Anerkennung zusätzlicher Schädigungsfolgen infolge erlittener Haft in der ehemaligen DDR
Affektive bipolare Störung
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Anerkennung zusätzlicher Schädigungsfolgen infolge erlittener Haft in der ehemaligen DDR sowie die
Gewährung einer Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 100 auf der Grundlage des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (StrRehaG) i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der am 7. Mai 1946 geborene Kläger bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung sowie ergänzend Leistungen der Grundsicherung
nach dem XII. Buch des Sozialgesetzbuches.
Vor seiner Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR zum 9. August 1977 mit anschließender Einreise in das Gebiet der
damaligen Bundesrepublik Deutschland verbüßte der Kläger mehrere Freiheitsstrafen. Unter anderem befand er sich in der Zeit
vom 18. April 1970 bis zum 17. April 1971 (wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch asoziales Verhalten) und vom
1. April 1976 bis zum 31. März 1977 (wegen Beihilfe zum versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt) in Strafhaft in Haftanstalten
der DDR. Mit Beschluss des Landgerichts Rostock vom 18. Januar 2007 - 16 Rh 41/06 - wurde der Kläger für die Haftzeit vom
18. April 1970 bis zum 17. April 1971 und mit Beschluss des Landgerichts Rostock vom 1. Oktober 1998 - 355 RHS 73/96 - wurde
der Kläger für die Haftzeit vom 1. April 1976 bis zum 31. März 1977 rehabilitiert.
Auf den Antrag des Klägers vom 21. Mai 2001 zog der Beklagte ärztliche Befunde insbesondere des den Kläger behandelnden Arztes
für Innere Medizin Dr. W sowie das im Rentenverfahren erstattete Sachverständigengutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie
Dr. K vom 23. August 2005 bei. Dr. K stellte unter Berücksichtigung des Befundberichtes des den Kläger seit dem 28. September
1999 behandelnden Facharztes für Urologie Dr. H, der eine erhöhte Miktionsfrequenz beim Kläger angab, fest, dass deswegen
eine Somatisierungsstörung, insbesondere Reizblase, seit 1999 gegeben sei. Die sodann mit der Begutachtung des Klägers von
dem Beklagten beauftragte Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. H stellte nach körperlicher Untersuchung des Klägers
vom 26. März 2008 in ihrem Gutachten vom 31. August 2008 fest, dass bedingt durch die Ereignisse in der Kindheit des Klägers
(Meningitiserkrankung im Alter von 1 ½ Jahren, Schädelhirntrauma im Alter von 6 Jahren infolge eines Unfalles, körperliche
Gewalt durch den oft alkoholisierten Vater, Heimaufenthalt zw. dem 7. und 14. Lebensjahr, Ausgrenzung wegen bestehender Homosexualität)
schon ein seelischer Vorschaden bestanden habe. Wegen der im Zeitpunkt der letzten Haft im Jahre 1976/1977 bereits abgeschlossenen
Persönlichkeitsentwicklung des Klägers sei die bestehende Persönlichkeitsstörung schadensunabhängig. Gleiches gelte für die
erst nach dem Verlust der vom Kläger im Westen aufgebauten Kunstgalerie zu Beginn der 90er Jahre einsetzenden Somatisierungsstörung
insbesondere auf urologischem Gebiet (häufiges Wasserlassen). Schädigungsbedingt seien allein regelmäßig wiederkehrende Albträume,
die einen GdS von 10 bedingen würden. Der Grad der Behinderung (aus schwerbehindertenrechtlicher Sicht) sei mit insgesamt
60 zu bewerten.
Der gutachtlichen Einschätzung folgend erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 15. August 2008 regelmäßig wiederkehrende Albträume
als Schädigungsfolgen der erlittenen, rehabilitierten Haft nach dem StrRehaG an und stellte überdies fest, dass für die Schädigungsfolgen Anspruch auf Heilbehandlung ab dem 1. Mai 2001 bestehe. Der
GdS betrage jedoch weniger als 25 v. H., so dass ein Anspruch auf die Gewährung einer Rente nicht bestehe. Auf den hiergegen
erhobenen Widerspruch des Klägers vom 29. August 2008, in dem er unter Beifügung eines Attestes des behandelnden Arztes Dr.
