Tatbestand:
Die Kläger sind die Eltern des am 26.06.1984 geborenen Sohnes Marcel, bei dem nach dem fachärztlichen Gutachten des Dr. med.
xxxxx vom 22.03.1999 eine Teilleistungsstörung im Sinne einer Lese-/Rechtschreibschwäche vorliegt.
Am 02.03.1999 beantragten die Kläger beim Beklagten die Übernahme der Kosten für eine lerntherapeutische Heilbehandlung zur
Behebung der Lese-Rechtschreibschwäche. Mit Schreiben vom 31.03.1999, beim Beklagten eingegangen am 01.04.1999, legten die
Kläger u.a. den Therapievertrag vom 27.07.1998, die lerntherapeutische Stellungnahme des Instituts für Legastheniker-Therapie
Reutlingen vom 09.05.1998, die Stellungnahme der Haupt- und Realschule Burladingen vom 13.11.1998 sowie den Befundbericht
des Dr. med. xxxxx vom 22.03.1999 vor. Nach dem Therapievertrag vom 27.07.1998 soll mit dem Sohn der Kläger ab Sept./Okt.
1998 eine lerntherapeutische Heilbehandlung durchgeführt werden. Zur Begründung der Notwendigkeit der Maßnahme bezogen sich
die Kläger auf die Stellungnahme des Instituts für Legastheniker-Therapie Reutlingen vom 09.05.1998. In ihrer Stellungnahme
vom 13.11.1998 teilte die Schule des Sohnes der Kläger mit, dass die Lese-/Rechtschreibschwäche seit Jahren bekannt sei, dass
sie aber spezielle Förderungen weder in der Vergangenheit habe anbieten können, noch solche im laufenden Schuljahr in Aussicht
stellen könne. Marcel sei fleißig, engagiert und pflichtbewusst mit ordentlichen bis guten Leistungen in den anderen Fächern.
Die Durchführung außerschulischer Maßnahmen zur Behebung der Lese-/Rechtschreibschwäche werde befürwortet.
Das Gesundheitsamt des Beklagten verneinte zwar eine drohende seelische Behinderung, hielt eine Legastheniker-Therapie aber
dennoch für erforderlich.
Mit Bescheid vom 17.06.1999 lehnte der Beklagte den Antrag der Kläger ab. Eine Behinderung oder das akute Drohen einer Behinderung
habe nicht festgestellt werden können, weshalb Leistungen der Eingliederungshilfe nicht in Betracht kämen.
Der Widerspruch der Kläger wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27.10.1999 zurück gewiesen. Im Widerspruchsbescheid ist ausgeführt:
§ 35a SGB VIII gehe als speziellere Regelung einer Anwendung von § 27 SGB VIII vor. Deren Voraussetzungen lägen aber nicht vor, weil keine Behinderung vorliege oder drohe.
Der Widerspruchsbescheid wurde den Klägern am 03.11.1999 zugestellt.
Die Kläger haben am 02.12.1999 Klage zum Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgen.
Sie machten geltend, dass die Leistungsvoraussetzungen des § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gegeben seien; auf § 35 a SGB VIII komme es nicht an. Für die Therapie vom Januar 1999 bis Mai 2000 seien Kosten in Höhe von insgesamt 6.420,00 DM entstanden.
Die Kläger haben beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 17.06.1999 und den Widerspruchsbescheid vom 27.10.1999 aufzuheben
und den Beklagten zu verpflichten, ihnen Hilfe zur Erziehung für die Legastheniker-Therapie vom 01.01.1999 bis zum 31.05.2000
zu gewähren.
Der Beklagte ist der Klage entgegen getreten und hat deren Abweisung beantragt.
Mit Urteil vom 07.03.2001 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen heißt es u.a.: Die
tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 SGB VIII, der auch nur vom Sohn der Kläger selbst geltend gemacht werden könnte, seien nicht erfüllt. Ein Anspruch ergebe sich auch
nicht aus § 27 SGB VIII. Für den Zeitraum 01.12.1999 bis 31.05.2000 scheide ein Anspruch bereits deshalb aus, weil der maßgebliche Leistungszeitraum
durch den Erlass des Widerspruchsbescheids limitiert werde. Nach § 27 SGB VIII könnten die Kosten für eine Legastheniker-Therapie auch nicht übernommen werden, weil es sich um keine Hilfe zur Erziehung
handele. Zwar sei aufgrund der Lese-/Rechtschreibschwäche eine Defizitsituation beim Sohn der Kläger festzustellen, § 27 SGB VIII erlaube aber nicht jedwede Maßnahme, sondern nur Hilfen, die ihrer Art nach Hilfe zur Erziehung darstellten. Eine solche
Erziehungsmaßnahme liege aber nicht vor, weil eine Maßnahme, die unter § 35a SGB VIII falle, nicht gleichzeitig als Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII bewilligt werden könne. Dies gelte jedenfalls für die Neufassung von § 27 SGB VIII. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Urteil vom 07.03.2001 Bezug genommen.
Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 21.03.2001 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 20.04.2001, beim Verwaltungsgericht eingegangen am 20.04.2001, haben die Kläger die Zulassung der Berufung
beantragt. Mit Beschluss vom 29.10.2002 hat der Senat die Berufung zugelassen. Dieser Beschluss wurde dem Prozessbevollmächtigten
der Kläger am 08.11.2002 zugestellt.
Die Berufung wurde mit Schriftsatz vom 04.12.2002, beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen am 05.12.2002, begründet. Wegen
der Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf den Schriftsatz vom 04.12.2002 Bezug genommen.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 07.03.2001 - 1 K 2505/99 - zu ändern und den Beklagten zu verpflichten, ihnen für die Zeit vom 01.01.1999 bis zum 31.05.2000 Hilfe zur Erziehung für
die Legastheniker-Therapie zu bewilligen sowie den Bescheid vom 17.06.1999 und den Widerspruchsbescheid vom 02.10.1999 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurück zu weisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 16.01.2003 verwiesen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die in der Sache angefallenen Gerichtsakten sowie die dem Senat vorliegenden Behördenakten
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann über die Berufung gemäß §§
125 Abs.
1 Satz 1,
101 Abs.
2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.
Die zugelassene Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht begründet worden. Die Berufung ist aber nur
teilweise begründet.
I.
1. Keinen Erfolg hat die Berufung für den Zeitraum vom 01.01.1999 bis zum 31.03.1999. Nach der Rechtsprechung des BVerwG,
der der Senat folgt, setzen Leistungen der Jugendhilfe grundsätzlich eine vorherige Antragstellung gegenüber dem Träger der
öffentlichen Jugendhilfe voraus (BVerwG, Urteil vom 28.09.2000 - FEVS 52, 532). Beschafft sich der Betroffene ohne Zustimmung
des Jugendhilfeträgers die Hilfe selbst, so ist der Jugendhilfeträger grundsätzlich nicht verpflichtet, die bereits entstandenen
Kosten zu übernehmen. Eine Ausnahme kommt insoweit nur in Betracht, wenn die Bedarfsdeckung unaufschiebbar ist. Von einer
solchen unaufschiebbaren Notwendigkeit kann im vorliegenden Fall aber nicht ausgegangen werden. Die Lese-/Rechtschreibschwäche
war den Klägern und auch der Schule seit Jahren bekannt, wie sich beispielsweise aus der Stellungnahme der Schule vom 13.11.1998
ergibt. Bei dieser Sachlage war es den Klägern aber zumutbar, sich vor Einleitung der Maßnahme, insbesondere auch vor Abschluss
des Therapievertrages mit dem Beklagten in Verbindung zu setzen, die Bedarfslage zu unterbreiten und die Gewährung von Hilfe
ausdrücklich zu beantragen. Die verspätete Antragstellung führt aber nicht zum völligen Wegfall des Anspruchs. Denn die streitgegenständliche
lerntherapeutische Heilbehandlung zeichnet sich dadurch aus, dass sie zeitabschnittbezogen und jeweils selbständig und damit
trennbar erbracht werden kann. Insbesondere sieht auch der Therapievertrag vom 27.07.1998 eine Kündigungsmöglichkeit zum Monatsende
vor. Ist die selbst beschaffte Leistung aber derart trennbar, kann hinsichtlich der Leistungsabschnitte, die zwar aufgrund
des zuvor abgeschlossenen Vertrages, aber erst nach Antragstellung beim Jugendhilfeträger erbracht worden sind, ein Anspruch
auf Kostenübernahme bestehen.
