige (F) geführt worden waren, als Rentner (R) ein. Der Umfang des dem Kläger zugutegehaltenen Differenzbetrages
wurde auf 6.702,40 Euro festgesetzt. Darüber hinaus wurden Praxisbesonderheiten nach Anl 3.1 und 3.2 der RGV in Höhe von insgesamt
45.944,46 Euro anerkannt. Aufgrund des Vortrags des Klägers erkannte der Beklagte zusätzlich zu den bereits in der Vorab-Prüfung
anerkannten Fällen die Versicherten mit den Versicherungs-Nrn 003016536004, 003072500009, 146099173 und 544244819 als Versicherte
mit besonderem Versorgungsbedarf an und rechnete sämtliche für diese getätigten Verordnungen aus dem Versordnungsvolumen des
Klägers heraus (insgesamt 40.277,22 Euro). Schließlich erkannte er "weitere Praxisbesonderheiten" in Höhe von 31.143,51 Euro
an.
Der Kläger hat am 25. August 2009 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Zur Begründung hat er nochmals auf die besondere ländliche Lage seiner Praxis hingewiesen. Durch ihn müssten
viele fachärztliche Verordnungen übernommen werden. Auch die Weiterverordnung von fachärztlich angesetzten Medikamenten erfolge
durch ihn. Dem Regressbescheid des Beklagten sei nicht zu entnehmen, warum die weiteren vom Kläger benannten Patienten mit
besonderem Versorgungsbedarf nicht als Praxisbesonderheit anerkannt worden seien. Hinzuweisen sei zudem auf einen Schwerpunkt
bei der Behandlung von Atemwegserkrankungen (Asthma und COPD) und bei der Behandlung von Patienten in verschiedenen Altenheimen.
Der Kläger sei kein durchschnittlicher Hausarzt. Aufgrund seiner speziellen Klientel und der örtlichen Lage benötige er grundsätzlich
praxisindividuelle Richtgrößen. Festzustellen sei, dass der Beklagte den angegriffenen Bescheid willkürlich festgesetzt habe
und es sich bei der Regresssumme um einen fiktiven Betrag gehandelt habe. Nach Abzug der geltend gemachten Praxisbesonderheiten
könne letztendlich eine Überschreitung des Richtgrößenvolumens nicht mehr festgestellt werden. Der Regress sei deshalb rechtswidrig
und verletze ihn in seinen Rechten.
Mit Urteil vom 16. Dezember 2010 hat das SG den Bescheid des Beklagten vom 20. August 2009 aufgehoben und ihn verpflichtet, über den Widerspruch des Klägers gegen den
Bescheid des Prüfungsausschusses vom 8. Dezember 2006 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Der Bescheid sei mit Blick auf die Entscheidung des Beklagten über die Ablehnung von durch den Kläger geltend gemachten Praxisbesonderheiten
rechtswidrig. Er sei ferner rechtswidrig, weil der Kläger nicht den rechtlichen Vorgaben entsprechend angehört worden sei
und ihm 29 Verordnungen für das Jahr 2007 ohne Beiziehung der Originalverordnungsblätter zugeordnet worden seien, obwohl erhebliche
Zweifel an den Verordnungen im Jahr 2002 bestanden hätten. Im Einzelnen hat das SG dargelegt, für die Begründung der Entscheidung über die Ablehnung von Praxisbesonderheiten gelte, dass dem betroffenen Vertragsarzt
die wesentlichen Gründe mitzuteilen seien. Inhalt und Umfang der notwendigen Begründungen hätten sich nach den Besonderheiten
des Rechtsgebiets und nach den Umständen des einzelnen Falles zu richten. Es sei ausreichend, wenn dem Vertragsarzt die Gründe
der Entscheidung in solcher Weise und in solchem Umfang bekannt gegeben worden seien, dass er seine Rechte sachgemäß wahrnehmen
könne. Gemessen an diesen Voraussetzungen sei der Bescheid vom 20. August 2009 hinsichtlich sämtlicher Entscheidungen über
die Ablehnung von Praxisbesonderheiten rechtswidrig. Vorliegend sei die Entscheidung des Beklagten über die Ablehnung von
Praxisbesonderheiten nicht nachvollziehbar. Der Beklagte habe seine Erwägungen nicht so verdeutlich und begründet, dass die
Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe nachvollziehbar sei. Das Aufdecken des "Entscheidungssystems" des Beklagten sei dabei nicht
nur mit Blick auf die Nachvollziehbarkeit und Transparenz der einzelnen Entscheidungen zu verlangen, sondern insbesondere
auch wegen der Gewährleistung einer gleichmäßigen Rechtsanwendung. Der Bescheid vom 20. August 2009 sei außerdem rechtswidrig,
weil die Anhörung des Klägers vor dem Beschwerdeausschuss nicht den Anforderungen von § 24 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) genügt habe. Verletzt sei der Anspruch auf rechtliches Gehör deshalb, weil der Beschwerdeausschuss den Kläger nicht in die
Lage versetzt habe, adäquat zum Vorliegen von Praxisbesonderheiten vortragen zu können. Rechtswidrig sei der Bescheid vom
20. August 2009 auch deshalb, weil der Beklagte bei seiner Entscheidung auch Verordnungen berücksichtigt habe, die ausweislich
der zugrunde gelegten Daten nicht zweifelsfrei im Jahre 2002 ausgestellt worden seien.
