Aufschiebende Wirkung eines Widerspruches und einer Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt über die Erstattung zu Unrecht
erbrachter Leistungen nach dem SGB II ab 1.1.2009
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten um die Kosten für ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Vollstreckung einer
Erstattungsforderung.
Mit zwei Bescheiden vom 27. Februar 2006 in der Fassung der Bescheide vom 7. September 2006 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide
vom 7. September 2006 (W 373/06 und W 374/06) änderte die Antragsgegnerin die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Antragsteller für
Juli bis Dezember 2005 ab und setzte den zu erstattenden Betrag auf 2.241,45 EUR fest.
Die dagegen vom Antragsteller am 11. Oktober 2006 erhobenen Klagen (S 24 AS 2428/06 und S 24 AS 2429/06) wies das Sozialgericht Chemnitz nach Verbindung der Verfahren mit Gerichtsbescheid vom 10. Juli 2009 ab. Der Gerichtsbescheid
wurde der Antragsgegnerin am 14. Juli 2009 und den Bevollmächtigten des Antragstellers am 17. Juli 2009 zugestellt.
Am 3. August 2009 legten die Bevollmächtigten des Antragstellers beim erkennenden Gericht Berufung gegen den Gerichtsbescheid
ein. Das Verfahren wird unter dem Aktenzeichen L 7 AS 495/09 geführt. Die Übermittlung der Berufungsschrift an die Antragsgegnerin erfolgte mit Schreiben vom 6. Oktober 2009, nachdem
der Vogtlandkreis am 28. September 2009 auf zwei Schreiben des Gerichts mitteilte, nicht der richtige Beklagte zu sein.
Mit Kassenanordnung vom 23. September 2009 verfügte die Antragsgegnerin die Einziehung der Erstattungsforderung in Höhe von
1.397,37 EUR. Mit Schreiben vom 25. September 2009 forderte die Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Bayern, Forderungsmanagement,
Standort Chemnitz (im Folgenden: BA), den Antragsteller zur Zahlung von insgesamt 1.397,37 EUR auf. Die Forderung sei am 17.
Oktober 2009 fällig. Mit Schreiben vom 13. Oktober 2009 zeigten die Bevollmächtigten des Antragstellers der BA dessen Vertretung
an, teilten die Einlegung der Berufung mit und forderten sie auf, bis zum 20. Oktober 2009, 12 Uhr, zu klären, dass die Forderung
von 1.397,37 EUR nicht fällig sei und keine Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Antragsteller eingeleitet würden.
Am 20. Oktober 2009, 21.45 Uhr, haben die Bevollmächtigten des Antragstellers beim erkennenden Gericht einstweiligen Rechtsschutz
beantragt. Zur Begründung haben sie vorgetragen, eine Reaktion auf ihr Schreiben vom 13. Oktober 2009 sei nicht erfolgt. Daher
drohe nunmehr die Vollstreckung. Dies sei rechtswidrig. Denn die aufschiebende Wirkung der Klage bestehe auch im Berufungsverfahren,
was festzustellen sei.
Am 2. Dezember 2009 haben die Bevollmächtigten des Antragstellers den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz für erledigt erklärt
und beantragt, der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Die Antragsgegnerin hat die Übernahme der außergerichtlichen Kosten abgelehnt. Von der Berufung habe sie erst am 9. Oktober
2009 erfahren. Die Zahlungsaufforderung sei erst weit nach Ablauf der Berufungsfrist und Annahme des Eintrittes der Bestandskraft
des Gerichtsbescheides ergangen. Die Berufungserhebung sei ihr durch die Bevollmächtigten des Antragstellers nicht gesondert
angezeigt worden. Nur sie hätte die aufschiebende Wirkung der Berufung zeitnah berücksichtigen können, wenn die Bevollmächtigten
des Antragstellers nach Zugang der Zahlungsaufforderung sie und nicht die BA von der erhobenen Berufung unterrichtet hätten.
Dem Gericht liegen die Leistungsakte der Antragsgegnerin (Blatt 1 bis 392) sowie die Gerichtsakten zu den Verfahren S 24 AS 2428/06, S 24 AS 2429/06, L 7 AS 495/09 und L 7 AS 653/09 ER vor. Sie waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Nach §
102 Abs.
3 Satz 1
SGG hat das Gericht auf Antrag durch Beschluss zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten
haben (Kostengrundentscheidung), wenn die Klage zurückgenommen ist oder als zurückgenommen gilt. Diese Norm ist in Verfahren
des einstweiligen Rechtsschutzes entsprechend anwendbar (vgl. z.B. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Auflage 2008, §
86b Rn 17 und 40).
Für den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 20. Oktober 2009 war das erkennende Gericht zuständig. Denn es ist aufgrund
der seit dem 3. August 2009 rechtshängigen Berufung das Gericht der Hauptsache (§
86b Abs.