2. Kein Anspruch steht den Klägern auch für den Zeitraum 01.11.1999 bis zum 31.05.2000 zu. Denn bei einem Streit um die Gewährung
von Jugendhilfe kann ein Hilfeanspruch grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang zum Gegenstand verwaltungsgerichtlicher
Kontrolle gemacht werden, in dem der Leistungsträger den Hilfefall geregelt hat. Dies ist regelmäßig der Zeitraum bis zur
letzten Verwaltungsentscheidung, also bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids (BVerwGE 64, 224 >226<). Anderes kann zwar für von vornherein zeitlich begrenzte Hilfen geltend. Von einem solchen zeitlich absehbaren Wegfall
des Hilfebedarfs kann vorliegend aber nicht ausgegangen werden. Denn nach dem von den Klägern vorgelegten Therapievertrag
vom 27.07.1998 sollte die Maßnahme ab September/Oktober 1998 beginnen; eine zeitliche Befristung ist nicht vorgesehen. Aus
dem gleichfalls vorgelegten Behandlungsplan vom 06.03.1999 besteht ein außerschulischer Förderbedarf für mindestens zweieinhalb
Jahre, was ebenfalls gegen einen zeitlich feststehenden Bedarfszeitraum spricht.
II.
Erfolg hat die Berufung aber hinsichtlich des verbliebenen Zeitraums 01.04. 1999 bis 31.10.1999. Insoweit hat das Verwaltungsgericht
die Klage zu Unrecht abgewiesen. Denn der Bescheid des Beklagten vom 17.06.1999 und dessen Widerspruchsbescheid vom 27.10.1999
sind rechtswidrig. Die Kläger haben für diesen Zeitraum einen Anspruch auf die Bewilligung von Hilfe für die durchgeführte
Legastheniker-Therapie.
1. Die Kläger haben einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung aus § 27 SGB VIII. Der erkennende Senat hat die Anwendbarkeit von § 27 SGB VIII (in der Fassung vom 16.06.1990 >BGBl. I S. 1163<) in seinem Urteil vom 29.05.1995 - 7 S 259/94 - ESVGH 45, 292 für Fälle der Lese-/Rechtschreibschwäche bejaht (vgl. insoweit auch den Beschluss des 2. Senats des VGH Baden-Württemberg
vom 06.12.1999 - 2 S 891/98 - FEVS 51, 471). Der Senat hält an seiner Auffassung auch unter Geltung der für den streitgegenständlichen Zeitraum maßgeblichen
Neufassung von § 27 SGB VIII (in der Fassung des Gesetzes vom 08.12.1998 >BGBl. I S. 3546<) fest. Anders als das Verwaltungsgericht und der 9. Senat des
Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Urteil vom 06.04.2005 - 9 S 2633/03) ist er nicht der Auffassung, dass die Einführung von § 35 a SGB VIII die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII für Fälle der Lese-/Rechtschreibschwäche durchweg ausschließt. Zutreffend ist allerdings die Erwägung des Verwaltungsgerichts,
dass Leistungen nach § 35 a SGB VIII an das Kind bzw. den Jugendlichen der Gewährung von Hilfe zur Erziehung an die Eltern vorgehen, wenn die besondere Voraussetzungen
dieser Norm gegeben sind. Der vorliegende Fall zeichnet sich aber dadurch aus, dass der Sohn der Kläger gerade nicht die Voraussetzungen
des § 35 a SGB VIII erfüllt, nach dem fachärztlichen Gutachten vom 22.03.1999 sowie der Stellungnahme des Gesundheitsamtes vom 17.05.1999, der
Stellungnahme der Haupt- und Werkrealschule Burladingen vom 13.11.1998 und der lerntherapeutischen Stellungnahme des Instituts
für Legastheniker-Therapie Reutlingen vom 09.05.1998 aber außer Frage steht, dass beim Sohn der Kläger ein erhebliches Defizit
vorliegt, das der erzieherischen Reaktion bedarf. Wollte man den Eltern von Kindern oder Jugendlichen in solcher Situation
Hilfe zur Erziehung durchweg versagen, würde dies dazu führen, dass man entweder eine weitere Verschlechterung des Zustandes
des Kindes bis zum Eintritt einer akuten oder drohenden Behinderung abwarten müsste, um dann nach § 35 a SGB VIII helfen zu können, oder aber, falls eine solche Verschlechterung nicht eintreten sollte, das erhebliche erzieherische Defizit,
das das Kind auf seinem weiteren Lebensweg massiv beeinträchtigen kann und in aller Regel auch beeinträchtigen wird, unbeachtet
und untherapiert ließe. Weder die eine noch die andere Alternative erscheint dem erkennenden Senat als zumutbar. Im vorliegenden
Fall ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Lese-/Rechtschreibschwäche für den Sohn der Kläger in der Vergangenheit bereits
erhebliche Nachteile mit sich gebracht hat, die eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich gemacht haben.