Gegen das am 13. Januar 2011 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 31. Januar 2011 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG)
Niedersachsen-Bremen eingelegt. Dem SG sei dahingehend nicht zu folgen, dass die Entscheidung über die Ablehnung von Praxisbesonderheiten, insbesondere den Behandlungsschwerpunkt
von Patienten in Altenheimen und die fehlende Anerkennung von weiteren Patienten mit besonderem Versorgungsbedarf, nicht nachvollziehbar
sei. Die vom SG angenommene Konkretisierungspflicht durch die Prüfeinrichtung sei nicht gegeben. Generell sei die Betreuung von Patienten
in Altenheimen, die Weiterverordnung fachärztlicher Arzneimittel sowie die Versorgung von Patienten mit besonderem Versorgungsbedarf
keine Praxisbesonderheit per se in der Fachgruppe der Allgemeinmediziner. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hinzuweisen,
dass der Vortrag des Klägers nicht hinreichend substantiiert gewesen sei, da lediglich nur Listen über Verordnungen für bestimmte
Arzneimittel bzw Arzneimittelgruppen oder Listen über das Verordnungsvolumen einzelner Patienten mit besonderem Versorgungsbedarf
eingereicht worden seien. Dem SG sei auch dahingehend nicht zuzustimmen, dass gegenüber dem Kläger der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sei.
Der Kläger sei in die Lage versetzt worden, adäquat zum Vorliegen von Praxisbesonderheiten vorzutragen. Der Kläger habe es
zudem unterlassen, anhand seiner eigenen Unterlagen im Verwaltungsverfahren substantiiert vorzutragen, dass die Verordnungen
mit den Datumsangaben 20020100 und 20020101 nicht im Prüfzeitraum getätigt worden seien. Dieses sei ihm durchaus mit den vorhandenen
Angaben und einem Abgleich mit seiner eigenen EDV möglich gewesen. Ein diesbezüglicher Vortrag im Gerichtsverfahren sei nach
der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Gerichtsverfahren präkludiert.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 16. Dezember 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Er erachtet die vom SG getroffene Entscheidung für zutreffend.
Die übrigen Beteiligten stellen keine Anträge.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den gesamten Inhalt der Gerichtsakten sowie auf die beigezogenen
Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist auch begründet.
Das SG hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, über den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses vom
8. Dezember 2006 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Auf die Berufung des Beklagten war
deshalb die Entscheidung des SG aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.
1. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der Beklagte mit Bescheid vom 20. August 2009 zu Recht gegenüber dem Kläger
einen Richtgrößenregress iHv 17.470,15 Euro festgesetzt hat. Diese Entscheidung ist allerdings in der Berufungsinstanz nur
insoweit streitbefangen, als die im Urteil des SG vom 16. Dezember 2010 enthaltene Verpflichtung zur Neubescheidung Vorgaben enthält, die für den Beklagten nachteilig sind.
Das Urteil des SG ist nur vom Beklagten und zudem ausdrücklich unter diesem Aspekt mit dem Rechtsmittel der Berufung angefochten worden. Hingegen
sind die im Urteil des SG enthaltenen Vorgaben, die für den Kläger nachteilig sind, mangels eines von ihm eingelegten Rechtsmittels nicht Gegenstand
des Berufungsverfahrens geworden. Insoweit ist die Entscheidung rechtskräftig und damit nach §
141 Abs
1 Nr
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) sowohl für die Verfahrensbeteiligten als auch für den erkennenden Senat bindend (eingehend zur Differenzierung zwischen
der Rechtskraft und der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Neubescheidungsurteilen von Neubescheidungsurteilen BSG SozR 4-1500 § 141 Rn 22 mwN).
