Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Mehrbedarf für einen erwerbsfähigen behinderten Hilfebedürftigen; Voraussetzungen für die
Erfüllung des Merkmals "erbracht werden" in § 21 Abs. 4 SGB II
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Gewährung eines Behindertenmehrbedarfs.
Der am ________1971 geborene Kläger ist laut Bescheid vom 15. April 2004 schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB)
von 90 % und den Merkzeichen "G", "B" und "aG". Er ist erwerbstätig und hat für die Anschaffung eines Pkws zwecks Erreichens
der Arbeitsstelle von der Bundesagentur für Arbeit mit Bescheiden vom 30. September 2004 und 2. November 2004 ein Darlehen
über 7.980,00 EUR erhalten, dessen Rückzahlung mit monatlich ca. 133,00 EUR auf fünf Jahre festgesetzt wurde. Außerdem hat
er eine Beihilfe zum Umbau des Pkws erhalten.
Auf seinen Antrag vom 24. Juni 2005 auf Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II), wurden
ihm und seiner Lebensgefährtin sowie dem gemeinsamen Kind mit Bescheid vom 28. Juli 2005 Leistungen in geringfügiger Höhe
gewährt für den Zeitraum von Juni bis Dezember 2005. Ein Behindertenmehrbedarf wurde nicht anerkannt. Diesbezüglich und hinsichtlich
der Unterkunftskosten erhob der Kläger mit Schreiben vom 16. am 17. August 2005 Widerspruch, dem mit Änderungsbescheid vom
12. Oktober 2005 hinsichtlich der Kosten der Unterkunft teilweise stattgegeben wurde. Bezüglich des Behindertenmehrbedarfs
wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 2005 zurückgewiesen.
Der Kläger hat am 30. November 2005 Klage erhoben. Er hat darauf hingewiesen, dass er schwerbehindert, querschnittsgelähmt
und dennoch teilzeitbeschäftigt sei. Die Anschaffung eines Pkws sei von der Bundesagentur für Arbeit gefördert worden; das
stelle eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach §
33 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (
SGB IX), dar. Daher habe er Anspruch auf einen Mehrbedarf gemäß §
21 Abs. 4 Satz 1 SGB II. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift seien auch einmalige Zahlungen ausreichend. Im Übrigen dauerten
die Folgen der Förderung noch an, denn er müsse das Darlehen monatlich zurückzahlen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte in Abänderung der Bescheide vom 28. Juli 2005 und vom 12. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 31. Oktober 2005 zu verurteilen, ihm Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter Berücksichtigung eines Behindertenmehrbedarfs
nach § 21 Abs. 4 SGB II zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat gemeint, für einen Mehrbedarf nach §
21 Abs.
4 SGB II seien zeitgleiche Leistungen nach §
33 SGB IX und dem SGB II notwendig. Bei einmaligen Leistungen könnte allenfalls noch höchstens drei Monate danach ein Mehrbedarf gewährt
werden, wenn dies erforderlich sei. Seit der Förderung für den Pkw seien aber bis zur Antragstellung nach dem SGB II neun
Monate vergangen, sodass eine zeitgleiche Leistung nicht mehr vorliege. Im Übrigen sei es der Zweck des § 21 Abs. 4 SGB II,
eine besondere Bedarfslage des Behinderten abzufedern und nicht die Reintegration des schwerbehinderten Menschen zu fördern,
dieser Zweck werde durch §
33 SGB IX erfüllt.
Das Sozialgericht Schleswig hat mit Beschluss vom 27. März 2006 Prozesskostenhilfe bewilligt und mit Urteil vom 8. Mai 2007
die angegriffenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum vom 24. Juni 2005 bis zum 31.
Dezember 2005 Leistungen in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 4 SGB II in Höhe von
35 % der Regelleistung nach § 20 Abs. 3 SGB II zu gewähren. Es ist der Meinung, die Voraussetzungen des § 21 Abs. 4 Satz 1
SGB II seien erfüllt, denn die Kraftfahrzeughilfe sei im streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum auch erbracht worden.
Zwar sei ein tatsächlicher Leistungszufluss an den Kläger seitens des Rehabilitationsträgers in diesem Zeitraum nicht zu verzeichnen.
Entscheidend sei jedoch nicht nur der monatliche tatsächliche Zufluss von Leistungen, denn es komme vielmehr nach der teleologischen
Gesamtbetrachtung darauf an, dass die Gewährung der Hilfe keinen in der Vergangenheit abgeschlossenen Vorgang dargestellt
habe, sondern dass dieser im streitgegenständlichen Zeitraum noch kontinuierliche Wirkungen dadurch entfalte, dass der Kläger
weiterhin erwerbstätig sei, er das Kfz noch besitze und das gewährte Darlehen monatlich zurückzahle.
