Nichteinhaltung der Revisionsfrist durch eine Kassenärztliche Vereinigung, Anforderungen an die Sorgfaltspflicht
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit sachlich-rechnerischer Richtigstellungen.
Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) belastete das Honorarkonto des Klägers, eines Orthopäden, mit einem Betrag
von ca 46.500 EUR, weil ihm für seine Anästhesien die Vergütung nach Nr 443 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche
Leistungen (EBM-Ä) nicht zugestanden habe. Es fehle an einer fachspezifischen Dokumentation entsprechend den Vorschriften
der Präambel zu Kapitel D des EBM-Ä.
Der Kläger hat - nach erfolglosem Widerspruch - mit seiner Klage beim Sozialgericht Erfolg gehabt. Das Landessozialgericht
(LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Im Urteil des LSG ist ausgeführt, dass die sachlich-rechnerischen Richtigstellungen
an sich inhaltlich rechtmäßig seien und ihnen auch kein Vertrauensschutz im Sinne des Urteils BSGE 89, 90 (98 ff) (= SozR 3-2500 § 82 Nr 3 S 11 ff) entgegenstehe, dass aber die 4-Jahres-Frist nicht eingehalten worden sei. Zur Unterbrechung
bzw Hemmung reiche nicht aus, dass ein Prüfbescheid im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung ergangen sei, durch den erst
der Weg der sachlich-rechnerischen Richtigstellung gewiesen worden sei.
Gegen das ihr am 7. Oktober 2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision am 8. November 2005
mit Fax-Schriftsatz eingelegt. Mit ihrem Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte einmonatige Frist zur Einlegung der
Revision hat sie geltend gemacht, ihre Justiziarin habe die Revisionsschriften für das vorliegende Verfahren sowie für das
Parallelverfahren B 6 KA 40/05 R beide am 7. November 2005 verfasst und beide in eine Unterschriftenmappe gelegt, und zwar die Unterlagen für das Parallelverfahren
in die Fächer 1-4 sowie diejenigen für das hier anhängige Verfahren in die Fächer 5-8. Die mit dem Faxen beauftragte - bisher
stets äußerst sorgfältig und gewissenhaft arbeitende - Bürovorsteherin der Rechtsabteilung, mit der besprochen worden sei,
dass noch am selben Tag gefaxt werden solle, habe jedoch versehentlich nicht erkannt, dass die Unterschriftenmappe zwei Revisionsschriften
enthalten habe, und nur die Revisionsschrift aus dem ersten Fach entnommen und an das Bundessozialgericht (BSG) gefaxt. Dies
sei erst am nächsten Morgen aufgefallen.
II. Die Revision ist gemäß §
169 Satz 2 und
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) - ohne mündliche Verhandlung und ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter - als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht fristgemäß
eingelegt worden ist.
Gemäß §
164 Abs
1 SGG ist die Revision innerhalb eines Monats nach Zustellung des Berufungsurteils einzulegen. Die Beklagte hat die Revision erst
am 8. November 2005 - per Fax - eingelegt. Damit hat sie die einmonatige Frist nicht gewahrt, die - beginnend mit der Zustellung
des Urteils am 7. Oktober 2005 - am Montag, dem 7. November 2005, abgelaufen ist.
Der Beklagten kann nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§
67 Abs
1 SGG) gewährt werden, weil sie nicht ohne Verschulden gehindert gewesen ist, die Frist zur Einlegung der Revision einzuhalten.
Es liegt ein Verschulden der beklagten KÄV vor.
Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht sind für Behörden und andere öffentlich-rechtliche Institutionen die gleichen wie
für Rechtsanwälte; sie sind weder strenger noch geringer (stRspr, vgl zB BSGE 61, 213, 215 ff = SozR 1500 § 67 Nr 18 S 43 ff; BSG, Beschluss vom 26. November 1996 - 6 RKa 61/96, juris; BFH, BFH/NV 2003, 1440; BVerwG, FEVS 54 [2003], 390; NJW 2005, 1001 f). Ein Verschulden des Justiziars bzw der Justiziarin selbst - sowie der weiteren von ihr beschäftigten, zur Rechtsvertretung
im Prozess bevollmächtigten Personen (s dazu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005, § 166 RdNr 4a mwN) - ist der KÄV stets zuzurechnen. Ein Verschulden der - von dem Justiziar oder anderen postulationsfähigen Bediensteten
herangezogenen - weiteren Bediensteten ist der Institution indessen dann nicht zuzurechnen, wenn deren Fehlverhalten Aufgaben
betrifft, die auf sie delegiert werden durften und wenn sie sorgfältig ausgewählt, angeleitet und überwacht wurden (vgl §
831 Abs
1 Satz 2
Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Delegierbar sind aber nur Routineangelegenheiten. Nicht delegierbar ist insbesondere die Organisation des Gesamtbetriebs
der Rechtsabteilung; hierbei gibt es keine Möglichkeit der Exculpation im Sinne des §
831 Abs
1 Satz 2
BGB (nicht delegierbar sogar schon die Berechnung von Revisionsbegründungsfristen, s BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 16 S 43 f).
