BVerwG, Urteil vom 04.06.1992 - 5 C 82.88, FEVS 43, 109
»Pflegegeld nach § 69 Abs. 3 Satz 1 BSHG, das der Pflegebedürftige bestimmungsgemäß einer ihm nahestehenden Pflegeperson zugewendet hat, ist von dieser grundsätzlich
nicht als Einkommen im Sinne von § 76 Abs. 1 BSHG einzusetzen.«
Fundstellen: BVerwGE 90, 217, DRsp V(545)120b, FEVS 43, 109, FamRZ 1993, 183, MDR 1993, 396, NJW 1993, 676 (Ls), NJW 1993, 676
Normenkette: BSHG § 11 Abs. 1 § 69 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 § 76 Abs. 1
b. »Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der ... Fassung der Bekanntmachung v. 24.5.1983 (BGBl. I S. 613) ist Hilfe zum Lebensunterhalt dem zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen
Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Streitig ist insoweit zwischen den Beteiligten
allein, ob die Bekl. [Sozialhilfeträger] das Pflegegeld, das die pflegebedürftige Ehefrau des Kl. ... an diesen weitergereicht
hat, zu Recht als Einkommen des Kl. angesehen hat. Diese Frage [ist zu verneinen]. ...
Nach § 76 Abs. 1
BSHG gehören zum Einkommen im Sinne dieses Gesetzes alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach diesem
Gesetz. Daß diese Formulierung nicht so umfassend gemeint war, wie ihr Wortlaut nahelegt, ergibt sich schon daraus, daß der
Gesetzgeber die Herausnahme der »Leistungen nach diesem Gesetz« aus dem Einkommensbegriff lediglich als Klarstellung bezeichnete
... . Darin wird eine teleologische Einschränkung des Einkommensbegriffs dahin erkennbar, das Pflegegeld nach § 69 Abs. 3
BSHG dann, wenn es seinem gesetzl. Zweck entsprechend verwendet wird und in diesem Rahmen an eine nahestehende Pflegeperson gelangt,
hinsichtlich dieser Person i.d.R. wie eine Leistung nach diesem Gesetz zu behandeln.
Nach der Rechtspr. des BVerwG ist der Begriff des Einkommens in § 76 Abs. 1
BSHG an dem Bedarf zu orientieren, der mit seiner Hilfe gedeckt werden soll (BVerwGE 29, 295, 297 ...). Das Pflegegeld ist - anders als die Hilfe zum Lebensunterhalt nicht für den Unterhalt des Pflegebedürftigen und
seiner Familie im allgemeinen bestimmt und dient auch nicht dazu, den Pflegeaufwand abzugelten, indem es der Pflegeperson
als wirtschaftliches Entgelt für ihre Pflegeleistung zugewendet wird, um wie Erwerbseinkommen ihren allgemeinen Unterhaltsbedarf
zu decken ... . Seine Zweckbestimmung liegt vielmehr darin, es dem Pflegebedürftigen zu ermöglichen, mit Hilfe ausreichender
Barmittel die Pflegebereitschaft von nahestehenden Personen oder Nachbarn anzuregen und zu erhalten, um so sicherzustellen,
daß ihm die im Einzelfall notwendige Pflege in seiner häuslichen Umgebung auch wirklich zuteil wird ... . Dabei geht der Gesetzgeber
davon aus, daß Wartung und Pflege durch nahestehende Personen oder im Wege der Nachbarschaftshilfe (s. § 69 Abs. 2 Satz 1 BSHG) unentgeltlich geleistet werden; erst für die neben oder anstelle der Wartung und Pflege durch sie erforderliche Heranziehung
einer besonderen Pflegekraft ist vom Gesetz eine Kostenübernahme vorgesehen (§ 69 Abs. 2 Satz 3 BSHG; vgl. BVerwGE 88, 86, 90 ...).
Auch und gerade der Umstand, daß das Pflegegeld gemäß § 69 Abs. 5 Satz 1 BSHG grundsätzlich neben den finanziellen Leistungen nach Absatz 2 Satz 2 und 3 gewährt wird, zeigt, daß dabei nicht wirtschaftlich
meßbare Belastungen durch die Pflege selbst im Vordergrund stehen ... . Vielmehr soll die Sozialleistung »Pflegegeld« den
gesteigert Pflegebedürftigen in den Stand versetzen, nicht nur vielfältige Aufwendungen der durch § 69 Abs. 2 Satz 2 BSHG erfaßten Art ohne Einzelnachweis aufzufangen, sondern auch durch darüber hinausgehende Zuwendungen Dank für geleistete und
Erwartung künftiger Hilfe auszudrücken ... .
Diese sozialpolitische Zweckbestimmung des Pflegegeldes würde vereitelt, wenn einer nahestehenden Pflegeperson, der der Pflegebedürftige
das Pflegegeld bestimmungsgemäß zur Deckung ihrer Aufwendungen und als Anerkennung für ihre Hilfeleistungen zugewendet hat,
- wie hier - zugemutet würde, diese Mittel zur Hälfte zur Deckung ihres allgemeinen Unterhaltsbedarfs einzusetzen. Das Pflegegeld
würde entgegen der eindeutigen Zielsetzung des Gesetzes wie Entgelt behandelt, das es bei bestimmungsgemäßer Verwendung und
Zuwendung an die nahestehende Pflegeperson - wie hier - gerade nicht ist. Es könnte die ihm zugedachte Funktion, dem Pflegebedürftigen
ein zusätzliches Mittel zur Erhaltung der unentgeltlichen Pflegebereitschaft einer nahestehenden Person oder eines Nachbarn
in die Hand zu geben, nicht mehr erfüllen.«