Absenkung eines GdB nach Ablauf der Heilungsbewährung
Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Herabsetzungsbescheides
Kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung
Tatbestand:
Die 1959 geborene Klägerin begehrt mit der Berufung die Aufhebung eines Absenkungsbescheides, mit dem der Grad der Behinderung
(GdB) von 60 auf 40 herabgesetzt worden ist.
Der Klägerin war mit Bescheid vom 1. März 2005 ein GdB von 60 zuerkannt und dabei folgende Funktionseinschränkungen zugrunde
gelegt worden:
1. Erkrankung der Brust rechts (Mammakarzinom) 2. degenerative Veränderung der Wirbelsäule, operierte Bandscheibe, Versteifung
von Wirbelsäulenabschnitten
Einen zwischenzeitlich gestellten Antrag der Klägerin auf Feststellung eines höheren GdB lehnte der Beklagte mit Bescheid
vom 24. Januar 2016 ab.
Mit Bescheid vom 17. August 2011 stellte der Beklagte nach Auswertung zahlreicher eingeholter Befundberichte einen GdB von
30 fest und legte dabei folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
1. Teilverlust der rechten Brust nach Mammakarzinom in Heilungsbewährung 2. operierter Bandscheibenvorfall 3. Versteifung
von Wirbelsäulenabschnitten 4. degenerative Wirbelsäulenveränderungen
Die Klägerin legte am 14. September 2011 Widerspruch ein und führte aus, es seien nicht alle angegebenen Befunde ausreichend
berücksichtigt worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 2012 stellte der Beklagte einen GdB von 40 wegen des zusätzlich
berücksichtigten Lymphödems beider Beine fest und wies den Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurück.
Gegen diesen Bescheid richtete sich die am 27. Juni 2012 erhobene Klage.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch die Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte und die Klage mit Urteil
vom 7. März 2016 als unbegründet zurückgewiesen. Ein höherer GdB als 40 lasse sich aus den medizinischen Unterlagen nicht
ableiten. Folgende Funktionseinschränkungen seien zu berücksichtigen:
1. Erkrankung der rechten Brust nach Ablauf der Heilungsbewährung (Einzel-GdB 10) 2. Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule
(Einzel-GdB 30) 3. Lymphödem beider Beine (Einzel-GdB 20) 4. Psychische Beeinträchtigungen (Einzel-GdB 30) 5. Funktionsbeeinträchtigung
der Hüfte (Einzel-GdB 10)
Mit der am 15. April 2016 eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die neurologischen, orthopädischen
und psychischen Funktionsbeeinträchtigungen seien durch das Sozialgericht nicht hinreichend gewürdigt worden. Neben den psychischen
Leiden sei nach der Brust-OP ein Gewichtsunterschied von ca. 1 kg von rechts zu links zu verzeichnen, der zu einer Schiefhaltung
führe. Zudem leide sie in Folge der Operation unter einem Lymphödem im rechten Arm.
Der Senat hat weiteren Beweis durch die Beiziehung des Reha-Entlassungsberichts der Knappschafts-Klinik W vom 12. April 2017
erhoben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 7. März 2016 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 17. August 2011 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2012 aufzuheben, soweit darin der Grad der Behinderung auf einen Wert von weniger als
50 abgesenkt wird.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt
der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Die Klage ist als isolierte Anfechtungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1 Var. 1
SGG) statthaft.
Die Berufung ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage gegen den Absenkungsbescheid als unbegründet zurückgewiesen.
Der angegriffene Neufeststellungsbescheid 17. August 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2012, mit welchem
der Beklagte den ursprünglich festgestellten GdB von 60 auf 40 herabgesenkt hat, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin
in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheides vom 8. Juni 2005 ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen
Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Hierbei sind
die im Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die im Zeitpunkt des letzten Feststellungsbescheides
vorhanden gewesen sind, zu vergleichen. Bei einer derartigen Neufeststellung handelt es sich nicht um eine reine Fortschreibung
des im letzten maßgeblichen Bescheid festgestellten GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der verschiedenen
aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (vgl. BSG, Urteil vom 19. September 2000, B 9 SB 3/00 R, juris; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 5. Januar 2011, L 6 (7) SB 135/06, Rn. 21, juris; LSG Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 18.Juni 2002, L 6 SB 142/00, juris).
Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung
(st. Rspr. BSG Urteil vom 17. April 1991 - 1 RR 2/89, Rn. 17, juris; BSG, Urteil vom 20. April 1993 - 2 RU 52/92, Rn. 15, juris; BSG, Urteil vom 24. November 1993 - 6 RKa 70/91, Rn. 20, juris; BSG Urteil vom 12. November 1996 - 9 RVs 5/95, Rn. 14, juris; BSG - Urteil vom 10. September 1997 - 9 RVs 15/96, Rn. 11, juris; vgl. auch Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
54 Rn. 33 m.w.N.), hier also bei Erlass des Widerspruchsbescheides (§
95 SGG) im Mai 2012. Die Rechtmäßigkeit eines bloßen Herabsetzungsbescheids bestimmt sich nach diesem Zeitpunkt, spätere eventuelle
Veränderungen während des Gerichtsverfahrens werden nicht berücksichtigt. Dies ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz für isolierte
Anfechtungsklagen, während bei Verpflichtungs- und anderen Leistungsklagen grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung in einer Tatsacheninstanz abzustellen ist (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schütze,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
54 Rn. 34). Auf diesen Zeitpunkt ist ausnahmsweise auch bei einer isolierten Anfechtungsklage abzustellen, wenn sie einen Verwaltungsakt
mit Dauerwirkung betrifft (BSG, Urteil vom 12. November 1996 - 9 RVs 5/95 -, Rn. 14, juris). Die Herabbemessung eines GdB ist selbst jedoch kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (BSG, Urteil vom 10. September 1997 - 9 RVs 15/96 -, Rn. 11, juris). Ihre Wirkung beschränkt sich auf die Veränderung der Rechtslage zu einem bestimmten Zeitpunkt (LSG Baden-Württemberg,
Urteil vom 17. Dezember 2015 - L 6 SB 3978/14 -, Rn. 31, juris).
Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist in Fällen der vorliegenden Art, in denen um die Herabsetzung des GdB gestritten
wird, nicht bereits dann eingetreten, wenn das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen maßgeblich geringer eingeschätzt wurde
als in der ersten Entscheidung durch den Beklagten. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass in dem Gesundheitszustand
des Betroffenen Änderungen eingetreten sind, die nachvollziehbar die betreffenden Funktionsbeeinträchtigungen verringert haben.
Für das Vorliegen dieser Änderung trifft den Beklagten, der sich in dem Aberkennungsbescheid hierauf beruft, die materielle
Beweislast (Urteil des Senats vom 23. August 2012 - L 13 SB 39/12 -, Rn. 23, juris).
Mit der Heilungsbewährung lag zwar eine Veränderung der Sachlage im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, die grundsätzlich eine Neubewertung des GdB erforderlich macht (vgl. VMG Teil A Nr. 7b). Dabei sind nach den §§ 2 Abs. 1,
69 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (
SGB IX a.F.) bzw. nach §
152 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (
SGB IX n.F.) die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind
die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) heranzuziehen.
Der Senat hat jedoch nicht die Überzeugung gewinnen können, dass während des Zeitraumes von 2006 bis 2012 in dem Gesundheitszustand
der Klägerin eine Änderung dergestalt eingetreten ist, dass die Herabsetzung des ursprünglich festgestellten GdB von 60 auf
einen GdB von 40 rechtfertigt wäre. So bestanden nach den im Verwaltungsverfahren vorgelegten Unterlagen und der von der Klägerin
aufgeführten Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu vernachlässigende Anhaltspunkte dafür, dass die Bemessung des Einzel-GdB
für die Erkrankung der Brust nach Ablauf der Heilungsbewährung mit einem Wert von mehr als 10 zu bemessen gewesen ist, da
sie am 4. November 2010 im Rahmen des von Amts wegen eingeleiteten Verfahrens zur Neufeststellung des Grades der Behinderung
angegeben hat, postoperativ unter einem Lymphödem im rechten Arm zu leiden (Bl. 102 der Verwaltungsakte). Dies steht in Übereinstimmung
mit den Angaben der Klägerin zu Beginn des stationären Aufenthaltes in der Knappschaftsklinik W am 14. März 2017, bei der
sie über dauerhafte Beschwerden des rechten Armes bei Zustand nach Mamma-OP klagt und mit dem Vortrag im Berufungsverfahren.