Das Urteil wurde der Beklagten am 24. Juli 2007 zugestellt (das Datum auf dem Empfangsbekenntnis mit 24.04.07 ist offensichtlich
falsch).
Die Beklagte hat am 13. August 2007 Berufung eingelegt mit der Begründung, im maßgeblichen Bewilligungszeitraum von Juni bis
Dezember 2005 habe der Kläger keine laufenden Leistungen zur Teilhabe bzw. Eingliederung in das Arbeitsleben erhalten, denn
die Leistungen der Bundesagentur für Arbeit für den Ankauf eines Pkws seien mit Bescheiden vom 7. Oktober 2004 bzw. 2. November
2004 bewilligt und kurz danach ausgezahlt worden. Damit lägen keine gegenwärtigen Leistungen vor. Dies sei aber nach § 21
Abs. 4 Satz 1 SGB II erforderlich. Das folge bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach ein Mehrbedarf nur gewährt werde,
wenn Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach §
33 SGB IX erbracht werden. Das beziehe sich auf zeitgleiche Leistungen. Im Übrigen sei für eine teleologische Auslegung kein Raum,
denn hinsichtlich weiterer Zeiträume bestehe keine Regelungslücke. § 21 Abs. 4 Satz 2 SGB II sehe vor, dass nach Beendigung
der entsprechenden Maßnahme noch für eine angemessene Übergangszeit, z. B. während einer Einarbeitungszeit, ein Mehrbedarf
gewährt werden könne. Dieser werde von der Bundesagentur für Arbeit mit drei Monaten angenommen. Eine darüber hinausgehende,
durch Auslegung zu ermittelnde Regelung sei daher nicht erforderlich. Im Übrigen überzeuge die teleologische Betrachtung des
Sozialgerichts nicht. Ziel der Hilfe sei es nämlich, die Integration in den Arbeitsmarkt durch eine Förderung zu unterstützen
mit dem Ziel, dass dauerhaft eine Tätigkeit ausgeübt werden könne, somit also eine Tätigkeit, die auch nach Ende der Hilfe
weiterhin erfolge. Nach Auffassung des Sozialgerichts müsste im Übrigen ein Mehrbedarf weiterhin gezahlt werden, auch wenn
das Auto längst verkauft, die Arbeit aufgegeben oder die Behinderung weggefallen, das Darlehen aber noch nicht gänzlich zurückgezahlt
worden sei. Das zeige, dass es auf die Dauer der Darlehensgewährung nicht ankommen könne. Sollte sich die Rückzahlung des
Darlehens verzögern, müsste nach Auffassung des Sozialgerichts für einen verlängerten Zeitraum ein Mehrbedarf gewährt werden.
Schließlich würde bei einem errechneten Mehrbedarf für den Kläger in Höhe von 108,85 EUR bei einer geringeren Darlehenshöhe
und einem geringeren monatlichen Abtrag der Mehrbedarf höher ausfallen als die Darlehensrückzahlung pro Monat. Dadurch erhielte
der Betroffene höhere Leistungen als andere Personen. Das könne mit der Regelung in § 21 Abs. 4 SGB II nicht gemeint sein.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 8. Mai 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er beruft sich darauf, dass nach dem Sinn und Zweck von § 21 Abs. 4 SGB II behinderte Erwerbsfähige zusätzlich motiviert werden
sollten, eine Arbeit aufzunehmen. Die damit im Zusammenhang stehenden Aufwendungen sollten finanziell ausgeglichen werden.
Daher müsse auch eine Darlehenslast, die im Zusammenhang mit der Arbeit stehe, gemildert werden.
Der Senat hat mit Beschluss vom 4. Februar 2010 die beantragte Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren mit Verpflichtung
zur Ratenzahlung von monatlich 155,00 EUR bewilligt und Rechtsanwalt __________________, beigeordnet.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf die Gerichts- und Beiakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf einen Mehrbedarf gemäß § 21 Abs.
4 SGB II. Das einen solchen Zuschlag dennoch zusprechende Urteil des Sozialgerichts ist aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Nach § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhalten diejenigen Hilfebedürftigen einen Mehrbedarf von 35 v. H. der nach § 20 maßgebenden
Regelleistung, denen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 des Neunten Buches sowie sonstige Hilfen zur Erlangung
eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 des Zwölften Buches
erbracht werden.
