Krankenversicherung
Magenbypass-Operation als Sachleistung
Genehmigungsfiktion
Grundsätze der objektiven Beweislast
1. Aus der Genehmigungsfiktion des §
13 Abs.
3a S. 6
SGB V folgt ein Sachleistungsanspruch des Versicherten auf die beantragte Leistung.
2. Im sozialgerichtlichen Verfahren gelten die Grundsätze der objektiven Beweislast (Feststellungslast).
3. Die Feststellungslast regelt, wen die Folgen treffen, wenn das Gericht eine bestimmte Tatsache trotz Ausschöpfung aller
Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen kann.
4. Es gilt der Grundsatz, dass jeder im Rahmen des anzuwendenden Rechts die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von
ihm geltend gemachten Anspruch begründen.
5. Dies gilt für das Vorhandensein positiver wie für das Fehlen negativer Tatsachen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einer Magenbypass-Operation als Sachleistung.
Die 1963 geborene und bei der Beklagten versicherte Klägerin beantragte am 1. Oktober 2014 bei der Beklagten die Versorgung
mit einer Magenbypass-Operation als Sachleistung. Ihrem Antrag fügte sie u. a. einen Arztbrief der sie behandelnden Fachärztin
für Allgemeinmedizin Dr. med. J G vom 26. August 2014 bei. Diese beschrieb bei der Klägerin ein ausgeprägtes Übergewicht bei
einem BMI von >43. Konservative Maßnahmen seien von der Klägerin in den vergangenen Jahren auch unter regelmäßiger hausärztlicher
Kontrolle und Begleitung ohne Erfolg durchgeführt worden. Aus hausärztlicher Sicht sei eine bariatrische Operation mit dem
Ziel einer dauerhaften Gewichtsreduktion angezeigt. Zudem fügte sie einen Arztbrief von Prof. Dr. med. J O, dem Leiter des
Zentrums für Adipositas und Metabolische Chirurgie der C vom 9. September 2014 bei. Dieser diagnostizierte bei der Klägerin
eine Adipositas Grad III. Das Körpergewicht der Klägerin betrage 113 kg bei einer Größe von 163 cm. Die Klägerin leide seit
dem frühen Erwachsenenalter an Adipositas per magna. Eine über mehrere Monate durchgeführte multimodale Therapie habe zu keinem
erfolgreichen Resultat geführt. Inzwischen hätten sich ein Diabetes und zahlreiche andere adipositasbedingte Erkrankungen
eingestellt. Das individuelle Operationsrisiko sei im Falle der Klägerin mit dem Risikoprofil üblicher Wahleingriffe vergleichbar.
Die Klägerin erfülle alle Kriterien und die Voraussetzungen für eine postoperative Verhaltensmodifikation. Die Voraussetzungen
für eine erfolgreiche Therapie seien damit gegeben. Eine Magenbypass-Operation zur dringenden Gewichtsreduktion sei angezeigt.
Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) legte am 20.
Oktober 2014 ein sozialmedizinisches Gutachten vor. Der MDK kam zu dem Ergebnis, dass in den letzten 2 Jahren vor der Durchführung
einer bariatrischen Operation ein multimodales Behandlungskonzept (Ernährungstherapie, Bewegungstherapie, ggfs. Verhaltenstherapie)
erfolglos durchgeführt worden sein müsse. Die Bewegungs- und Ernährungstherapie sollten ärztlich kontrolliert, zeitgleich
über einen Zeitraum von mindestens sechs bis zwölf Monaten erfolgen. Die konservativen Maßnahmen würden als erschöpft angesehen,
wenn diese Therapie zu einer Gewichtsreduktion von weniger als 10% geführt habe. Die Bewegungstherapie erfolge im Rahmen der
persönlichen Möglichkeiten und körperlichen Einschränkungen. Eine Ernährungstherapie über einen Zeitraum von sechs Monaten
sei durch einen Ernährungsmediziner und/oder eine anerkannte ernährungstherapeutische Berufsgruppe (z. B. Diätassistenten)
bzw. Betreuung durch eine qualifizierte Einrichtung nachzuweisen, mit Angaben zur Frequenz und stichwortartiger Beschreibung
der Art der Intervention. Im Falle der Klägerin sei der Nachweis einer derartigen Therapie ohne ausreichende und nachhaltige
Gewichtsreduktion nicht belegt. Aus sozialmedizinischer Sicht könne deshalb die beantragte Leistung nicht befürwortet werden.
