Sozialhilferecht: Umfang der Pflegebedürftigkeit als Voraussetzung für Höchstpflegegeld nach der DVO zum BSHG
Gründe:
I.
Der 1959 geborene Kläger ist von Geburt an hirngeschädigt und pflegebedürftig. Er wird von seinen Eltern in der elterlichen
Wohnung betreut. Die Stadt St. I. gewährte ihm seit 1984 Höchstpflegegeld. 1988 ging die Zuständigkeit für den Kläger auf
den beklagten Landkreis über, der dem Kläger zunächst Höchstpflegegeld weiterbewilligte, das nach Kürzung wegen teilstationärer
Betreuung in einer Tagesstätte für Schwerstbehinderte 669 DM monatlich betrug. Aufgrund einer Überprüfung kam der Beklagte
zu dem Ergebnis, daß der Zustand des Klägers zwar außergewöhnliche Pflege erfordere, die Voraussetzungen für die Gewährung
von Höchstpflegegeld aber nicht erfülle, und bewilligte dem Kläger ab September 1988 ein (gekürztes) Pflegegeld in Höhe von
360 DM monatlich.
Die vom Kläger erhobene Klage, gerichtet auf die Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung des (wegen teilstationärer Betreuung
gekürzten) Höchstpflegegeldes, hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Die Berufung des Klägers war erfolgreich. Das Oberverwaltungsgericht
hat das erstinstanzliche Urteil abgeändert und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger vom 1. September 1988 an unter Anrechnung
erbrachter Pflegegeldleistungen und Berücksichtigung der Kürzung wegen teilstationärer Betreuung Pflegegeld der höchsten Stufe
zu gewähren. Das Berufungsgericht hat sein Urteil im wesentlichen wie folgt begründet:
Die Klage sei als Untätigkeitsklage statthaft. Dem Kläger stehe der geltend gemachte Pflegegeldanspruch für den streitbefangenen
Zeitraum (1. September 1988 bis 7. Oktober 1994) auch zu. Das folge aus § 69 Abs. 4 Satz 2 BSHG in Verbindung mit § 24 Abs. 2 und (ab 27. Juni 1993) § 76 Abs. 2 a Nr. 3 Buchst. b BSHG und der Verordnung zur Durchführung des § 24 Abs. 2 Satz 1 bzw. (ab 27. Juni 1993) des § 76 Abs. 2 a Nr. 3 Buchst. b BSHG (VO). Der Kläger gehöre zwar nicht zu den in § 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 6 VO bezeichneten Gruppen von Schwerstbehinderten. Nach dem Ergebnis des Berufungsverfahrens sei er jedoch
wegen seiner außergewöhnlichen Pflegebedürftigkeit dem von der Auffangvorschrift des § 1 Satz 1 Nr. 7 VO erfaßten Personenkreis
zuzurechnen. Diese Vorschrift verlange einen umfassenden Vergleich mit der Schwere der in § 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 5 VO umschriebenen
Behinderungen anhand des Maßes der Pflegebedürftigkeit. Die Lage des Klägers als Hirngeschädigter mit schweren geistigen Störungen
und Gebrauchsbehinderung mehrerer Gliedmaßen ähnele am meisten den Schwerstbehinderungen nach § 1 Satz 1 Nr. 5 VO. Daß der
Kläger im Unterschied zu den dort erfaßten Schwerstbehinderungen nicht zusätzlich schwere körperliche Störungen aufweise,
werde dem Grad der Pflegebedürftigkeit nach aufgewogen durch das besondere Ausmaß der Gebrauchsbehinderung seiner Arme und
Hände sowie durch die psychische Belastung, die sein Bewegungsdrang und vor allem sein lautes, unartikuliertes Schreien für
jede Pflegeperson bedeuteten. Die Pflegeleistungen, die für den Kläger wegen der Bewegungsstörungen an Armen und Händen zu
erbringen seien, kämen praktisch der Unterstützung eines Ohnhänders gleich. Seine Pflege verlange außerdem von seinen Eltern
ein Höchstmaß an seelischer Kraft. Die Gesamtwürdigung der enormen physischen und psychischen Belastung, die die Pflege des
ständiger Aufsicht bedürftigen Klägers bedeute, führe zur Gleichstellung seiner Pflegebedürftigkeit mit derjenigen der in
§ 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 5 VO genannten Personen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten, mit der dieser seinen Klageabweisungsantrag weiterverfolgt und
Verletzung von § 1 Satz 1 Nr. 7 VO rügt. Er macht geltend, das Berufungsgericht habe den Anwendungsbereich dieser Vorschrift
überdehnt, indem es anstelle körperlicher Behinderungen des Klägers maßgeblich physische und psychische Belastungen der Pflegepersonen
als Kriterium für den Grad der Behinderung des Klägers zugrunde gelegt habe.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
II.
