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BVerwG, Urteil vom 04.03.1993 - 5 C 13.89, FEVS 44, 221
»Der Begriff des »wichtigen Grundes« in § 18 Abs. 3 Satz 1 BSHG ist aus dem Regelungszusammenhang des Gesetzes und der Zielsetzung der Vorschrift heraus auszulegen, insbesondere also aus dem Grundsatz der Pflicht zur Beschaffung des Lebensunterhalts durch Arbeit (§ 18 Abs. 1 BSHG) und dem Gewicht der ausdrücklich in Absatz 3 genannten Ausnahmen von diesem Grundsatz.«
Fundstellen: BVerwGE 92, 163, DVBl 1993, 796, FEVS 44, 221, FamRZ 1993, 1313, MDR 1993, 919, NJW 1993, 3154
Normenkette:
BSHG § 1 Abs. 2, § 2 Abs. 1, § 18 Abs. 1, § 18 Abs. 3, § 25 Abs. 1, § 26
I. Der Kläger begehrt von der Beklagten laufende Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz für die Zeit vom 17. Januar bis 31. Juli 1985.
Der im Jahre 1964 geborene Kläger lebte bis Mai 1983 bei seinen Eltern in Berlin. Nach dem Abschluß der Realschule mit dem Zeugnis der mittleren Reife begann er eine Lehre als Ladenfleischer, die er im Januar 1984 vorzeitig mit gutem Erfolg beendete. Im Anschluß daran arbeitete er in dem erlernten Beruf bei seiner Lehrfirma. Da er eine fachbezogene Weiterbildung durch den Besuch der 12. Klasse der Fachoberschule in der Fachrichtung Ernährung und Hauswirtschaft anstrebte, um die Fachhochschulreife zu erlangen und anschließend Ökotrophologie an einer Fachhochschule zu studieren, bewarb er sich Anfang März 1984 um einen entsprechenden Schulplatz in Hamburg, nachdem nach seinen Erkundigungen in Berlin eine Fachoberschulklasse in der gewünschten Fachrichtung noch nicht vorhanden war. Dieser Schulplatz wurde ihm zum 1. August 1984 zugesagt. Daraufhin kündigte der Kläger sein Arbeitsverhältnis in Berlin zum Ende Juli 1984 und absolvierte in Hamburg von August 1984 bis Ende Juli 1985 die 12. Klasse der Fachoberschule, die in der gewünschten Fachrichtung nur in der Tagesschulform angeboten wurde.
Einen Antrag des Klägers auf Bewilligung von Ausbildungsförderung für diesen Schulbesuch hatte das zuständige Bezirksamt von Berlin im April 1984 unter Hinweis auf § 68 Abs. 2 Nr. 1 BAföG mit der Begründung abgelehnt, von der Wohnung der Eltern des Klägers in Berlin aus sei eine entsprechende zumutbare Ausbildungsstätte erreichbar, weil zum September 1984 eine vergleichbare Fachoberschulklasse auch in Berlin eingerichtet werde, die der Kläger besuchen könnte. Der Bescheid wurde nach erfolgloser Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bestandskräftig. Einen Antrag des Klägers auf Arbeitslosenunterstützung hatte das Arbeitsamt im September 1984 ebenfalls abgelehnt.
Nachdem der Kläger seine Ersparnisse Ende September 1984 aufgebraucht hatte, stellte er mündlich einen Antrag auf Sozialhilfe, der jedoch im Oktober 1984 bestandskräftig abgelehnt wurde. Von Oktober 1984 bis Juli 1985 erhielt der Kläger von seinem Vermieter in Hamburg ein Darlehen von monatlich 400 DM.
Mit Schreiben vom 11. Januar 1985, bei der Beklagten eingegangen am 17. Januar 1985, beantragte der Kläger erneut Sozialhilfe und führte hierzu aus, zu seinen Eltern nach Berlin könne er aus persönlichen Gründen nicht zurückkehren. Eine Arbeitsaufnahme neben dem Besuch der Fachoberschule sei ihm nicht möglich und zumutbar, da der Unterricht acht Stunden in Anspruch nehme und anschließend vor- bzw. nachbereitet werden müsse.