Mit einer entsprechenden Begründung lehnte daraufhin die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 29. Oktober 2014
ab. Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin u. a. ein weiteres Schreiben des Adipositaszentrums der C vom 13. November
2014 vor. Prof. Dr. med. J. O teilte mit, dass er die Argumentation des MDK nicht nachvollziehen könne. Die Klägerin habe
jahrelang versucht, ihr Gewicht zu reduzieren. Diese Versuche seien trotz Begleitung und Unterstützung nicht erfolgreich gewesen.
Die multimodale Therapie sei von der Klägerin mehr als ausreichend erfüllt worden. Um die Klägerin aus ihrer Adipositaserkrankung
zu "befreien", sei eine Operation dringend indiziert. Nach Einholung eines weiteren sozialmedizinischen Gutachtens des MDK
vom 29. Januar 2015, der bei seiner ursprünglichen Auffassung verblieb, wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit
Widerspruchsbescheid vom 27. März 2015 als unbegründet zurück.
Am 22. April 2015 hat die Klägerin hiergegen Klage beim Sozialgericht Frankfurt (Oder) erhoben. Das Sozialgericht hat die
Klage mit Gerichtsbescheid vom 12. April 2016 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass vor Durchführung
einer Magenbypass-Operation zur Adipositasbehandlung zunächst die konservativen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden
müssten. Eine chirurgische Therapie könne grundsätzlich nur erwogen werden, wenn eine extreme Adipositas bestehe und die konservative
Therapie nicht zum Therapieziel geführt habe. So sei nach einem Sondervotum der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin
nur dann eine chirurgische Intervention indiziert, wenn die konservativen Behandlungsmöglichkeiten durch eine multimodale
konservative Therapie innerhalb von kumulativ sechs Monaten in den letzten zwei Jahren das Therapieziel nicht erreicht habe.
Bei der Klägerin sei in den letzten zwei Jahren vor dem Antrag bei der Beklagten keine derartige sechs bis zwölf monatige
multimodale Therapie zur Gewichtsreduktion durchgeführt worden. Einen Nachweis habe sie nicht bringen können. Die Klägerin
habe lediglich einzelne Therapieansätze wie verschiedene Diäten, Abnehm- und Fitness- bzw. Sportprogramme und entsprechende
Aktivitäten vorgetragen und nachgewiesen, bei denen jedoch gerade der multimodale, interdisziplinäre Ansatz einer Kombination
aus ernährungstherapeutischen, bewegungstherapeutischen, medikamentösen und psychotherapeutischen Elementen fehle. Aus diesen
einzelnen Ansätzen lasse sich aber nicht der Schluss ableiten, dass ein multimodaler Therapieversuch bei der Klägerin zwangsläufig
erfolglos bleiben müsse.
Gegen den ihr am 22. April 2016 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung der Klägerin vom 12. Mai 2016, mit
der sie ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft. Ergänzend trägt sie vor, dass ihr Antrag als genehmigt gelte. Die
Beklagte habe die entsprechenden Fristen versäumt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 12. April 2016 und den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober
2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. März 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Magenbypass-Operation
als Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Da Sozialgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen. Fristen seien nicht versäumt worden.
Der Senat hat die Beklagte mit Richterbrief vom 13. Februar 2017 auf die Versäumung der Frist des §
13 Abs.
3a Satz 1 und Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) hingewiesen. Die Beklagte hat daraufhin mit Schreiben vom 20. Februar 2017 zwei Schreiben vom 7. Oktober 2014 und vom 27.
Oktober 2014 vorgelegt. In diesen Schreiben wird die Klägerin über die Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme informiert.
Diese Schreiben befinden sich nicht in der dem Gericht vorgelegten Verwaltungsakte. Entsprechende Zustellnachweise konnte
die Beklagte nicht vorlegen.