Die Revision ist nicht begründet. Es steht mit Bundesrecht (§
137 Abs.
1 Nr.
1 VwGO) in Einklang, daß das Berufungsgericht den Beklagten verpflichtet hat, dem Kläger für den streitbefangenen Zeitraum unter
Anrechnung bereits erbrachter Pflegegeldleistungen das (wegen teilstationärer Betreuung gekürzte) Höchstpflegegeld zu gewähren.
Die Revision ist daher zurückzuweisen (§
144 Abs.
2 VwGO).
Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß die Klage als Untätigkeitsklage statthaft ist und der vom Kläger
verfolgte Pflegegeldanspruch den Zeitraum vom 1. September 1988 (Einstellung der Zahlung des Höchstpflegegeldes) bis zum 7.
Oktober 1994 (Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung über die Berufung) umfaßt. In diesem Zeitraum beurteilt sich das Begehren
des Klägers nach § 69 Abs. 4 Satz 2 BSHG in den Fassungen der Bekanntmachung vom 20. Januar 1987 (BGBl I S. 401) und des Art. 7 Nr. 16 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) vom 23. Juni 1993 (BGBl I
S. 944), das am 27. Juni 1993 in Kraft getreten ist (Art. 43 Abs. 1 FKPG). Nach dieser Vorschrift steht Höchstpflegegeld den in § 24 Abs. 2 BSHG F. 1987 und (ab 27. Juni 1993) den in § 76 Abs. 2 a Nr. 3 Buchst. b BSHG F. 1993 genannten Personen zu. Anspruch auf Höchstpflegegeld nach § 69 Abs. 4 Satz 2 BSHG F. 1987/1993 haben danach Behinderte, deren Behinderung so schwer ist, daß sie als Beschädigte die Pflegezulage der Stufen
III bis VI nach § 35 Abs. 1 Satz 2 BVG erhielten. Dieser Personenkreis wird zunächst in der Verordnung zur Durchführung des § 24 Abs. 2 Satz 1 BSHG vom 28. Juni 1974 (BGBl I S. 1365) näher umschrieben und eingegrenzt. Durch Art. 10 FKPG ist diese Verordnung (im folgenden: VO) in Verordnung zur Durchführung
des § 76 Abs. 2 a Nr. 3 Buchst. b BSHG umbenannt worden. Dabei ist die Beschreibung des berechtigten Personenkreises in § 1 VO unberührt geblieben.
Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§
137 Abs.
2 VwGO), erfüllt der Kläger die Voraussetzungen der Behinderteneigenschaft im Sinne von §
1 Satz 1 Nrn. 1 bis 6 VO nicht. Das ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig. Das Berufungsgericht hat den Kläger zur Gruppe
der anderen Personen im Sinne von § 1 Satz 1 Nr. 7 Alternative 2 VO gerechnet. Das ist auf der Grundlage der tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.
Nach § 1 Satz 1 Nr. 7 Alternative 2 VO sind Behinderte im Sinne des § 24 Abs. 2 Satz 1 BSHG (F. 1987) bzw. § 76 Abs. 2 a Nr. 3 Buchst. b BSHG (F. 1993) - und haben deshalb Anspruch auf Höchstpflegegeld nach § 69 Abs. 4 Satz 2 BSHG - andere Personen, deren Pflegebedürftigkeit so außergewöhnlich ist, daß ihre Behinderung der Behinderung der in den Nummern
1 bis 5 genannten Personen vergleichbar ist. Das Berufungsgericht geht deshalb zu Recht davon aus, daß die Zugehörigkeit des
Klägers zu dieser Gruppe Schwerstbehinderter durch einen Vergleich des Schweregrades seiner Behinderung mit den Schwerstbehinderungen
zu ermitteln ist, die § 1 Satz 1 VO in den Nummern 1 bis 5 umschreibt. Vergleichsmaßstab ist also das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit.
