Einstweiliger Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren; Folgenabwägung für einen Anordnungsanspruch; Übernahme von Gasschulden
Ein Anordnungsanspruch ist auf eine Folgenabwägung zu stützen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache
ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat und stattdessen die Folgen abzuwägen sind, die eintreten würden,
wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde, gegenüber
den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren indes keinen
Erfolg hätte (hier: Übernahme von Gasschulden durch den Hilfeträger als Darlehen). [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. Dezember 2008 geändert. Der Antragsgegner
wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, bei der Berliner Gaswerke AG (GASAG) bestehende Schulden des Antragstellers
in Höhe von 896,59 € vorläufig als Darlehen zu übernehmen und diesen Betrag unter Angabe der Vertragskontonummer direkt an
die GASAG auf das bei der B Bank geführte Konto, Bankleitzahl, Kontonummer, zu zahlen, sobald der Antragsteller nachweist,
dass er einen Betrag in Höhe von 360,26 € auf das vorgenannte Konto gezahlt hat. Die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners
wird mit der vorläufigen Verpflichtung des Antragstellers verbunden, das ihm gewährte Darlehen in monatlichen Raten von 50,00
€, beginnend mit dem Monat, der auf die Zahlung des Antragsgegners folgt, zu tilgen.
Im Übrigen wird der Antrag des Antragstellers abgelehnt und die Beschwerde des Antragsgegners zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen außergerichtliche Kosten des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens für beide Instanzen
zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde des Antragsgegners ist gemäß §§
172 Abs.
1,
173 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig und in dem Umfang begründet, wie er sich aus dem Tenor ergibt.
Trotz der Änderung des ursprünglichen Verpflichtungsausspruchs, folgt der Senat mit seinem Tenor der Entscheidung des Sozialgerichts,
was die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der bei der GASAG bestehenden Schulden des Antragstellers
in Höhe von 896,59 € im Darlehenswege sowie die direkte Zahlung an die GASAG angeht. Denn ebenso wie das Sozialgericht sieht
auch der Senat die Sache gemäß §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG als eilbedürftig an, weil die Heizung des Antragstellers mit Gas betrieben wird und die Gaslieferung nach wie vor unterbrochen
ist. Des Weiteren hält der Senat auch einen Anordnungsanspruch im Sinne der vorgenannten Vorschrift für gegeben, stützt diesen
Anspruch jedoch nicht auf § 22 Abs. 5 Satz 2 des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches und eine Reduzierung des dort geregelten
Ermessens auf Null zugunsten der für den Antragsteller getroffenen Entscheidung, sondern auf eine Folgenabwägung, bei der
in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Erwägung,
wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat und stattdessen die Folgen
abzuwägen sind, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren
aber obsiegen würde, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende
im Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte.
Eine solche Folgenabwägung erscheint im Lichte von Art.
19 Abs.
4 des Grundgesetzes (
GG) im vorliegenden Fall zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich, weil der Antragsteller hier Leistungen begehrt,
die dazu dienen, ihm ein menschenwürdiges Leben frei von Gefahren für Leib und Leben zu ermöglichen, das sicherzustellen der
Staat verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Da das vorläufige Rechtsschutzverfahren für dieses Begehren die Bedeutung des
Hauptsacheverfahrens vollständig übernimmt und dem Antragsteller bei einer Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes eine endgültige
Grundrechtsverletzung droht, dürfen nach Art.
19 Abs.
4 GG die Anforderungen an die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht überspannt werden. Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes
zu genügen, darf sich das zur Entscheidung berufene Gericht nicht auf eine nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der
Hauptsache beschränken, sondern muss die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen. Ist ihm dies im vorläufigen Rechtsschutzverfahren
nicht möglich, so ist eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, zitiert nach juris). Letzteres ist hier der Fall. Denn die Entscheidung, ob dem Antragsteller die mit dem Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung begehrte Leistung tatsächlich zusteht, hängt nicht zuletzt von der genauen Klärung seiner finanziellen
Situation in den letzten ein bis zwei Jahren ab. Diese Klärung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, weil sie
den Charakter des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens sprengen würde.