Der Kläger hat zwar nach §
33 SGB IX Leistungen erhalten. Voraussetzung für einen Mehrbedarf nach §
21 Abs. 4 SGB II ist jedoch ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den Leistungen nach dem SGB II und Leistungen nach §
33 SGB IX.
Das Merkmal "erbracht werden" spricht vom Wortlaut her dafür, dass während des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II, zu denen
zusätzlich ein Mehrbedarf von 35 % des maßgebenden Regelsatzes gewährt werden sollen, die genannten Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben, z. B. nach §
33 SGB IX, zeitgleich gewährt werden. Die Formulierung heißt nicht "erbracht wurden" oder "erbracht werden sollen" (zu Letzterem: Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Juli 2009 - L 7 AS 65/08). Bereits nach dem klaren Wortlaut der Regelung genügt für die Bejahung eines Mehrbedarfs nicht, dass möglicherweise ein
Anspruch auf eine Teilhabeleistung oder eine Leistung der Eingliederungshilfe besteht. Vielmehr wird der Mehrbedarf geknüpft
an eine tatsächlich durchgeführte Eingliederungsmaßnahme, d. h., dass Leistungen zur Teilhabe bzw. sonstige Hilfen zeitnah
erbracht werden (BSG, Urteil vom 25. Juni 2008 - B 11b AS 19/07 R, recherchiert nach juris, Rn. 22).
Zudem ist für den Rechtsbegriff des "Erbrachtwerdens" im Sinne von § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II nicht eine einmalige Bewilligung
von Leistungen ausreichend. Erforderlich sind mehrmalige Bewilligungen (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25. Februar 2010
- L 7 BK 1/09 -, das allerdings für das Merkmal "erbracht werden" ausreichen lässt, dass über mehrere Jahre hinweg - 2003, 2005, 2006,
2007, 2009 - jeweils einmalige Leistungen gewährt werden).
Auch O. Loose (in Gemeinschaftskommentar zum SGB II, Herausgb. Hohm, § 21 Rdn. 27.2), führt aus, dass die Kfz-Beihilfe nicht
zu einem Mehrbedarf führen könne, weil es sich um eine einmalige Beihilfe handelt und § 21 Abs. 4 SGB II nur auf dauerhaften
Mehrbedarf abziele.
Demgegenüber sind hier lediglich im Jahre 2004 durch Bescheide vom 30. September und 2. November 2004, also ca. neun bzw.
sieben Monate vor der Antragstellung am 24. Juni 2005, Leistungen nach §
33 SGB IX gewährt worden.
Daher ist der Senat der Auffassung, dass die seinerzeitigen Leistungen nicht mehr im Zusammenhang mit den im maßgeblichen
Zeitraum gewährten Leistungen nach dem SGB II stehen, obwohl der Kläger zu dem Zeitpunkt noch erwerbstätig, das Darlehen nicht
zurückgezahlt und der Pkw noch im Besitz des Klägers war. Auf letztere Gesichtspunkte kommt es - entgegen der Auffassung des
Sozialgerichts - nicht an.
Der Beklagten ist darin zuzustimmen, dass die von dem Sozialgericht angenommene Verbindung zwischen der Kfz-Beihilfe und den
gewährten Leistungen nach dem SGB II aufgrund der genannten Gesichtspunkte nicht vorliegt. Das Sozialgericht hat eine zeitliche
Begrenzung der Mehrbedarfsgewährung nicht angesprochen. Nach seinen Formulierungen soll der Mehrbedarf gewährt werden im Hinblick
auf die Laufzeiten des Darlehens. Das würde eine ca. fünfjährige Mehrbedarfsgewährung beinhalten. Bei einer Stundung oder
Verkürzung der monatlichen Darlehensrückzahlung könnte sich die Laufzeit des Darlehens noch verlängern. Bei einer Kürzung
der monatlichen Darlehensrückzahlung von gegenwärtig ca. 133,00 EUR könnte die monatliche Darlehenslast auch unter den Mehrbedarfsbetrag
von für den Kläger 108,85 EUR sinken mit dem Ergebnis, dass über den Mehrbedarf die Anschaffung des Pkw finanziert werden
würde zusätzlich zu dem von der Bundesanstalt für Arbeit geleisteten zinsfreien Darlehen über 7.980,00 EUR. Das würde zur
Vermögensbildung führen, was durch die Vorschrift des § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II nicht gemeint ist.
§ 21 Abs. 4 SGB II verfolgt das Ziel der dauerhaften Eingliederung Behinderter in das Arbeitsleben. Nach der Ratio des Gesetzes
soll der Mehrbedarf eine Kompensation der aus der Behinderung folgenden Beeinträchtigung des Hilfesuchenden bei der Teilhabe
am Arbeitsleben sein durch zunächst einmal nur finanzielle zusätzliche Unterstützung während der auf dieses Ziel gerichteten
Maßnahmen und Eingliederung in das Arbeitsleben (Lang und Knickrehm, in Eicher und andere, Kommentar zum SGB II, 2. Aufl.
2008, § 21 Rdn. 48). Hier ist der Kläger jedoch bereits seit längerem erwerbstätig und somit in das Erwerbsleben integriert,
sodass gegenwärtig keine laufenden Maßnahmen für ihn nach §
33 SGB IX anfallen. Das spricht dafür, auch keinen Mehrbedarf nach §
21 Abs. 4 SGB II zu gewähren.
Gründe, die Berufung gemäß §
160 Abs.
2 SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.