Dabei hat der Verordnungsgeber berücksichtigt, daß alle von § 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 5 VO erfaßten Schwerstbehinderungen ein
hohes Maß an Pflegebedürftigkeit verbindet. Ein hoher Pflegeumfang kennzeichnet auch die Lage der in § 1 Satz 1 Nr. 7 Alternative
1 VO bezeichneten Personen, deren Leidenszustand dauerndes Krankenlager erfordert. Der durch den hohen Pflegeaufwand begründete
Zusammenhang aller Personengruppen des § 1 Satz 1 VO ist auf den Abgrenzungszweck zurückzuführen, dem diese Vorschrift dient:
Sie soll den in § 24 Abs. 2 BSHG F. 1987 und § 76 Abs. 2 a Nr. 3 Buchst. b BSHG F. 1993 genannten Personenkreis näher bestimmen, der nur solche Personen umfaßt, deren Behinderung so schwer ist, daß sie
als Beschädigte die Pflegezulage der Stufen III bis VI nach § 35 Abs. 1 Satz 2 BVG erhielten.
Entgegen der Ansicht der Revision ist die Frage, ob der Kläger zum Kreis der Behinderten im Sinne von § 1 Satz 1 Nr. 7 VO
gehört, nicht durch Heranziehung der Legaldefinition des Schwerstpflegebedürftigen in §
15 Abs.
1 Nr.
3 SGB XI (Soziale Pflegeversicherung) und § 69 a Abs. 3 BSHG in der Fassung von Art. 18 Nr. 6 des Pflege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG) vom 26. Mai 1994 (BGBl I S. 1014, 1057) zu beurteilen. Ein Rückgriff auf die genannte Legaldefinition scheidet hier schon deshalb aus, weil §
15 Abs.
1 Nr.
3 SGB XI am 1. Januar 1995 und § 69 a BSHG erst am 1. April 1995, d.h. nach Ablauf des hier streitbefangenen Zeitraums, in Kraft getreten sind (vgl. Art. 68 Abs. 1 und 2 PflegeVG) und § 69 a BSHG Bestandteil der umfassenden Neuregelung der Hilfe zur Pflege (§§ 68 ff. BSHG) durch das Pflege-Versicherungsgesetz ist. Im übrigen wird der Anwendungsbereich von § 76 Abs. 2 a Nr. 3 Buchst. b BSHG F. 1993 und die nähere Bestimmung seines Personenkreises in § 1 Satz 1 VO durch die Einführung der Pflegeversicherung und die damit einhergehende Neuregelung der Hilfe zur Pflege im Bundessozialhilfegesetz nicht berührt.
Wie das Berufungsgericht weiterhin zutreffend ausgeführt hat, stellt § 1 Satz 1 Nr. 7 VO eine Auffangvorschrift dar, deren
Zweck darin besteht, in den Kreis der Schwerstbehinderten, dessen sich das Bundessozialhilfegesetz in besonderer Weise annimmt (im streitbefangenen Zeitraum u.a. in § 24 Abs. 2, § 69 Abs. 4 Satz 2, § 76 Abs. 2 a Nr. 3 Buchst. b BSHG F. 1987/1993), auch solche Personen einzubeziehen, die zwar nicht die gesundheitlichen Merkmale einer der in § 1 Satz 1 Nrn.
1 bis 5 VO umschriebenen Schwerstbehinderungen erfüllen, deren Behinderung jedoch gemessen an ihrem Leidenszustand oder ihrer
Pflegebedürftigkeit diesen Schwerstbehinderungen vergleichbar ist. Personen, die (nur) einzelne, aber nicht sämtliche gesundheitliche
Merkmale einer der in Nummern 1 bis 5 erfaßten Behindertengruppen erfüllen, können deshalb nur dann dem Personenkreis der
Nummer 7 zugeordnet werden, wenn weitere Umstände hinzutreten, die mit Rücksicht auf ihren (dauerndes Krankenlager erfordernden)
Leidenszustand oder ihre außergewöhnliche Pflegebedürftigkeit eine Gleichstellung mit den in Nummern 1 bis 5 bezeichneten
Schwerstbehinderten rechtfertigen.