Mit Bescheid vom 5. Februar 1985 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, der Kläger sei nicht bereit, unter Aufgabe seines Schulbesuchs zumutbare Arbeit zur Abwendung der Hilfebedürftigkeit zu leisten, und habe damit seinen Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt verwirkt. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte zurück.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage, die auf die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe des Regelsatzes für die Zeit vom 17. Januar bis 31. Juli 1985 gerichtet war, stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage mit folgender Begründung abgewiesen:
Zutreffend habe das Verwaltungsgericht entschieden, daß § 26 Satz 1 BSHG dem Hilfebegehren des Klägers nicht entgegenstehe. Der Kläger könne jedoch deswegen keine Hilfe zum Lebensunterhalt beanspruchen, weil er sich durch Einsatz seiner Arbeitskraft selbst hätte helfen können. Ein wichtiger Grund gemäß § 18 Abs. 3 Satz 1 BSHG habe dem nicht entgegengestanden. Ursache für die Aufgabe des Arbeitsverhältnisses bei seiner Lehrfirma sei allein sein Wunsch gewesen, an der Fachoberschule die schulischen Voraussetzungen für eine höherwertige Berufsausbildung zu erlangen. Er sei von vornherein auf eine finanzielle Unterstützung für den Fachoberschulbesuch angewiesen gewesen, weil er von seinen Eltern keine Leistungen erhalten und selbst Rücklagen nicht gebildet habe. Aus dem schon geraume Zeit vor dem vorgesehenen Schulbeginn ergangenen Bescheid vom April 1984 und dem dazu ergangenen Widerspruchsbescheid sei für den Kläger erkennbar gewesen, daß eine Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz ausscheide. Darüber hinaus handele es sich um eine nur einjährige Ausbildung, für die der Zugang auch nicht mit besonderen Schwierigkeiten verbunden gewesen sei. Dem Kläger habe daher sozialhilferechtlich angesonnen werden können, seinen Wunsch zum Besuch der Fachoberschule zunächst zurückzustellen und vorerst weiterhin berufstätig zu sein, um Sparrücklagen zu bilden und hieraus die geplante Ausbildung zu finanzieren. Die mit einem solchen Aufschub verbundene zeitliche Verzögerung der Aufnahme des Schulbesuches sei für den damals gerade 20 Jahre alten Kläger hinnehmbar gewesen. Dies entspreche dem Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe. Etwas anderes gelte auch nicht deshalb, weil der Kläger Sozialhilfeleistungen zu einem Zeitpunkt begehrt habe, in dem der Besuch der Fachoberschule weit fortgeschritten gewesen sei. Der Kläger sei von Beginn des Fachoberschulbesuchs an auf finanzielle Unterstützung angewiesen gewesen und nicht erst im Laufe der Ausbildung infolge unvorhersehbarer Umstände hilfebedürftig geworden, die ihm möglicherweise die Aufgabe der Ausbildung wegen der mit einer späteren Wiederaufnahme verbundenen Nachteile unzumutbar gemacht hätten.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers. Er rügt eine Verletzung des § 2 Abs. 1, § 18 Abs. 1 und 3, § 25 Abs. 1 BHG sowie der gerichtlichen Aufklärungspflicht und - sinngemäß - des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
II. Die zulässige Revision ist unbegründet. Die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung, daß der Kläger für die Zeit vom 17. Januar bis zum 31. Juli 1985 keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz hat, steht mit Bundesrecht in Einklang.
In Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Urteil vom 11. Dezember 1986 - BVerwG 5 C 71.85 - [Buchholz 436.36 § 68 BAföG Nr. 5]) und der jetzt ausdrücklich in § 65 Abs. 3 Nr. 1 BAföG in der seit dem 12. BAföGÄndG vom 22. Mai 1990 (BGBl. I S. 936) geltenden Fassung getroffenen gesetzlichen Regelung ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß § 26 Satz 1 BSHG dem geltend gemachten Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nicht entgegensteht. Das Berufungsgericht hat auch mit Recht entschieden, daß der Kläger gleichwohl keine Hilfe zum Lebensunterhalt für die maßgebliche Zeit beanspruchen kann, weil er sich durch Einsatz seiner Arbeitskraft selbst hätte helfen können (§ 2 Abs. 1, § 18 Abs. 1, § 25 Abs. 1 BSHG). Auf einen »sonstigen wichtigen Grund«, der es ihm gemäß § 18 Abs. 3 Satz 1 BSHG unzumutbar gemacht hätte, seine Arbeitskraft zur Beschaffung seines Lebensunterhalts sich einzusetzen, kann sich der Kläger nicht berufen.