Der Senat hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 13. Oktober 2016 dem Vorsitzenden, der auch Berichterstatter ist, als Einzelrichter
zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen (§
153 Abs.
5 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen
haben und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Beteiligten haben sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden
erklärt (§
124 Abs.
2 SGG).
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom
29. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. März 2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in
ihren Rechten.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf eine Magenbypass-Operation als Sachleistung. Anspruchsgrundlage ist §
13 Abs.
3a SGB V. Nach §
13 Abs.
3a Satz 1
SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, bis spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang
oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach
Antragseingang zu entscheiden. Hält die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich, hat sie diese unverzüglich
einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Nach §
13 Abs.
3a Satz 5
SGB V hat die Krankenkasse, sofern sie Fristen nach Satz 1 nicht einhalten kann, dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung
der Gründe rechtzeitig schriftlich mitzuteilen. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach
Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6). Aus dieser Genehmigungsfiktion folgt ein Sachleistungsanspruch des Versicherten auf
die beantragte Leistung (Urteil des BSG vom 8. März 2016 - B 1 KR 25/15 R - zitiert nach juris, RdNr. 25 und 28).
Im vorliegenden Fall gilt der Antrag der Klägerin als genehmigt. Die Frist begann am Folgetag nach der Antragstellung am 1.
Oktober 2014, also am Donnerstag, dem 2. Oktober 2014 (§
26 Abs.
1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X] in Verbindung mit §
187 Abs.
1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Die Frist endete am Mittwoch, dem 22. Oktober 2014 (§ 26 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit §
188 Abs.
2 BGB). Die Beklagte entschied erst nach Ablauf dieser Frist, mit Bescheid vom 29. Oktober 2014, über den Antrag der Klägerin.
Die Beklagte hat die Klägerin nicht über die Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des MDK unterrichtet. Es gilt somit
nicht eine Frist von fünf Wochen. Zwar hat die Beklagte im Gerichtsverfahren ein Schreiben vom 7. Oktober 2014 an die Klägerin
vorgelegt, mit dem diese über die Einholung einer ärztlichen Einschätzung unterrichtet wird. Die Klägerin hat jedoch bestritten,
ein solches Schreiben erhalten zu haben. Einen Zustellnachweis hat die Beklagte nicht vorgelegt.
Im sozialgerichtlichen Verfahren gelten die Grundsätze der objektiven Beweislast (Feststellungslast). Die Feststellungslast
regelt, wen die Folgen treffen, wenn das Gericht eine bestimmte Tatsache trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten
nicht feststellen kann. Es gilt der Grundsatz, dass jeder im Rahmen des anzuwendenden Rechts die Beweislast für die Tatsachen
trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Dies gilt für das Vorhandensein positiver wie für das Fehlen
negativer Tatsachen (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Auflage 2014, §
103 RdNr. 19a).
Im vorliegenden Fall beruft sich die Beklagte darauf, dass sie die Klägerin über die Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme
fristgemäß unterrichtet habe. Sie trägt damit die Feststellungslast für diesen Umstand. Einen Nachweis über die Zustellung
des Schreibens vom 7. Oktober 2014 konnte die Beklagte jedoch nicht führen. Diesen Nachweis bedarf es in diesem Falle aber
insbesondere auch deshalb, weil sich das Schreiben, auf das sie sich beruft, nicht in der dem Gericht ursprünglich vorgelegten
und durchgängig paginierten Verwaltungsakte befindet. Erst nachdem der Senat die Beklagte auf die Problematik hingewiesen
hat, hat sie ein entsprechendes Schreiben vorgelegt.
Da die Beklagte den Zugang dieses Schreibens demnach nicht nachweisen kann und damit nicht feststellbar ist, dass sie die
Klägerin über die Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme unterrichtet hat, gilt eine Frist von drei Wochen des §
13 Abs.
3a Satz 1
SGB V. Diese Frist hat die Beklagte damit nicht eingehalten. Der Antrag der Klägerin gilt als genehmigt (BSG, a. a. O., RdNr. 28).
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 oder 2
SGG liegen nicht vor.