Der Vorinstanz ist schließlich auch darin zuzustimmen, daß das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit, auf das § 1 Satz 1 Nr. 7 Alternative
2 VO als Vergleichsmaßstab abstellt, durch die körperlichen und seelischen Belastungen der Pflegeperson, die je nach Art und
Schwere der Behinderung mit der Pflege verbunden sind, mitbestimmt wird. Umfang und Ausmaß der Pflegebedürftigkeit (der erforderlichen
Pflege) bemessen sich nicht allein nach der Pflegezeit, sondern auch nach der Pflegeintensität, die sich auf seiten der Pflegeperson
in den physischen und psychischen Belastungen durch die Pflege zeigt. Solche Belastungen der Pflegeperson sind nichts anderes
als auf seiten der Pflegeperson in Erscheinung tretende Kriterien für das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit des Hilfesuchenden
und damit nach § 1 Satz 1 Nr. 7 Alternative 2 VO für das Ausmaß seiner Behinderung.
Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist es aus bundesrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht den Kläger
dem Personenkreis des § 1 Satz 1 Nr. 7 Alternative 2 VO zugeordnet hat, weil seine Behinderung aufgrund seiner außergewöhnlichen
Pflegebedürftigkeit der Behinderung der in § 1 Satz 1 Nr. 5 VO genannten Personen vergleichbar sei. Behinderte im Sinne der
zuletzt genannten Vorschrift sind Hirnbeschädigte mit schweren körperlichen und schweren geistigen oder seelischen Störungen
und Gebrauchsbehinderung mehrerer Gliedmaßen. Wie vom Berufungsgericht festgestellt und zwischen den Beteiligten unstreitig,
ist der Kläger Hirnbeschädigter mit schweren geistigen Störungen und im Gebrauch seiner Arme und Hände behindert, erfüllt
aber nicht das Tatbestandsmerkmal der schweren körperlichen Störungen. Das Fehlen dieses Merkmals wird nach Ansicht der Vorinstanz
jedoch durch das die Pflegebedürftigkeit des Klägers kennzeichnende besondere Ausmaß der Gebrauchsbehinderung seiner Arme
und Hände sowie durch die psychische Belastung aufgewogen, die der Bewegungsdrang des Klägers und vor allem sein lautes, unartikuliertes
Schreien für jede Pflegeperson bedeuteten. Dies alles beruht auf näher bezeichneten Tatsachen, an deren Feststellung und Würdigung
der erkennende Senat gebunden ist. Zulässige und begründete Revisionsrügen (§
137 Abs.
2 VwGO) hat der Beklagte hiergegen nicht vorgebracht.
Der Beklagte macht zwar mit der Revision geltend, daß die beim Kläger vorhandene motorische Unruhe nicht als dauernd und außergewöhnlich
charakterisiert werden könne und deshalb die vom Berufungsgericht vorgenommene Gleichsetzung mit der Behinderung eines Ohnhänders
unzutreffend sei. Erscheinungen nächtlicher Unruhe und Harninkontinenz träten nur noch von Zeit zu Zeit auf, so daß Hilfe
und Beaufsichtigung zur Nachtzeit insoweit nicht erforderlich seien. Der Beklagte sieht sich in dieser Einschätzung durch
das vom Verwaltungsgericht eingeholte amtsärztliche Gutachten sowie durch die in erster Instanz eingeholte Auskunft des vom
Kläger besuchten Lebenshilfezentrums bestätigt. Insoweit beschränkt sich das Revisionsvorbringen jedoch auf Angriffe gegen
die Richtigkeit der vorinstanzlichen Sachverhaltswürdigung, ohne revisionsrechtlich beachtliche Fehler der Beweiswürdigung
aufzuzeigen. Denn die Revision legt nicht dar, daß das Berufungsgericht allgemeine Auslegungsgrundsätze, die gesetzlichen
Beweisregeln, die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze außer acht gelassen habe (vgl. BVerwGE 47, 330 [361]; 61, 176 [188]; 81, 74 [76]).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
154 Abs.
2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf §
188 Satz 2
VwGO.
B e s c h l u ß
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das
Revisionsverfahren auf 3740 DM festgesetzt (§ 13 Abs. 1 Satz 1 GKG).