1 SGG, vgl. auch §
86b Abs.
2 Satz 3
SGG).
Am 2. Dezember 2009 haben die Bevollmächtigten des Antragstellers den Rechtsstreit einseitig für erledigt erklärt. Dadurch
hat sich nach §
102 Abs.
1 Satz 2
SGG (in der ab dem 1. April 2008 geltenden und entsprechend anwendbaren Fassung) der Rechtsstreit in der "Hauptsache" erledigt.
Die Abgrenzung einer sog. einseitigen Erledigungserklärung von einer Rücknahme des Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz
(hier die o.g. "Hauptsache") ist in diesem Verfahren nicht entscheidungserheblich. Denn in Verfahren, in denen wie hier Kostenfreiheit
im Sinne des §
183 SGG gilt, hat die o.g. Erklärung keine eigenständige, insbesondere kostenrechtliche Bedeutung (vgl. ausführlich hierzu z.B. Bundessozialgericht
- BSG, Beschluss vom 29. Dezember 2005 - B 7a AL 192/05 B, Rn 6ff). Ein Anerkenntnis im Sinne des §
101 Abs.
2 SGG, welches der Antragsteller zur Erledigung des Rechtsstreites hätte annehmen können, hat die Antragsgegnerin nicht abgegeben.
Es kann insbesondere nicht ohne weitere (Prozess-) Erklärung den Ausführungen der Antragsgegnerin im Schreiben vom 5. November
2009 entnommen werden, wonach die aufschiebende Wirkung berücksichtigt werde und sich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung
erübrige. Die Kostenentscheidung in o.g. (kostenprivilegierten) Verfahren ist nach billigem Ermessen zu treffen. Dabei ist
der Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Erledigung zu berücksichtigen (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 16. Mai 2007 - B 7b
AS 40/06 R, Rn 5). Zwar enthält das
SGG insoweit (Geltung des §
193 SGG) außer §
195 SGG keine ausdrücklichen Regelungen. Ebenso sind die Kostenvorschriften der
Zivilprozessordnung (
ZPO) mit Ausnahme des §
100 (vgl. §
194 Satz 1
SGG) nicht unmittelbar oder nach §
202 SGG entsprechend anwendbar (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z.B. Beschlüsse vom 18. Januar 1957 - 6 RKa 7/56 und 7. September 1998 - B 2 U 10/98 R). Allgemeine Rechtsgedanken anderer Verfahrensordnungen können jedoch ergänzend herangezogen werden. Dies gilt z.B. für die
in den §§
91 Abs.
1 Satz 1,
91a Abs.
1 Satz 1,
92, 93
ZPO und §§
154 Abs.
1f,
155 Abs.
1,
156, 161 Abs.
2 Satz 1
Verwaltungsgerichtsordnung normierten Grundsätze.
Kriterien für die Kostengrundentscheidung sind somit u.a. die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung oder -verteidigung, die
Gründe der Erledigung des Verfahrens und das Verhalten der Beteiligten (z.B. Veranlassung für das gerichtliche Verfahren,
Reaktionen auf Änderung der Sach- und Rechtslage). Die Beurteilung des mutmaßlichen Verfahrensausgangs erfolgt dabei nach
summarischer Prüfung ohne weitere Beweiserhebung (vgl. näher zum Vorstehenden z.B. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
aaO., § 101 Rn 9a und § 193 Rn 12ff).
Unter Berücksichtigung der vorgenannten Kriterien ist es sachgerecht, der Antragsgegnerin die Erstattung der außergerichtlichen
Kosten des Antragstellers zur Hälfte aufzuerlegen. Denn sie hat teilweise durch eigenes Verhalten Veranlassung für den Antrag
auf einstweiligen Rechtsschutz gegeben.
Die Berufung vom 3. August 2009 gegen den Gerichtsbescheid vom 10. Juli 2009 hat kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung, soweit
sie sich gegen die Festsetzung der Erstattungsforderung durch den Erstattungsbescheid vom 27. Februar 2006 in der Fassung
des Änderungsbescheides vom 7. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 2006 (W 373/06) richtet. Dies beruht auf §
154 Abs.
1 SGG i.V.m. §
86a Abs.
1 SGG. Denn die aufschiebende Wirkung entfällt nicht nach §
86a Abs.
