Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II
Keine Erstattung der Kosten eines Vorverfahrens nach Eintritt der vierjährigen Verjährungsfrist
Gründe:
I
Umstritten ist die Übernahme von Vorverfahrenskosten.
Nach einem für die Klägerin im Jahr 2008 erfolgreich abgeschlossenen Vorverfahren zur Höhe der Leistungen für Juli 2008 verpflichtete
sich das beklagte Jobcenter, die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens einschließlich der Gebühren und Auslagen
ihres Bevollmächtigten zu erstatten (Bescheid vom 11.7.2008). Den Ende 2015 gestellten Antrag auf Festsetzung von Rechtsanwaltskosten
in Höhe von 166,60 Euro lehnte es ab, weil die Klägerin ihrem Rechtsanwalt gegenüber die Verjährungseinrede erheben könne
(Bescheid vom 15.1.2016; Widerspruchsbescheid vom 20.5.2016).
Das SG hat den Beklagten verpflichtet, die Klägerin von Rechtsanwaltskosten in der geltend gemachten Höhe freizustellen (Urteil
vom 24.4.2017). Auf die vom SG zugelassene Berufung hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 15.5.2018): Entsprechend §
45 Abs
1 SGB I könne sich der Beklagte jedenfalls erfolgreich auf die - im Berufungsverfahren von ihm erhobene - Verjährungseinrede berufen.
Im Übrigen lägen keine Aufwendungen iS des § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X vor und die Klägerin müsse sich darauf verweisen lassen, im Verhältnis zu ihrem Bevollmächtigten die Verjährungseinrede zu
erheben.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X. Mit Beauftragung ihres Bevollmächtigten sei sie einem wirksamen Gebührenanspruch ausgesetzt gewesen. Die Verjährungseinrede
nicht zu erheben, sei nicht rechtsmissbräuchlich. Freistellungsansprüche nach § 63 SGB X unterlägen nicht einer kurzen Verjährung von vier Jahren analog §
45 Abs
1 SGB I, sondern der dreißigjährigen Verjährung entsprechend §
197 Abs
1 Nr
3 BGB.
Nach Abschluss eines Teilvergleichs zur Höhe des Gebührenanspruchs beantragt die Klägerin,
das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 15. Mai 2018 - L 9 AS 778/17 - aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 24. April 2017 zurückzuweisen.
Der Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet (§
170 Abs
1 Satz 1
SGG). Zutreffend hat das LSG entschieden, dass ihr Freistellungsanspruch nach § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X der kurzen Verjährung entsprechend §
45 Abs
1 SGB I unterliegt und verjährt ist.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 15.1.2016 in Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 20.5.2016, durch den der Beklagte es sinngemäß abgelehnt hat, die Klägerin auf der Grundlage
des Kostengrundbescheids vom 11.7.2008 von Anwaltsgebühren in Höhe von 166,60 Euro freizustellen. Nicht Gegenstand des Verfahrens
ist dagegen die Kostengrundentscheidung des Beklagten vom 11.7.2008.
2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere war die Berufung
zulässig, nachdem das SG sie in seinem Urteil zugelassen hat (vgl §
144 SGG). Der Streit um die Kosten eines isolierten Vorverfahrens (§§
78 ff
SGG) betrifft auch keine Kosten des Verfahrens iS von §
144 Abs
4 iVm §
165 Satz 1
SGG, bei denen Berufung und Revision nicht statthaft sind (vgl BSG vom 9.3.2016 - B 14 AS 5/15 R - BSGE 121, 49 = SozR 4-1300 § 63 Nr 24, RdNr 11). Schließlich stellt es keinen Verfahrensfehler dar, dass das LSG kein Gutachten nach §
14 Abs 2 RVG eingeholt hat (vgl BSG vom 1.7.2009 - B 4 AS 21/09 R - BSGE 104, 30 = SozR 4-1935 § 14 Nr 2, RdNr 13). Zutreffende Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs
1 und 4
SGG), im Revisionsverfahren zulässig beschränkt auf den Erlass eines Grundurteils (§
130 Abs
1 Satz 1
SGG; vgl letztens BSG vom 8.5.2019 - B 14 AS 20/18 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4, RdNr 8) zur Frage, ob die Klägerin dem Grunde nach von den Kosten ihrer Vertretung im
Widerspruchsverfahren zur Höhe der Leistungen für Juli 2008 freizustellen ist.