2. Gesetzliche Grundlage für den Regressbescheid des Beklagten vom 20. August 2009 ist die Regelung in §
106 Abs
2 S 1 Nr
1, Abs
5a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V; idF des Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetzes vom 19. Dezember 2001 (ABAG), BGBl I 3773). Nach §
106 Abs
2 S 1 Nr
1 SGB V wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten
oder bei Überschreitung der Richtgrößenvolumen nach §
84 SGB V geprüft. Gemäß §
84 Abs
6 S 1
SGB V vereinbaren die Gesamtvertragspartner zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung für das auf das Kalenderjahr bezogene
Volumen der je Arzt verordneten Arznei- und Verbandmittel (Richtgrößenvolumen) arztgruppenspezifische fallbezogene Richtgrößen
als Durchschnittswerte unter Berücksichtigung der nach Abs 1 getroffenen Arzneimittelvereinbarung, erstmals bis zum 31. März
2002. Die Überschreitung des Richtgrößenvolumens löst gemäß §
84 Abs
6 S 4
SGB V eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach §
106 Abs
5a SGB V aus.
3. Die streitbefangene Wirtschaftlichkeitsprüfung des Beklagten und der daraus resultierende Bescheid vom 20. August 2009
lassen im Rahmen der dargelegten Prüfungskompetenz des Senats keine Rechtsfehler erkennen. Die Verwaltungsentscheidung leidet
weder an einem Begründungsmangel noch an einer Verletzung des rechtlichen Gehörs. Zudem sind die vom Kläger geltend gemachten
Praxisbesonderheiten nicht unzureichend berücksichtigt worden.
a) Entgegen der Auffassung des SG ist die Verwaltungsentscheidung des Beklagten nicht wegen Fehlens einer nachvollziehbaren Begründung rechtswidrig. Zwar folgt
aus § 35 SGB X eine allgemeine Begründungspflicht behördlicher Entscheidungen. Aus der Begründung muss ersichtlich sein, welche tatsächlichen
und rechtlichen Gründe für die Entscheidung wesentlich sind. Daher ist es erforderlich, dass die Prüfgremien ihre Ausführungen
zum Vorliegen der Voraussetzungen für Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung in dem zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens
ergehenden Bescheid derart verdeutlichen, dass im Rahmen der - infolge von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen der Gremien
eingeschränkten - sozialgerichtlichen Überprüfung zumindest die zutreffende Anwendung der einschlägigen Beurteilungsmaßstäbe
im Einzelfall erkennbar und nachvollziehbar ist (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 25). Die Anforderungen an die Darlegungen dürfen allerdings nicht überspannt werden, zumal sich gerade Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung
regelmäßig an einen sachkundigen Personenkreis richten (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 23). Die Ausführungen in einem Regressbescheid müssen erkennen lassen, wie das Behandlungsverhalten eines Arztes bewertet
worden ist und auf welche Erwägungen die getroffene Kürzungsmaßnahme beruht (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 41). Insbesondere ist es zur Erfüllung der den Prüfgremien obliegenden Begründungspflicht aber nicht erforderlich, ausdrücklich
auf vom Arzt geltend gemachte Praxisbesonderheiten einzugehen, für dessen Vorliegen sich im Prüfverfahren keine Anhaltspunkte
ergeben haben und zu denen keine substantiierten Ausführungen erfolgt sind (BSG SozR 3-1300 §
16 Nr 1; vgl hierzu auch Engelhard in: Hauck/Noftz, Kommentar zum
SGB V, Stand: November 2013, § 106 Rn 579 mwN). Entgegen der Annahme des SG ist vielmehr zunächst ein substantiierter Vortrag des Arztes dazu erforderlich, warum sein Behandlungs- und Verordnungsverhalten
von dem der Vergleichsgruppe abweicht.