Einem solchen Normverständnis steht auch nicht der Wortlaut der Vorschrift entgegen. Nach § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII wird Hilfe zur Erziehung insbesondere nach Maßgabe der - vorliegend nicht einschlägigen - §§ 28 bis 35 gewährt. Aus dem Wortlaut folgt aber auch, dass die in § 27 Abs. 2 SGB VIII erfolgte Aufzählung der Hilfeformen nicht abschließend ist, sondern dass es daneben atypische Konstellationen geben kann,
für die ebenfalls Hilfe zur Erziehung in Betracht kommt. So hat das BVerwG mit Urteil vom 12.12.2002 (BVerwGE 117, 261 = NJW 2003, 2399) entschieden, dass für die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind in einer Mutter-und-Kind-Einrichtung des Strafvollzugs
Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII in Betracht kommt (vgl. zu einer ähnlichen Problematik auch Hessischer VGH, DVBl 2001, 576 und FEVS 52, 462).
Auch die strikte systematische Unterscheidung in Hilfearten, die ausschließlich familienunterstützend, -ergänzend oder - ersetzend
seien und solche Hilfen, die schulergänzend oder -ersetzend seien (so der VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.04.2005 - 9 S 2633/03 - >UA S. 11< unter Bezugnahme auf Kunkel, ZfJ 1997, 315 >316<), erscheint dem erkennenden Senat nicht zwingend. Die Erziehung des Kindes erfolgt in der hier interessierenden Phase
der schulischen Ausbildung und Erziehung immer im Zusammenwirken der Erziehungsberechtigten, regelmäßig der Eltern, und des
Staates, dem durch Art.
7 Abs.
1 GG ein eigenständiges Erziehungsrecht zugebilligt ist. Eine strikte Trennung beider Verantwortungsbereiche ist hier schon begrifflich
nicht möglich. Die Befugnisse und Pflichten beider Seiten sind vielmehr vielfältig verzahnt und - hinsichtlich der schulischen
Entwicklung - durch Informations-, Mitwirkungs- und Wahlrechte der Eltern gekennzeichnet. Ob und wo in dieser Phase die elterliche
oder schulische Erziehung überwiegt, hängt dabei immer auch von der konkreten familiären und schulischen Situation ab. So
ist nicht zu übersehen, dass die Schule sich zunehmend mit Erziehungsproblemen konfrontiert sieht, die eigentlich der elterlichen
Erziehungsverantwortung zuzurechnen sind. Umgekehrt sehen sich Eltern immer wieder gezwungen, Erziehungsleistungen zu erbringen,
die eigentlich der Schule überantwortet sind. Von daher ist es auch nicht systemwidrig, dass der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung
nicht dem Kind, sondern den Eltern zusteht. Diese Zuordnung trägt lediglich der parallelen Verantwortung der Eltern auch während
der Phase der schulischen Ausbildung und Erziehung Rechnung. Ob ein das Einsetzen der Jugendhilfe rechtfertigendes erzieherisches
Defizit festzustellen ist, kann damit nicht davon abhängig sein, ob ein Erziehungsproblem eigentlich von der Schule gemeistert
werden müsste, sondern nur davon, ob ein solches Defizit vorliegt. Denn der staatliche Erziehungsauftrag und das Elternrecht
haben sich, isoliert betrachtet und auch in ihrem Zusammenwirken, immer am Kindeswohl zu orientieren. Dem Vorrang der schulischen
Problemlösung für den Bereich der Legasthenie trägt ausschließlich das Nachrangprinzip des 10 Abs. 1 SGB VIII Rechnung, das allerdings voraussetzt, dass das Kind die erforderliche Hilfe tatsächlich von der Schule erlangen kann, was
vorliegend - wie so oft - gerade nicht der Fall ist.
2. Die Voraussetzungen des § 27 SGB VIII liegen vor.
a) Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Erziehung ist, dass ohne diese Leistungen eine dem Wohl des
Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Eine nähere Konkretisierung nimmt das Gesetz nicht
vor, um nicht bestimmten Zuschreibungsprozessen (wie etwa Verwahrlosung oder Entwicklungsstörung) Vorschub zu leisten; vielmehr
soll mit der Wahl des Begriffs Kindeswohl die Entwicklung bis zu einem gewissen Grad offen gehalten werden. Für den Rechtsanspruch
auf Erziehungshilfe ist deshalb nicht mehr - wie unter der Geltung des Jugendwohlfahrtsgesetzes - Voraussetzung, dass die
familiäre Erziehung defizitär ist, sondern es wird generell auf Defizitsituationen abgestellt. Entscheidend ist also, ob das,
was für die Sozialisation, Ausbildung und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen erforderlich ist, tatsächlich vorhanden ist.