W vom 16. Oktober 2008 darauf verwies, dass er durch einen Wachtmeister während der Haft mehrfach sexuell in erheblichem Maße
genötigt und misshandelt sowie geschlagen worden sei, stellte der Beklagte unter Zurückweisung des Widerspruchs im Übrigen
haftbedingt neben der Schädigungsfolge von regelmäßig wiederkehrenden Albträumen im Sinne einer Entstehung eine kombinierte
Persönlichkeitsstörung im Sinne einer Verschlimmerung fest, die er jeweils mit einer Einzel-GdS von 10 bewertete. Der Gesamt-GdS
sei ebenfalls mit 10 zu bewerten. Eine haftbedingte kombinierte Persönlichkeitsstörung sei zudem festzustellen gewesen, weil
angesichts der nunmehr auch rehabilitierten Haftzeit von 1970/1971 zum damaligen Zeitpunkt von einer noch nicht abgeschlossenen
Persönlichkeitsentwicklung auszugehen gewesen sei. Gleichzeitig stellte der Beklagte in dem Widerspruchsbescheid fest, dass
die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen dem Kläger zu einem Drittel zu erstatten seien.
Der Kläger hat am 20. November 2008 Klagezum dem Sozialgericht Berlin erhoben.
Das Sozialgericht hat zur weiteren Sachaufklärung nach Beiziehung von Befundberichten der den Kläger behandelnden Ärzte, des
Facharztes für Neurologie und Psychiatrie A vom 28. April 2009, des Facharztes für Innere Medizin Dr. W vom Mai 2009 und des
Facharztes für Urologie Dr. H vom 16. Juni 2009 den Arzt für Psychiatrie Prof. Dr. Z mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens
beauftragt. Dieser stellte nach körperlicher Untersuchung des Klägers vom 24. Februar 2010 in seinem Gutachten vom 11. März
2010 ebenfalls fest, dass die seit der Jugend im Wesentlichen bestehende psychische Störung nicht ursächlich auf die Haftzeiten
zurückzuführen seien. Auch die Somatisierungsstörungen (insbesondere urologischen Beschwerden) seien mit Sicherheit nicht
durch die Hafterlebnisse bedingt oder verschlimmert worden. Haftbedingt seien allein die Schlafstörungen mit Albträumen und
die Verschlimmerung der Persönlichkeitsstörung. Insoweit würde es sich aber um allein leichte Störungen handeln, die jeweils
mit einem GdS von 10 zu bewerten seien. Wegen der gegenseitigen Beeinflussung dieser Störungen, die eine ausgeprägte Einschränkung
nach sich ziehen würden, sei der Gesamt-GdS mit 15 zu bewerten.
Mit Gerichtsbescheid vom 16. März 2011 hat das Sozialgericht Berlin den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 15. August
2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2008 verpflichtet, bei dem Kläger eine nichtorganische Insomnie
mit Albträumen im Sinne einer Entstehung sowie eine Persönlichkeitsstörung in Form paranoider Gedanken und Ängste im Sinne
der Verschlimmerung als Schädigungsfolgen nach § 21 StrRehaG i. V. m. § 30 BVG anzuerkennen und einen GdS von 20 festzustellen. Im Übrigen hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Mit dem Sachverständigen
Prof. Dr. Z spreche eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass allein vorgenannte Störungen auf die Haftzeiten zurückzuführen
seien, deretwegen der Kläger rehabilitiert worden sei. Diese seien lediglich als leichte Störungen zu bewerten und gemäß Teil
B Nr. 3. 7 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) jeweils mit einem GdS von 10 zu bewerten. Mit dem Sachverständigen sei wegen der gegenseitigen Beeinflussung der Schädigungsfolgen
von einem Gesamt-GdS von 15 auszugehen, der gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG auf 20 aufzurunden sei. Eine Höherbewertung scheide im Übrigen aus, da die bestehende psychische Störung darüber hinaus ebenso
sowie die bestehende somatoforme Störung nicht haftbedingt seien. Da der Gesamt-GdB nicht wenigstens 25 betrage, sei auch
keine Beschädigtenrente gemäß § 31 BVG zu gewähren.