Der Begriff des »wichtigen Grundes« in § 18 Abs. 3 Satz 1 BSHG ist aus dem Regelungszusammenhang des Gesetzes und der Zielsetzung der Vorschrift heraus auszulegen, insbesondere also aus dem Grundsatz der Pflicht zur Beschaffung des Lebensunterhalts durch Arbeit (§ 18 Abs. 1 BSHG) und dem Gewicht der ausdrücklich in Absatz 3 genannten Ausnahmen von diesem Grundsatz. Der Entstehungsgeschichte der Regelung, die sich ursprünglich eng an das Arbeitslosenversicherungsrecht anlehnte, kommt demgegenüber ebensowenig maßgebliche Bedeutung zu wie ihrer Auslegung in einzelnen Verwaltungsvorschriften.
Der den Nachrang der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 BSHG) konkretisierende Grundsatz des § 18 Abs. 1 BSHG wird durch den Wunsch des Klägers nach einer sinnvollen fachbezogenen Fortbildung nicht außer Kraft gesetzt. Denn die Ausbildungsforderung, auf die das Begehren des Klägers der Sache nach gerichtet ist, ist auch in dem Bereich, den § 26 BSHG offenhält, nicht mehr eigentlich Aufgabe der Sozialhilfe, seitdem der Unterabschnitt 3 - Ausbildungshilfe - durch Art. 21 Nr. 10 des Zweiten Haushaltsstrukturgesetzes vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1523) aufgehoben worden ist. Vielmehr ist die Sozialhilfebedürftigkeit allein nach sozialhilferechtlichen Kriterien zu beurteilen: Nur wenn anderenfalls der Auszubildende nicht im Sinne von § 1 Abs. 2 BSHG in der Lage wäre, unter zumutbarem Einsatz seiner Kräfte unabhängig von Sozialhilfe ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht, kann die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt während der Ausbildung in Betracht kommen. Das war beim Kläger, der bereits eine abgeschlossene Berufsausbildung als Ladenfleischer hatte, in seinem erlernten Beruf arbeiten und davon menschenwürdig leben konnte, nicht der Fall.
Der Wunsch des Klägers, an der Fachoberschule die schulischen Voraussetzungen für eine höherwertige Berufsausbildung zu erlangen, hat auch nicht das gleiche Gewicht wie die ausdrücklich in § 18 Abs. 3 BSHG anerkannten Ausnahmetatbestände, bei denen persönliches Unvermögen des Hilfesuchenden, der Bestandsschutz seines Berufs oder eine familienbedingte Pflichtenkollision eine Arbeit als unzumutbar erscheinen lassen. Dies gilt selbst bei einbeziehender Würdigung des in Art. 12 GG gewährleisteten Grundrechts auf freie Berufswahl. Denn der Kläger hätte nach den für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils seinen Wunsch zum Besuch der Fachoberschule nicht endgültig aufgeben, sondern nur zurückstellen müssen, um zunächst durch weitere Berufstätigkeit zusätzliche Sparrücklagen zu bilden und sodann mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung z.B. im folgenden Jahr die geplante Ausbildung hieraus zu finanzieren.
Die vom Kläger in diesem Zusammenhang sinngemäß erhobene Rüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor dem Berufungsgericht greift nicht durch. Auf den Gesichtspunkt, daß der Kläger den Schulbesuch erst nach Ansparen einer größeren Summe aufgrund längerer Berufstätigkeit hätte aufnehmen können, hatte nämlich bereits der Widerspruchsbescheid hingewiesen, so daß der Kläger dadurch nicht überrascht worden sein kann. Die Rüge, das Berufungsgericht habe gleichzeitig seine Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts verletzt, genügt schon nicht den Darlegungserfordernissen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO. Denn die allgemein gehaltenen Ausführungen der Revision lassen nicht erkennen, zu welchem Ergebnis die von ihr für erforderlich gehaltene weitere Sachaufklärung durch Vernehmung des Klägers im einzelnen hätte führen sollen (vgl. BVerwGE 31, 212 [217 f.]).
Daß der Kläger Sozialhilfe erst von einem Zeitpunkt an begehrt, in dem der Besuch der Fachoberschule bereits weit fortgeschritten war, hat das Berufungsgericht nicht zum Anlaß einer anderen Beurteilung der Zumutbarkeit genommen, weil für den Kläger der Eintritt seiner Hilfebedürftigkeit - wie bindend festgestellt - von vornherein vorhersehbar war. Auch dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. War ihm ein Aufschub seiner weiteren Ausbildung sozialhilferechtlich zuzumuten, so kann ihm nicht zugutekommen, daß er sich anders entschieden und die möglichen Nachteile eines bei Versagung der Hilfe notwendig werdenden Abbruchs dieser Ausbildung damit in Kauf genommen hat.