Unverzichtbares Organisationserfordernis sind ausreichende Einrichtungen zur Vermeidung von Fehlern bei der Behandlung von
Fristsachen (stRspr, vgl zB BGH, NJW 1991, 1178; BFH, BFH/NV 2003, 1440; BVerwG FEVS 54 [2003], 390; BSG, Beschluss vom 19. Mai 2005 - B 10 EG 3/05 B, juris). Dies bedeutet, dass jeder Rechtsanwalt sowie jede Behörde bzw öffentlich-rechtliche Institution eine Ausgangskontrolle
für fristwahrende Schriftsätze eingerichtet haben muss (BSGE 61, 213, 213 f = SozR 1500 § 67 Nr 18 S 44; BSG, Beschluss vom 19. Mai 2005 - B 10 EG 3/05 B, juris; BVerwG, FEVS 54 [2003], 390; BFH, BFH/NV 2000, 1117 f; BGH, NJW 1996, 2096, 2097; OVG Saarland, NVwZ-RR 2005, 448). Dies kann zB derart organisiert sein, dass ein Fristenbuch geführt wird, in dem für jeden fristwahrenden Schriftsatz die
maßgebliche Frist eingetragen und erst nach Absendung durchgestrichen wird, sowie dass am Schluss jeden Arbeitstages eine
Überprüfung der erforderlichen Erledigungen stattfindet (vgl dazu BSGE 61, 213, 216 = SozR 1500 § 67 Nr 18 S 44; BSG, Beschluss vom 19. Mai 2005 - B 10 EG 3/05 B, juris; OVG Saarland, NVwZ-RR 2005, 448; s auch BGH, NJW 1996, 1178 f).
Diesen Anforderungen entsprach die Organisation in der Rechtsabteilung der Beklagten nicht. Sie hat geschildert, dass ihre
Justiziarin die beiden Revisionsschriften - für das Parallel- und für das vorliegende Verfahren - in eine Unterschriftenmappe
gelegt, jedoch die mit dem Faxen beauftragte Bürovorsteherin versehentlich nicht das Vorliegen von zwei Revisionsschriften
erkannt und so nur eine an das BSG gefaxt habe, was erst am nächsten Morgen aufgefallen sei. Von einem Fristenbuch oä, anhand
dessen eine Überprüfung der erforderlichen Erledigungen stattfinde und in dem nach dem Abgang der Post bzw des Fax die entsprechende
Frist durchzustreichen gewesen sei, ist in der Schilderung der Beklagten keine Rede. Dementsprechend kann nicht angenommen
werden, dass es eine Postausgangskontrolle gegeben hat.
Ein solcher schwer wiegender Organisationsmangel, der das Verschulden an der Fristversäumnis begründet, könnte allenfalls
dann als unschädlich - nämlich als nicht kausal - angesehen werden, wenn im konkreten Fall eine klare Einzelanweisung an einen
Mitarbeiter erfolgte, der bisher stets zuverlässig war, der auch sorgfältig ausgewählt, angeleitet und überwacht wurde, und
der zudem ausdrücklich auf den bevorstehenden Fristablauf hingewiesen worden war (vgl zu solchem Ausnahmefall OVG Saarland,
NVwZ-RR 2005, 448, 449; s auch BFHE 205, 9, 12 und 13 = BStBl II 2004, 564, 565 und 566). Ein derartiger Ausnahmefall liegt jedoch nicht vor. Es gab keine ausreichend klare Einzelanweisung mit ausdrücklichem
Hinweis auf den bevorstehenden Fristablauf. Aus den Angaben der Beklagten ergibt sich weder, dass die Justiziarin die Bürovorsteherin
auf das Vorliegen von zwei Revisionsschriften hingewiesen, noch, dass sie sie auf den Fristablauf hingewiesen hätte (vielmehr
hätten sie lediglich "besprochen, dass noch am selben Tag gefaxt werden soll"e).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
197a Abs
1 Satz 1 Halbsatz 3
SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§
154 ff
Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO). Danach trägt die Beklagte die Kosten des von ihr geführten erfolglosen Rechtsmittels (§
154 Abs
2 VwGO). Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §
197a Abs
1 Satz 1 Halbsatz 1
SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1, §§ 47, 40 Gerichtskostengesetz.