Gegen den ihm am 22. März 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 24. März 2011 Berufung eingelegt, mit der er
sein Begehren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. März 2011 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides
vom 15. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2008 zu verpflichten, zugunsten des Klägers
ab dem 21. Mai 2001 weitere Schädigungsfolgen auf psychiatrischem Gebiet festzustellen und dem Kläger eine Beschädigtenrente
ab dem 1. Januar 2004 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung am 9. November 2014 der Facharzt für Neurologie
und Psychiatrie Dr. K ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, bei
dem Kläger bestehe eine bipolare affektive Störung, gegenwärtig hypomanische Episode (ICD 10:F 31.0). Diese sei mit Wahrscheinlichkeit
auf die unrechtmäßige Inhaftierung zurückzuführen und führe zu einem schädigungsbedingten GdS von 50.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten
Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen
haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §
144 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), sie ist auch begründet. Dem Kläger stehen die geltend gemachten Ansprüche auf Feststellung von Schädigungsfolgen auf psychiatrischem
Gebiet und auf Gewährung von Versorgungsleistungen zu.
Rechtsgrundlage ist § 21 StrRehaG in Verbindung mit dem BVG. Die bei dem Kläger gegebenen rechtswidrigen und rehabilitierten Haftzeiten in der Zeit vom 18. April 1970 bis zum 17. April
1971 und vom 1. April 1976 bis zum 31. März 1977 stellen Schädigungshandlungen dar, die mit Wahrscheinlichkeit zu psychischen
Erkrankungen des Klägers geführt haben. Bei den psychischen Erkrankungen des Klägers, soweit sie schädigungsbedingt sind,
handelt es sich indessen nicht, wie von dem Beklagten und der Vorinstanz angenommen, um ein posttraumatisches Belastungssyndrom
oder eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, sondern bei dem Kläger liegt eine affektive Psychose vor, die sich
in Form einer bipolaren Störung manifestiert hat. Dies ergibt sich insbesondere aus dem Sachverständigengutachten des Dr.
K vom 9. November 2014, in dem dieser unter Auswertung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen und unter sorgfältiger
medizinischer Abgrenzung gegenüber den Vorgutachten die bei dem Kläger bestehende Psychose diagnostiziert und umschrieben
hat. Im Sachverständigengutachten hat der Sachverständige auch zugleich eine deutliche Abgrenzung gegenüber den Persönlichkeitsänderungen
nach Extrembelastung vorgenommen, deren Symptome bei dem Kläger nicht vorhanden sind. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit
dieser medizinischen Einschätzung. Der Sachverständige ist dem Senat aus zahlreichen Verfahren als ein außerordentlich kompetenter
Sachverständiger, insbesondere bezogen auf Fragen der Haftentschädigung, bekannt. Er verfügt im besonderen Maße über Erfahrungswissen
durch seine langjährige Tätigkeit als Chefarzt einer Klinik des Maßregelvollzuges und ist insbesondere mit den psychischen
Auswirkungen von Haftbedingungen vertraut.
Der Senat folgt ebenfalls der Einschätzung des Sachverständigen, dass mit Wahrscheinlichkeit das psychische Schädigungsbild
auf die Haftzeiten zurückzuführen ist, deretwegen der Kläger rehabilitiert wurde. Wie der Sachverständige im Einzelnen herausgearbeitet
hat, sind die Erscheinungsformen der bei dem Kläger bestehenden bipolaren Störung nicht vor den Haftzeiten bei ihm manifest
geworden, es kommen auch keine anderen Ursachen ernsthaft in Betracht. In der psychiatrischen Wissenschaft ist zudem anerkannt,
dass affektive Psychosen wie etwa die hier bestehende affektive bipolare Störung durch Erfahrungen wie etwa die für den Kläger
außerordentlich belastenden Haftzeiten hervorgerufen werden können. Vor diesem Hintergrund verbietet sich - anders als der
Beklagte verlangt - eine Abgrenzung gegenüber den Kausalitätserwägungen insbesondere in dem Gutachten des Prof. Dr. Z vom
11. März 2010, weil dieses Gutachten - wie bereits ausgeführt - von einer unzutreffenden Schädigungsfolge und einem bei dem
Kläger tatsächlich nicht bestehenden Krankheitsbild ausgeht und schon aus diesem Grunde die dazugehörigen Kausalitätserwägungen
nicht mehr tragfähig sind.
Dem Kläger ist auch eine Rente zu gewähren gemäß § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz, denn der schädigungsbedingte GdS erreicht den Wert von 50. Auch insoweit folgt der Senat der Einschätzung des Sachverständigen.
Diese steht im Übrigen auch in Einklang mit B3.6 der Anlage zu § 2 VersmedV, wonach langanhaltende Psychosen im floriden Stadium
mit einem GdS von mindestens 50 zu belegen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.