Hieran fehlt es jedoch. Denn Praxisbesonderheiten sind nur anzuerkennen, wenn ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe
signifikant abweichender Behandlungsbedarf des jeweiligen Patientenklientels und die hierdurch hervorgerufenen Mehrkosten
nachgewiesen werden (BSG SozR 4-2500 § 87 Nr 10; SozR 4-2500 § 84 Nr 2; Urteil vom 5. Juni 2013 - B 6 KA 40/12 R - juris). Die Darlegungs- und Feststellungslast für besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende atypische
Umstände wie Praxisbesonderheiten und kompensatorische Einsparungen obliegt dabei dem Arzt (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 19; Urteil vom 5. Juni 2013, aaO., mwN). Der Arzt ist gehalten, im Prüfungsverfahren solche Umstände geltend zu machen,
die sich aus der Atypik seiner Praxis ergeben, aus seiner Sicht auf der Hand liegen und den Prüfgremien nicht ohne Weiteres
anhand der Verordnungsdaten und der Honorarabrechnungen bekannt sind oder sein müssen (BSG, Urteil vom 5. Juni 2013, aaO.). Der diesbezügliche Vortrag muss substantiiert sein, dh so genau wie möglich (BSG, Urteil vom 5. Juni 2013, aaO.) und plausibel (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 19). Nicht ausreichend ist es hierfür insbesondere, bloße Listen von Patienten bzw Erkrankungsfällen vorzulegen; denn
eine derartige Auflistung kann nicht erklären, warum ein spezifischer Behandlungsbedarf in der Patientenschaft vorliegt, die
vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweicht (vgl Clemens, in: jurisPK-
SGB V, 2. Aufl, §
106 Rn 152).
Nicht substantiiert ist demnach der Vortrag, der Kläger behandele bestimmte, von ihm aufgelistete Krankheitsbilder (zB Asthma
und COPD, Migräne, Epilepsie, Gastritis, Fettstoffwechselstörungen, Schmerzerkrankungen, Rheuma etc), zumal ein Allgemeinmediziner,
der derart unterschiedliche Krankheiten behandelt, offenkundig gerade keinen besonderen Behandlungsbedarf aufweist, sondern
ein breites Erkrankungsspektrum therapiert, wie es in einer allgemeinmedizinischen Praxis zu erwarten ist. Der weiterhin als
Besonderheit geltend gemachte Umstand, dass der Kläger im Anschluss an fachärztliche Behandlungen häufig Folgeverordnungen
vornehmen muss, ist ebenfalls nicht ausreichend dargetan; denn genauere Angaben über die Zahl, die Art und die Höhe der hiervon
betroffenen Verordnungen fehlen. Überdies ist nicht ohne Weiteres plausibel, dass vergleichbare Umstände in städtischen Praxen
fehlen sollten, weil es auch hier für die Versicherten bequemer sein dürfte, Folgeverordnungen durch ihren Hausarzt ausstellen
zu lassen, als sich extra hierfür zum Facharzt zu begeben. Die Mitteilung, vermehrt Altenheimpatienten zu behandeln, reicht
zur Geltendmachung einer Praxisbesonderheit ebenfalls nicht aus, weil allein hieraus noch kein erhöhter Verordnungsaufwand
ersichtlich wird (vgl hierzu ausdrücklich BSG, Urteil vom 5. Juni 2013 - B 6 KA 40/12 R - juris). Schließlich ist es aus den dargelegten Gründen nicht ausreichend, eine Auflistung von 13 Patienten mit besonderem
Versorgungsbedarf vorzulegen. Der Hinweis auf derartige schwierige Krankheitsfälle ist darüber hinaus schon deshalb nicht
zur Begründung einer Besonderheit geeignet, weil sich solche Fälle in jeder Praxis finden (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 27 und 49; SozR 4-2500 § 84 Nr 2; Urteil vom 5. Juni 2013, aaO.).
Wenn der Beklagte im angefochtenen Bescheid gleichwohl sieben dieser Patienten als Besonderheiten anerkannt und dem Kläger
hierfür einen Verordnungsbetrag von 40.277,22 Euro gutgeschrieben hat, so begünstigt dies den Kläger und ist vom Senat hinzunehmen.
Die fehlende Substantiierung des klägerischen Vortrags steht aber der Annahme entgegen, auch die übrigen sechs Patienten müssten
zu seinen Gunsten anerkannt werden oder der Beklagte hätte zumindest näher begründen müssen, warum diese Versicherten nicht
berücksichtigt worden sind.
