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BVerwG, Urteil vom 04.06.1992 - 5 C 22.87, FEVS 43, 113
»Der Sozialhilfeanspruch eines Ausländers [hier: Asylbewerbers] ist nach § 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BSHG dann ausgeschlossen, wenn der Zweck, Sozialhilfe zu erlangen, seinen Einreiseentschluß geprägt hat (Modifizierung von BVerwGE 59, 73).«
Fundstellen: BVerwGE 90, 212, DRsp V(545)122c, FEVS 43, 113, MDR 1993, 588, NJW 1993, 1811 (Ls), ZAR 1993, 41
Normenkette:
BSHG § 120 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1
c. »Der Senat hat bereits entschieden (BVerwGE 71, 139 = DRsp V (545) 91 d-e), daß § 120 Abs. 2 BSHG in der Fassung des 2. Haushaltsstrukturgesetzes kein Sondergesetz ist, mit dem die Gewährung von Sozialhilfe an Ausländer, die um Asyl nachsuchen, eigenständig und abschließend geregelt worden ist, sondern lediglich Abweichungen von dem in § 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG geregelten Umfang der Sozialhilfeleistungen für Ausländer enthält. Hieran hat die Neufassung des § 120 Abs. 2 Satz 1 BSHG durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 nichts geändert. ...
§ 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BSHG [greift jedoch] im vorl. Fall deshalb nicht ein, weil der Kl. nicht im Sinne dieser Bestimmung in den Geltungsbereich des Bundessozialhilfegesetzes eingereist ist, »um Sozialhilfe zu erlangen«. Diese Vorschrift verlangt einen finalen Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluß und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe. ... Dieser erforderliche Zusammenhang besteht nicht nur, wenn der Wille, Sozialhilfe zu erlangen, der einzige Einreisegrund ist. Beruht die Einreise des Ausländers auf verschiedenen Motiven, ist das Erfordernis des finalen Zusammenhangs auch erfüllt, wenn der Zweck der Inanspruchnahme von Sozialhilfe für den Einreiseentschluß von prägender Bedeutung ist. Das BerGer. ist ... deshalb zutreffend davon ausgegangen, daß die Möglichkeit, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, für den Einreiseentschluß des Ausländers, sei es allein, sei es neben anderen Gründen, in besonderer Weise bedeutsam gewesen sein muß. Es genügt nicht etwa, daß der Sozialhilfebezug beiläufig verfolgt oder anderen Einreisezwecken untergeordnet und in diesem Sinne (nur) billigend in Kauf genommen wird. Soweit den Formulierungen in früheren Entscheidungen des erk. Senats (BVerwGE 59, 73 , 77; BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1981 - BVerwG 5 C 16.80 - , Buchholz 436.0 § 120 BSHG Nr. 3) Abweichendes entnommen werden kann, wird daran nicht festgehalten. ...
Die Sozialhilfe für Ausländer ist nach dem Bundessozialhilfegesetz für Notfälle nur derjenigen vorgesehen, die sich im Geltungsbereich des Gesetzes tatsächlich aufhalten. Dieser Hilfezweck erfaßt nicht mittellose Ausländer, die ihren tatsächlichen Aufenthalt im Inland begründen, um auf diese Weise die Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe herbeizuführen. Der Mißbrauchsgedanke, der in der Gesetzesbegründung herausgestellt wird, macht deutlich, daß derjenige vom Rechtsanspruch auf Sozialhilfe ausgeschlossen bleiben soll, dem es bei der Einreise gerade auf diesen Leistungserfolg ankommt.
Am Maßstab des erforderlichen finalen Zusammenhangs zwischen Einreise und Sozialhilfebezug ist auch zu prüfen, ob ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, vom Ausschlußtatbestand des § 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BSHG erfaßt wird. Auch er ist vom Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen, wenn der Zweck, Sozialhilfe zu erlangen, für seinen Einreiseentschluß prägend gewesen ist. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn sein Asylbegehren nicht ernstgemeint, sondern vorgeschoben ist, um Sozialhilfe zu erlangen. Ein Ausländer, der aus Furcht vor politischer Verfolgung und in Kenntnis seiner begrenzten finanziellen Mittel einreist, ist hingegen nicht schon deshalb nach § 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BSHG vom Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen, weil er mit dem Bezug von Sozialhilfe rechnet oder seine etwaige Abhängigkeit von Sozialhilfe in der Bundesrepublik als notgedrungene Konsequenz seiner Flucht in Kauf nimmt.
Das folgt nicht allein aus Wortlaut und Zweck des Ausschlußtatbestandes, sondern auch aus gesetzessystematischen Erwägungen. Hilfebedürftigkeit und die Suche nacb einer auch materiell erträglichen Zuflucht sind geradezu typisch für die Situation eines politisch Verfolgten, der in der Bundesrepublik Deutschland Asyl sucht (vgl. a. BVerwGE 62, 206). Vor diesem Hintergrund normiert § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BSHG, der den Rechtsanspruch eines asylsuchenden Ausländers auf Hilfe zum Lebensunterhalt in § 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BSHG bestätigt, den Regelfall. Es würde die darin liegende Grundentscheidung des Gesetzgebers in ihr Gegenteil kehren und der Bedeutung des Grundrechts auf Asyl (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG) nicht gerecht werden, den Ausschlußtatbestand des § 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BSHG allein deshalb auf (wirklich) asylsuchende Ausländer zu erstrecken, weil sie auf der Flucht vor Gefahren für Leib und Leben oder vor Beschränkungen ihrer persönlichen Freiheit in Erwartung menschenwürdiger Lebensbedingungen und eines gesicherten Lebensunterhalts nach Deutschland einreisen, und ihnen Hilfe zum Lebensunterhalt lediglich als Ermessensleistung nach § 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG zu gewähren.
Gegen die Befugnis des Sozialhilfeträgers, die Ernsthaftigkeit der Einreisemotive eines Ausländers zu überprüfen, bestehen aus der Sicht des Ausländer- und Asylrechts ... jedenfalls dann keine durchgreifenden Bedenken, wenn der Asylantrag des Ausländers - wie [im Streitfall] - rechtskräftig abgelehnt worden ist. Der Sozialhilfeträger hat die Feststellung, daß der Zweck, Sozialhilfe zu erlangen, den Einreiseentschluß geprägt hat, nach vollständiger Erforschung aller Umstände des Einzelfalls, ggf. nach Einsicht in die Ausländer- und Asylakten, zu treffen. Abstrakte Anforderungen an diese Feststellung zu bestimmen, ist nicht möglich; die Umstände des Einzelfalls entscheiden. Beizupflichten ist der ... Ansicht, daß aus der Ablehnung des Asylantrages nicht ohne weiteres auf die Absicht des Ausländers geschlossen werden darf, er sei eingereist, um Sozialhilfe zu erlangen (vgl. OVG Berlin, NVwZ 1983, 430; Hess.VGH, ESVGH 34, 171).«