3. Rechtsgrundlage des streitbefangenen Freistellungsanspruchs ist § 63 SGB X.
a) Nach § 63 SGB X hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat,
die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch
erfolgreich ist (Abs 1 Satz 1). Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren
sind erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten - wie hier durch den Kostengrundbescheid festgestellt - notwendig
war (Abs 2).
b) Ist die Gebührenforderung des Bevollmächtigten für das Widerspruchsverfahren - wie nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen
des LSG hier - noch nicht beglichen, zielt der Anspruch nach § 63 SGB X auf "Erstattung" der notwendigen Aufwendungen darauf, von der Gebührenforderung nach Maßgabe von § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X befreit zu werden (so bereits BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 60/13 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 22 RdNr 14; ebenso etwa LSG Rheinland-Pfalz vom 6.5.2015 - L 6 AS 288/13 - juris RdNr 25 ff; LSG Berlin-Brandenburg vom 13.10.2016 - L 31 AS 1774/16 - juris RdNr 31). Eine solche Freistellung kann ein Erstattungsberechtigter beanspruchen, soweit er im Innenverhältnis zum
Bevollmächtigten zum Ausgleich von dessen Gebührenforderung verpflichtet und die ihr zugrundeliegende Tätigkeit im Außenverhältnis
zum erstattungsverpflichteten Träger zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung als notwendig anzusehen
ist (zur Lage unter Privaten vgl letztens nur BGH vom 22.1.2019 - VI ZR 402/17 - NJW 2019, 1522 RdNr 11 mwN). Nicht erforderlich ist dagegen, dass die Forderung im Innenverhältnis schon in Rechnung gestellt worden ist
(BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 60/13 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 22 RdNr 17 f unter Verweis auf BGH vom 22.3.2011 - VI ZR 63/10 - NJW 2011, 2509 RdNr 9 und 18).
c) Danach ist der Beklagte zwar dem Grunde nach verpflichtet, die Klägerin von der streitbefangenen Gebührenforderung freizustellen;
zutreffend geht sie davon aus, dass ihr Bevollmächtigter mit der Beauftragung einen wirksamen Vergütungsanspruch erworben
hat und der Geltendmachung des Freistellungsanspruchs der Einwand rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nicht entgegensteht (vgl
dazu BSG vom 12.12.2019 - B 14 AS 46/18 R - RdNr 14 ff, 22 ff). Jedoch ist der Beklagte berechtigt, die Freistellung der Klägerin wegen Verjährung des Freistellungsanspruchs
zu verweigern (dazu 4. und 5.).
4. Der Anspruch auf Erstattung von Kosten im sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren unterliegt der vierjährigen Verjährung.
a) Das SGB regelt weder in § 63 SGB X noch an anderer Stelle ausdrücklich die Verjährung des Kostenerstattungsanspruchs aus § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X. Hierfür gelten jedoch die allgemeinen Grundsätze. Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in §
45 Abs
1 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften
über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient. Die Regelung ist aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen
geboten, um früher zu beobachtende jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen
(stRspr; vgl zB BSG vom 11.8.1976 - 10 RV 165/75 - BSGE 42, 135, 138 = SozR 3100 § 10 Nr 7 S 10; letztens etwa BSG vom 31.5.2016 - B 1 AS 1/16 KL - SozR 4-1200 § 45 Nr 9 RdNr 15 ff: Anspruch eines Bundeslandes auf Bundesbeteiligung an den Leistungen der Unterkunft
und Heizung nach dem SGB II).
b) Diese Grundsätze gelten trotz zwischenzeitlicher Modifizierung des Verjährungsrechts im
BGB unverändert fort (vgl letztens BSG vom 31.5.2016 - B 1 AS 1/16 KL - SozR 4-1200 § 45 Nr 9 RdNr 16). Der Gesetzgeber hat die zitierte ständige Rechtsprechung des BSG nicht zum Anlass genommen, die gesetzlichen Regelungen des SGB zu ändern. Er wollte eine Änderung der verjährungsrechtlichen
Rechtslage im Sozialrecht gerade nicht herbeiführen (vgl auch BSG vom 28.11.2013 - B 3 KR 27/12 R - BSGE 115, 40 = SozR 4-2500 § 302 Nr 1, RdNr 44; entsprechend generell für das öffentliche Recht BVerwG vom 11.12.2008 - 3 C 37.07 - BVerwGE 132, 324 RdNr 11 f). Die Entscheidung, ob das neue Regelungssystem der bürgerlich-rechtlichen Verjährung auf spezialgesetzlich geregelte
Materien übertragen werden kann und welche Sonderregelungen ggf getroffen werden müssten, sollte weiteren Gesetzgebungsvorhaben
vorbehalten bleiben (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts,
BT-Drucks 14/6857 S 42 zu Nr 1). Hierzu wurde in der Folge das Gesetz zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz
zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9.12.2004 (BGBl I 3214) erlassen. Auch dort entschied sich der Gesetzgeber bewusst
gegen eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Rechts, da im öffentlichen Recht grundsätzlich eigenständige Verjährungsregelungen
gelten und auf die zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen nur hilfsweise entsprechend zurückgegriffen werden könne (vgl
BT-Drucks 15/3653 S 10).
