BVerwG, Urteil vom 20.02.1992 - 5 C 74.88
»Anträge, die nicht nur verfahrens-, sondern auch materiellrechtliche Voraussetzung für das Entstehen des Anspruchs auf eine
Sozialleistung sind, bewirken keine Unterbrechung der Verjährung nach § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB I (Abweichung von BSG, Urteil v. 13.12.1989 - 9 a RV 60/83 - , SozR 1200 § 45 SGB I Nr. 5).«
Fundstellen: BVerfGE 90, 37, DRsp V(545)117a, FamRZ 1993, 119, MDR 1992, 914, NJW 1992, 2439
a. »Ein etwaiger Anspruch des Kl. auf [Ausbildungsförderung für die Zeit vom 1.4.1976 bis zum 31.3.1977] war gemäß § 45 Abs. 1
SGB I spätestens Ende 1981 verjährt. Nach der genannten Vorschrift ... verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren
nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Gemäß § 40 Abs. 1
SGB I entstehen Ansprüche auf Sozialleistungen, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen.
Der in Rede stehende Anspruch auf Ausbildungsförderung ... setzte gemäß den §§ 1, 2, 15, 46
BAföG in der hier anzuwendenden Fassung der Bekanntmachung v. 9.4.1976 (BGBl. I S. 989) voraus, daß der Kl. in diesem Zeitraum die Hochschule besuchte, ihm die für seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung
erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung standen und ein entsprechender schriftlicher Förderungsantrag vorlag.
Daraus ergibt sich, daß der Anspruch nicht vor dem Zeitpunkt der Antragstellung am 1.4.1976 entstanden sein kann und als letzter
möglicher Zeitpunkt seines Entstehens der Beginn des Monats März 1977 in Betracht kommt. Damit begann die vierjährige Verjährung
nach § 45 Abs. 1
SGB I frühestens mit dem 1.1.1977, spätestens mit dem 1.1.1978 und endete demnach spätestens mit dem 31.12.1981.
Der Auffassung des BerGer., diese Verjährung sei gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB I durch den Antrag des Kl. vom 1.4.l976 unterbrochen worden, kann nicht gefolgt werden. ...
Der Antrag des Kl. konnte die Verjährung schon deshalb nicht unterbrechen, weil der Lauf der Verjährung gemäß § 45 Abs. 1
SGB I die Entstehung des Anspruchs voraussetzt, der Förderungsanspruch aber - wie dargelegt - vor Stellung des Antrags noch gar
nicht entstanden sein konnte. Denn aus § 15 Abs. 1
BAföG ergibt sich, daß der Antrag eine materiellrechtliche Voraussetzung für das Entstehen des Anspruchs auf Ausbildungsförderung
darstellt ... und vom Zeitpunkt der Antragstellung insbesondere der zeitliche Umfang des Anspruchs sowie der dafür maßgebliche
Beurteilungszeitraum abhängen (vgl. BVerwGE 59, 130 ff.). Zwar ist dem BerGer. einzuräumen, daß es sich für seine gegenteilige Auffassung, eine Unterbrechung der Verjährung
könne nach § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB I auch durch Anträge bewirkt werden, die nicht nur verfahrens- , sondern auch materiellrechtliche Voraussetzung für das Entstehen
des Anspruchs auf Sozialleistung seien, auf das Urteil des Bundessozialgerichts v. 13.12.1984 - 9 a RV 60/83 - (SozR 1200
§ 45
SGB I Nr. 5 S. 4) berufen kann. Dort wird ausgeführt, § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB I mache deutlich, daß die Unterbrechung auch dann eintrete, wenn es sich um einen Anspruch handele, bei dem Entstehungs- und
Unterbrechungstatbestand zur gleichen Zeit verwirklicht würden. Denn von einer Unterbrechung im herkömmlichen Sinne könne
nicht gesprochen werden, wenn die Verjährung schon unterbrochen werden soll, bevor sie begonnen hat. Dieser Auslegung des
§ 45 Abs. 3 Satz 1 SGB I vermag der Senat nicht uneingeschränkt zu folgen.
Bei den Verjährungsvorschriften handelt es sich um formales Recht, dessen Wortlaut besonderes Gewicht für die Auslegung zukommt.
»Unterbrochen« werden kann eine Frist nur dann, wenn zumindest die Möglichkeit besteht, daß sie bereits vor dem unterbrechenden
Ereignis lief und ohne die Unterbrechung auch danach noch weiterlaufen würde. Daraus ergibt sich für § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB I, daß in den Fällen, in denen - wie hier - ein schriftlicher Antrag als solcher zum Entstehen des Anspruchs erforderlich ist,
die Verjährung nicht schon durch diesen Antrag unterbrochen werden kann. Auch § 45 Abs. 3
SGB I verwendet den Begriff der Unterbrechung und will damit - ähnlich wie die vergleichbaren zivilrechtlichen Vorschriften der
§§ 209, 210
BGB - ersichtlich ein besonderes, über das zum Entstehen des Anspruchs Notwendige hinausgehendes, auf Einfordern der zu beanspruchenden
Leistung gerichtetes rechtsförmliches Verhalten des Berechtigten prämiieren, wobei er einen eigenständigen, über § 210
BGB hinausgehenden (vgl. hierzu BVerwGE 57, 306, 308 f.) Unterbrechungstatbestand normiert. Deshalb kann in derartigen Fällen erst einem nach Entstehen des Anspruchs gestellten,
mahnungsähnlichen weiteren Antrag oder einem nach Leistungsablehnung erhobenen Widerspruch Unterbrechungswirkung zukommen.
Das gilt erst recht, wenn - was hier offenbleiben kann - die sonstigen gesetzl. Voraussetzungen der Förderung nicht schon
im Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt eingetreten sind.
Dei anderer Auslegung wäre nicht recht erkennbar, welchen Sinn es für Fälle der vorliegenden Art gehabt haben sollte, ausdrücklich
eine allgemeine Verjährungsfrist einzuführen, gleichzeitig aber davon auszugehen, daß die Verjährung durch die Antragstellung
»unterbrochen« wird. Denn eine Verjährung würde bei solcher Betrachtung im Regelfall nicht eintreten können ... . Damit wäre
die Verjährungsvorschrift des § 45 Abs. 1
SGB I für alle Sozialleistungen, bei denen dem Antrag materiellrechtliche Bedeutung zukommt, praktisch, d.h. für den Regelfall,
ohne jede Bedeutung.«
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