Die zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Folgenabwägung fällt im vorliegenden Fall zugunsten des Antragstellers
aus, weil ihm im Hinblick darauf, dass er seine Wohnung mit Gas beheizt und die Gaslieferung nach wie vor unterbrochen ist,
bei einer Ablehnung seines Antrags gesundheitliche Gefahren drohen, die er nach seinen insbesondere im Erörterungstermin des
Sozialgerichts am 3. Dezember 2008 gemachten Angaben aus eigener Kraft nicht imstande ist, von sich abzuwenden. Diesen Nachteilen
stehen auf der Seite der Antragsgegnerin lediglich finanzielle Interessen gegenüber, die sich im Hinblick auf den in Rede
stehenden - noch dazu nur als Darlehen begehrten - Betrag in Höhe von 896,59 € in einem für den Antragsgegner überschaubaren
Rahmen halten und dementsprechend hinter den dem Antragsteller drohenden Nachteilen zurückzutreten haben.
Letzteres hat zur Folge, dass die Entscheidung des Sozialgerichts im Grundsatz zu bestätigen war. Sie bedurfte allerdings
insoweit der Korrektur, als das Sozialgericht dem Antragsteller mit seiner Entscheidung mehr zugesprochen hat, als von ihm
beantragt worden ist. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hat der Antragsteller hier nämlich seinen auf die darlehensweise
Übernahme von Schulden in Höhe von 896,59 € gerichteten vorläufigen Rechtsschutzantrag dadurch beschränkt, dass er sich -
vorläufig - bereit erklärt hat, das Darlehen in monatlichen Raten von 50,00 € zu tilgen. Diese Beschränkung ist gemäß §
123 SGG bei der gerichtlichen Entscheidung zu beachten. Nicht zu beachten ist in diesem Zusammenhang jedoch die vom Antragsteller
überdies erklärte Bereitschaft, die Tilgung bereits mit dem 1. November 2008 beginnen zu lassen. Denn dieser Beginnzeitpunkt
hätte nur dann Sinn gemacht, wenn der Antragsteller mit seinem im Oktober 2008 gestellten vorläufigen Rechtsschutzantrag auch
noch in diesem Monat durchgedrungen wäre und der Antragsgegner sich dieser Entscheidung ebenfalls noch in diesem Monat gebeugt
hätte. Der Senat legt den Antrag des Antragstellers vor diesem Hintergrund sachgerecht dahingehend aus, dass die von ihm angebotene
Ratenzahlung mit dem Monat beginnen soll, der auf die Zahlung des Antragsgegners folgt, und hat seinen Tenor entsprechend
gefasst. Durch diese Tenorierung ist der Antragsgegner allerdings nicht gehindert, den Antragsteller mit höheren Raten in
Anspruch zu nehmen, weil die Beschränkung nicht zugunsten, sondern zu Lasten des Antragstellers wirkt.
Darüber hinaus war die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Darlehensgewährung nach §
86 b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §
938 Abs.
1 der
Zivilprozessordnung zu seinen Gunsten mit der Anordnung zu verbinden, dass die Darlehensgewährung erst dann zu erfolgen hat, wenn der Antragsteller
nachweist, dass er die über den Darlehensbetrag in Höhe von 896,59 € hinaus bestehenden Schulden bei der GASAG einschließlich
der Kosten für die Gaszählereröffnung in Höhe von 360,26 € an den Gaslieferer gezahlt hat. Denn ohne die Zahlung dieses Differenzbetrages,
für den der Antragsteller bereits bei Antragstellung gemeint hat, im Wesentlichen selbst aufkommen zu können, ist eine Wiederaufnahme
der Gaslieferung nach Lage der Akten nicht zu erreichen. Um diese Wiederaufnahme sicherzustellen und den Antragsgegner davor
zu bewahren, dass die ihm abverlangten Mittel nicht zur Abwendung der hier bestehenden Gefahrenlage, sondern zur bloßen Übernahme
von Schulden eingesetzt werden, für die in aller Regel der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht kommt, musste
der Antragsteller hier zur Vorleistung verpflichtet werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und berücksichtigt, dass der Antragsteller mit seinem Begehren im Wesentlichen durchgedrungen ist.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).