Nach 14. 1 VMG ist für eine einseitige Segment oder Quadrantenresektion der Brust ein GdB von 10 bis 20 anzusetzen. Dabei
werden bestimmte Funktionseinschränkungen oder Operations- bzw. Bestrahlungsfolgen gesondert hervorgehoben. So sind insbesondere
Lymphödeme, Muskeldefekte, Nervenläsionen und Fehlhaltungen ggf. zusätzlich zu berücksichtigen. Für den Senat besteht damit
eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Einzel-GdB für diese Funktionseinschränkungen jedenfalls mit einem Wert
von 20 anzusetzen ist. Für die Annahme, dass lediglich ein Einzel-GdB von 10 festgestellt werden kann, hat der Beklagten jedenfalls
aber keine hinreichenden, auf eigenen Ermittlungen beruhenden Feststellungen getroffen, die den Senat in die Lage versetzen,
diese Einschätzung auf Schlüssigkeit zu untersuchen.
Daneben liegen weitere Funktionseinschränkungen auf neurologisch-psychiatrischem und orthopädischem Fachgebiet vor, die bereits
von dem Beklagten jeweils mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet worden sind, sowie weitere Gesundheitsstörungen durch Lymphödeme
in den Beinen mit einem Einzel-GdB von 20. In einem solchen Fall ist der GdB gemäß §
69 Abs.
3 SGB IX a.F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
festzustellen. Nach Teil A 3c VMG ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten
Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch
das Ausmaß der Behinderung größer wird.
Ausgehend von der unzutreffenden Festsetzung des Einzel-GdB für den Funktionskreis Brust ist daher auch die von dem Beklagten
vorgenommene Bildung des Gesamt-GdB nicht nachvollziehbar. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass bei sich wechselseitig
beeinflussenden Funktionsstörungen dieses Gewichts eine Erhöhung des höchsten Einzel-GdB um 20 und damit mindestens auf 50
vorzunehmen war.
Vorliegend hat es der Beklagte es jedoch unterlassen, hinreichende Ermittlungen zum Ausmaß der bei der Klägerin vorhandenen
Funktionseinschränkungen und deren wechselseitigen Beeinflussung - beispielweise durch Einholung eines Sachverständigengutachtens
- vorzunehmen. Die insoweit fehlenden Ermittlungen sind auch nicht vom Sozialgericht nachgeholt worden. Eine Beweiserhebung
durch den Senat war allerdings nicht veranlasst, da auszuschließen ist, dass mehr als sechs Jahre nach Erlass des Widerspruchsbescheides
noch tragfähige Aussagen zum Gesundheitszustand der Klägerin und des Ausmaßes der Funktionsbeeinträchtigungen zu diesem Zeitpunkt
zu gewinnen sind, auf die sich der Senat hätte stützen können. Der Umstand, dass der Beklagte seinerzeit den Sachverhalt nicht
umfassend ermittelt und auf dieser unsicheren Grundlage zeitlich unbefristete Feststellungen im Wege des Verwaltungsaktes
getroffen hat, geht zu seinen Lasten, wenn - wie hier - die in der Vergangenheit liegenden tatsächlichen Verhältnisse nicht
mehr aufgeklärt werden können.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache und dem Ausmaß des wechselseitigen Unterliegens, nachdem die Klägerin ursprünglich
eine vollständige Aufhebung des Herabsenkungsbescheides und damit die Wiederherstellung der Feststellung eines GdB von 60
begehrt hatte.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.