c) Hiernach unterliegt der Anspruch auf Erstattung von Kosten nach § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X ebenfalls der kurzen sozialrechtlichen Verjährung entsprechend §
45 Abs
1 SGB I (ebenso Becker in Hauck/Noftz, SGB X, § 63 RdNr 114, Stand der Einzelkommentierung 5/2017; Diering in LPK-SGB X, 5. Aufl 2019, § 63 RdNr 58; Mutschler in Kasseler Komm, SGB X, § 63 RdNr 34, Stand der Einzelkommentierung 9/2019). Der Kostenerstattungsanspruch ist schon kraft seiner Einordnung in das SGB X und wegen der systematischen Bezüge zum Vorverfahrenserfordernis nach §
78 SGG dem öffentlichen Recht zugeordnet. Weiter spricht in systematischer Hinsicht für eine entsprechende Anwendung, dass der Kostenerstattungsanspruch
in der Regel Annex zu einem Sozialleistungsanspruch ist, für den §
45 SGB I gilt (vgl Becker und Diering ebenda).
d) Keine entsprechende Anwendung auf die Verjährung von Kostenerstattungsansprüchen nach § 63 SGB X findet dagegen §
197 Abs
1 Nr
3 BGB, wonach rechtskräftig festgestellte Ansprüche in 30 Jahren verjähren, soweit nichts anderes bestimmt ist; darin ist der Revision
nicht zu folgen. Zwar kann die iS von §
197 Abs
1 Nr
3 BGB rechtskräftige Feststellung eines Anspruchs nach der Rechtsprechung des BGH auch durch eine Stelle erfolgen, die einem staatlichen
Gericht vergleichbar ist (BGH vom 12.4.2013 - V ZR 203/11 - NJW-RR 2013, 1236 RdNr 19). Jedoch sind darin Verwaltungsbehörden seit der Neuordnung des Verjährungsrechts ausdrücklich nicht mehr einbezogen
(BGH ebenda, RdNr 22 unter Verweis auf die ersatzlose Streichung der Verweisungsnorm des § 220
BGB aF auf die in §
197 Abs
1 Nr
3 BGB aufgegangene Vorschrift des §
218 BGB sowie BT-Drucks 14/6040 S 116 zu Nr
11). Soweit der BGH §
197 Abs
1 Nr
3 BGB entsprechend anwendet auf Ansprüche nach dem VermG (ebenda RdNr 23), ist dies bedingt durch die dort geltenden Besonderheiten und demgemäß nicht übertragbar auf die Verjährung
von Kostenerstattungsansprüchen, die dem Grunde nach durch Entscheidung der Widerspruchsbehörde im Geltungsbereich des § 63 SGB X anerkannt sind. Insoweit gelten vielmehr - entsprechend der Zielsetzung des Gesetzgebers bei der Neuordnung des Verjährungsrechts
im Rahmen des
BGB (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 14/6857
S 42 zu Nr 1) - vorrangig die Verjährungsregelungen des öffentlichen Rechts und damit hier die kurze vierjährige sozialrechtliche
Verjährung entsprechend §
45 Abs
1 SGB I.
5. Die Verjährungsfrist war zum Zeitpunkt der Geltendmachung des Kostenerstattungsanspruchs im Dezember 2015 bereits abgelaufen,
und der Beklagte hat die Verjährungseinrede erhoben. Die allgemeine sozialrechtliche Verjährungsfrist beginnt mit Ablauf des
Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist, bei der Kostengrundentscheidung vom 11.7.2008 und der dadurch nach § 8 Abs 1 RVG ausgelösten Fälligkeit der streitbefangenen Vergütung hier also mit Ablauf des Jahres 2008. Danach begann die vierjährige
Verjährungsfrist entsprechend §
45 Abs
1 SGB I am 1.1.2009 und endete am 31.12.2012 [nicht: 2011, wie beim LSG angeführt].
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG und berücksichtigt, dass die Verjährungseinrede des Beklagten erst im Berufungsverfahren erhoben worden ist.