Der Senat teilt in diesem Zusammenhang nicht die Auffassung des LSG Berlin-Brandenburg (vgl hierzu Urteil vom 6. Juni 2012
- L 7 KA 99/09 - juris), wonach die Prüfgremien im Klageverfahren (generell) nicht mehr damit gehört werden können, das Vorbringen des geprüften
Arztes sei unsubstantiiert gewesen, wenn sie auf der Grundlage des Vortrags im Verwaltungsverfahren bereits eine Sachprüfung
über das Vorliegen von Praxisbesonderheiten (hier: hinsichtlich des besonderen Versorgungsbedarfs von sieben Patienten) eingestiegen
sind (vgl dazu auch Senatsurteile vom 27. November 2013 - L 3 KA 92/11 und L 3 KA 93/11). Dies kann nur in dem Umfang gelten, in dem die Prüfgremien tatsächlich auch Praxisbesonderheiten zugunsten eines geprüften
Arztes anerkannt haben. Denn nur in Hinblick auf diese eigenständige Zwischenfeststellung im Rahmen des mehrstufigen Verfahrens
der Wirtschaftlichkeitsprüfung sind die Gerichte angesichts des Beurteilungs- und Ermessensspielraums der Prüfgremien an deren
Verwaltungsentscheidung gebunden. Eine Bindung an die rechtliche (Vor-)Bewertung der Prüfgremien, der Vortrag eines geprüften
Arztes zu seinen Praxisbesonderheiten sei substantiiert, würde dagegen der sich aus Art
19 Abs
4 Grundgesetz (
GG) ergebenden Pflicht der Gerichte widersprechen, die Sach- und Rechtslage selbst umfassend und vollständig zu prüfen, ohne
an Tatsachenfeststellungen oder Wertungen der Verwaltung gebunden zu sein (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), BVerfGE 101,
106, 123 mwN).
b) Es ergeben sich auch keine Anhaltspunkte für eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Entgegen der Einschätzung des SG kann eine Verletzung dieses Grundsatzes nicht mit der Begründung angenommen werden, dass der Beklagte den Kläger nicht in
die Lage versetzt habe, adäquat zum Vorliegen von Praxisbesonderheiten vorzutragen (vgl Umdruckseite 33).
Aus § 24 Abs 1 SGB X folgt die Pflicht der Verwaltungsträger, vor Erlass des Verwaltungsaktes dem Adressaten Gelegenheit zu geben, sich zu den
für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Welche Tatsachen erheblich sind, ist aus der Sicht der Behörde zu bestimmen.
Hierzu zählen sämtliche Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben (von Wulffen, SGB X, 7. Aufl, § 24 Rn 9). Entgegen der Annahme des erstinstanzlichen Gerichts fehlt es nicht an einer Mitteilung der für die Berücksichtigung
von Praxisbesonderheiten aus Sicht des Beklagten maßgeblichen Tatsachen. Vielmehr hat bereits der Prüfungsausschuss seinem
erstmaligen Hinweisschreiben vom 27. Juli 2006 die "Anlage 2.1" beigefügt, in der - unter ergänzendem Hinweis auf §
11 Abs
1 der Vereinbarung zur Prüfung der Wirtschaftlichkeitsüberwachung der vertragsärztlichen Versorgung gemäß §
106 SGB V ab dem Jahr 2004 - eine Definition des Begriffs der "Praxisbesonderheiten" enthalten war, wonach es sich hierbei um objektive
Gegebenheiten handelt, welche für die Fachgruppe von der Art oder dem Umfang her atypisch sind und kausal erhöhte Verordnungskosten
hervorrufen. Danach war es dem Kläger möglich, entsprechende Tatsachen vorzutragen, die für die Atypik seiner Praxisstruktur
sprechen.