Dessen Wohl ist demnach dann nicht (mehr) gewährleistet, wenn die konkrete Lebenssituation durch Mangel (z.B. an pädagogischer
Unterstützung oder an Ausbildungsmöglichkeit) oder soziale Benachteiligung gekennzeichnet ist und das Sozialisationsfeld des
Minderjährigen nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften diese Mangel- und Defizitsituation abzubauen und deshalb erzieherische
Hilfsbedürftigkeit besteht.
b) Gemäß § 27 Abs. 3 SGB VIII umfasst Hilfe zur Erziehung insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Sie
soll bei Bedarf Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen i.S.d. § 13 Abs. 2 einschließen. Zu den pädagogischen Leistungen
zählen alle Hilfeleistungen und -maßnahmen, die direkt oder indirekt auf die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes oder
Jugendlichen einwirken und seiner Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit im Sinne
der allgemeinen Aufgaben- und Zielvorstellungen des § 1 SGB VIII dienen. Im Rahmen der pädagogischen Leistungen ist die zur Zielsetzung notwendige Therapie zu wählen; mit dieser kann es
notwendig sein, neben pädagogischen Fachkräften auch andere Fachkräfte wie Psychologen und Ärzte einzubeziehen. Aufgrund der
im Verwaltungsverfahren eingeholten bzw. vorgelegten Bescheinigungen und Stellungnahmen von Ärzten, des Instituts für Legastheniker-Therapie,
Reutlingen sowie der Schule steht es für den erkennenden Senat fest, dass im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung
beim Sohn der Kläger Teilleistungsstörungen in den Bereichen Lesen und Rechtschreibung vorhanden waren, die zur Vermeidung
weiterer psychosozialer Störungen einer gezielten Behandlung bedurften. Die für das Einsetzen der Hilfe zur Erziehung erforderliche
Defizitsituation lag somit vor, weil das Sozialisationsfeld des Sohnes der Kläger, nicht in der Lage war, dieses Defizit abzubauen.
Hierzu war vielmehr eine besondere pädagogische Therapie erforderlich, die nur durch hierfür besonders ausgebildete Pädagogen
geleistet werden kann.
c) Gemäß § 27 Abs. 2 SGB VIII wird Hilfe zur Erziehung insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt. Es handelt sich also um keine abschließende, sondern nur um eine beispielhafte Aufzählung. Art und Umfang der Hilfe
richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall (§ 27 Abs. 2 Satz 2 SGB-VIII). Bedenken gegen die Eignung des Instituts
für Legastheniker-Therapie für die Durchführung der erforderlichen pädagogischen und therapeutischen Leistungen hat der Beklagte
nicht vorgebracht; solche Bedenken sind auch nicht ersichtlich.
d) Der Bewilligung von Hilfe zur Erziehung steht auch nicht die vorrangige Zuständigkeit der Schule entgegen. Zwar gehört
es zu den Aufgaben der Schulen, durch besondere Fördermaßnahmen in Fällen ausgeprägter Lese-/ Rechtschreibschwäche Hilfe zu
leisten. Jedoch greift der Nachrang der öffentlichen Jugendhilfe (§ 10 Abs. 1 SGB VIII) nur dann ein, wenn die erforderliche Hilfe von anderer Seite tatsächlich erlangt werden kann, die Hilfe also präsent ist.
Dies war aber im vorliegenden Fall gerade nicht möglich, wie sich aus der Stellungnahme der Haupt- und Werkrealschule Burladingen
vom 13.11.1998 ergibt. Nach dieser Stellungnahme der Schule wird die von den Klägern durchgeführte außerschulische Maßnahme
für erforderlich gehalten und ausdrücklich befürwortet.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
155 Abs.
1 Satz 1
VwGO. Gerichtskosten werden gemäß §
188 Satz 2
VwGO nicht erhoben.
Die Revision ist gemäß §
132 Abs.
2 Nr.
1 VwGO zuzulassen. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Frage, ob für eine Legastheniker-Therapie Hilfe ausschließlich nach den
besonderen Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII oder auch nach § 27 SGB VIII als Hilfe zur Erziehung gewährt werden kann.