Zu detaillierteren Darlegungen waren die Prüfgremien nicht verpflichtet. Wenn der Gesetzgeber in §
106 Abs
5a S 1
SGB V mit "Praxisbesonderheiten" im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Richtgrößen einen Rechtsbegriff aufgegriffen hat,
dessen Inhalt in ständiger BSG-Rspr (vgl zB BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 27; Urteil vom 12. Oktober 1994 - 6 RKa 6/93 - juris) im Wesentlichen geklärt ist, mussten die von Richtgrößenprüfungen betroffenen Vertragsärzte vielmehr damit rechnen,
dass die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung erarbeiteten Kriterien für die Darlegung und Anerkennung von Praxisbesonderheiten
auch im Richtgrößenverfahren gelten. Dass unter "Praxisbesonderheiten" in diesen Verfahren nichts anderes zu verstehen ist
als in der bisherigen Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten, ist mittlerweile vom BSG bestätigt worden (vgl erstmals Urteil vom 22. Juni 2005 - B 6 KA 80/03 = SozR 4-2500 § 87 Nr 10 Rn 35; außerdem zB SozR 4-2500
§ 84 Nr 2), war aber auch vorher im Schrifttum weithin anerkannt (so schon Raddatz, Die Wirtschaftlichkeit der Kassenärztlichen
und Kassenzahnärztlichen Versorgung in der Rechtsprechung, Abschnitt 6.8.1.3, Bearbeitungsstand April 1993; Peikert, Richtgrößen
und Richtgrößenprüfungen nach dem ABAG, MedR 2003, 29, 33; Engelhard in: Hauck,
SGB V, § 106 Rn 189, Bearbeitungsstand Dezember 2004). Das BSG hat im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten zu keiner Zeit gefordert, die Prüfungs- bzw Beschwerdeausschüsse
müssten den Vertragsarzt vor der Prüfung darüber informieren, unter welchen näheren Voraussetzungen sie Praxisbesonderheiten
anerkennen. Die Mitwirkung der Prüfgremien beim Aufgreifen von Praxisbesonderheiten beschränkt sich vielmehr darauf, dass
diese zum einen verpflichtet sind, bereits von Amts wegen Ermittlungen hinsichtlich solcher Umstände durchzuführen, die typischerweise
innerhalb der Fachgruppe unterschiedlich und daher augenfällig sind (vgl BSG, Urteil vom 5. Juni 2013, aaO., mwN zur bisherigen Rechtsprechung). Zum anderen können die Prüfgremien gehalten sein, bei
Angaben des Vertragsarztes, die für eine Praxisbesonderheit sprechen können, aber noch lückenhaft sind, auf eine Ergänzung
des Vortrags hinzuwirken (BSG SozR 2200 § 368n Nr 57). Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Richtgrößen kann nichts anderes gelten.
Vorgaben für eine nähere Festlegung des Inhalts von Praxisbesonderheiten bei der Richtgrößenprüfung hat der Gesetzgeber im
Übrigen erst mit Wirkung zum 1. Januar 2004, für die darauf folgenden Prüfjahre, eingeführt. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz
(GMG) vom 19. November 2003 (BGBl I 2190) ist in §
106 Abs
5a S 5
SGB V geregelt worden, dass die Vertragspartner der Prüfvereinbarung die Maßstäbe zu Prüfung der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten
bestimmen müssen. Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl I S 378) ist mit Wirkung zum 1. Januar 2008 außerdem §
106 Abs
5a S 6
SGB V eingeführt worden, wonach die Prüfungsstelle die Grundsätze des Verfahrens der Anerkennung von Praxisbesonderheiten beschließt.
Auch aus dieser Rechtsentwicklung folgt, dass jedenfalls vorher keine detaillierten Angaben zur Anerkennung von Praxisbesonderheiten
gemacht werden mussten. Der anders lautenden Auffassung des LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 6. Juni 2012, aaO.), das meint,
auch schon für das Jahr 2000 hätten die Beurteilungsmaßstäbe der Prüfgremien offen gelegt werden müssen, um eine gleichmäßige
Rechtsanwendung zu ermöglichen, folgt der Senat deshalb nicht.
c) Auch im Übrigen ist der Bescheid des Beklagten vom 20. August 2009 nicht zu beanstanden. Der Senat geht davon aus, dass
die insgesamt 29 nach Ansicht des SG nicht zweifelsfrei in das Jahr 2002 fallenden Verordnungen zu Recht bei der Richtgrößenprüfung durch den Beklagten Berücksichtigung
gefunden haben. Der Kläger hätte anhand der ihm zugänglichen Daten ohne weiteres überprüfen und substantiiert vortragen können,
dass diese Verordnungen nicht im Prüfzeitraum ausgestellt worden sind. Ein derart substantiierter Vortrag des Klägers liegt
nicht vor; ein pauschaler Hinweis auf die fehlerhafte Einbeziehung der Verordnungsdaten reicht nicht aus.
Insgesamt besteht - entgegen der Einschätzung des SG - keine Verpflichtung des Beklagten, den Kläger bezüglich des für das Jahr 2002 festgesetzten Regresses neu zu bescheiden.
Die Entscheidung des SG war deshalb zu korrigieren.
Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs
2 SGG), sind nicht ersichtlich.
Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus §
197a Abs
1 S 1
SGG iVm den §§ 47 Abs 1 S 1, 52 Abs 1 Gerichtskostengesetz (GKG).