2 SGG. Insbesondere ist die aufschiebende Wirkung nicht nach §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG i.V.m. §
39 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ausgeschlossen. Dabei ist § 39 SGB II in der ab dem 1. Januar 2009 geltenden Fassung
anzuwenden, da die Berufung nach diesem Zeitpunkt eingelegt wurde. Denn bei dieser Vorschrift handelt es sich - ungeachtet
der Meinungsverschiedenheiten zur Bedeutung der aufschiebenden Wirkung (vgl. hierzu z.B. die Darstellung in BSG, Urteil vom
11. März 2009, B 6 KA 15/08 R, Rn 12) - um eine verfahrensrechtliche Regelung (vgl. Kapitel 4. Abschnitt 1. SGB II: Zuständigkeit und Verfahren), da sie
die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen entfallen lässt und Auswirkungen auf die Statthaftigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes
hat (vgl. hierzu z.B. Bundesverfassungsgericht - BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2009 - 1 BvR 2395/09, Rn 5ff). Die Änderungen des § 39 SGB II traten zum 1. Januar 2009 in Kraft (Art. 2 Nr. 14 und Art. 8 Abs. 1 des Gesetzes
zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21. Dezember 2008, BGBl. I Nr. 64, 2917, 2930 und 2932). Die
Voraussetzungen für eine Ausnahme von dieser Geltung sind nicht gegeben. Daher ist die zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsbehelfes
geltende Fassung des § 39 SGB II anzuwenden (im Ergebnis ebenso z.B. Sächsisches Landessozialgericht - LSG, Beschluss vom
18. Mai 2009 - L 2 AS 181/09 B ER, Rn 22).
Jedenfalls nach § 39 SGB II in der seit dem 1. Januar 2009 geltenden Fassung entfällt die aufschiebende Wirkung eines Widerspruches
und einer Anfechtungsklage (hier: Berufung, vgl. §
154 Abs.
1 SGG) gegen einen Verwaltungsakt über die Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen nicht (mehr). Dies ergibt sich nunmehr aus
dem ("klargestellten") Wortlaut des § 39 Nr. 1 SGB II (vgl. z.B. Bayerisches LSG, Beschluss vom 20. Juli 2009 - L 7 AS 344/09 B ER, Rn 24 und Conradis in: Münder, SGB II, 3. Auflage 2009, § 39 Rn 11) und der Begründung des Entwurfes eines Gesetzes
zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur Änderung des § 39 SGB II (vgl. BT-Drucks. 16/10810, Seite 50
zu Nummer 14). Soweit u.a. der erkennende Senat eine andere Auffassung hierzu vertreten hat (vgl. Beschlüsse vom 28. April
2009 - L 7 B 566/07 AS-ER und 30. Dezember 2009 - L 7 AS 442/09 ER), bezieht sie sich nach den tatsächlichen Feststellungen in diesen Entscheidungen auf § 39 SGB II in der bis zum 31. Dezember
2008 geltende Fassung. Die Antragsgegnerin und die - nach Eröffnung des Forderungskontos durch die Antragsgegnerin - mit der
Durchführung des Einziehungsverfahrens beauftragte BA (§ 3 der Verwaltungsvereinbarung vom 19. Februar 2009 i.V.m. dem Dienstleistungskatalog,
Dienstleistung 12) haben diese aufschiebende Wirkung der Berufung zunächst nicht beachtet, obwohl die Antragsgegnerin nach
eigenen Angaben am 9. Oktober 2009 Kenntnis von der Berufungseinlegung erlangte und zuständig für die Prüfung der aufschiebenden
Wirkung der Berufung geblieben sei. Somit hat sie zumindest teilweise den sinngemäß begehrten Antrag auf Feststellung der
aufschiebenden Wirkung der Berufung veranlasst. Denn nach Aktenlage hat sie nicht umgehend nach dem 9. Oktober 2009, sondern
erst nach Kenntnis vom Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die kraft Gesetzes eintretende aufschiebende Wirkung der
Berufung berücksichtigt, das Forderungskonto entsprechend gekennzeichnet und damit das Einziehungsverfahren erneut zum Ruhen
gebracht.
Eine volle Kostenerstattung für dieses Verfahren durch die Antragsgegnerin erschien nicht sachgerecht. Denn zum einen konnte
die Kassenanordnung im Einziehungsverfahren am 23. September 2009 ergehen, nachdem die Antragsgegnerin mehr als zwei Monate
nach den Zustellungen des Gerichtsbescheides vom 10. Juli 2009 keine Mitteilung über die Einlegung einer Berufung erhielt.
Zuständig für diese Mitteilung war das erkennende Gericht (§
153 Abs.
1 SGG i.V.m. §
104 Satz 1
SGG i.V.m. §
155 Abs.
1 und 4
SGG). Die Verzögerung der Mitteilung hat allein das Gericht zu vertreten (vgl. zu den Gründen hierzu die gerichtlichen Schreiben
vom 11. November 2009 im Verfahren L 7 AS 495/09). Zum anderen verblieb der Antragsgegnerin nur reichlich eine - in die Herbstferien fallende - Arbeitswoche nach der Kenntnis
von der Berufungseinlegung und vor dem Antrag auf den einstweiligen Rechtsschutz, um die Einstellung des Einziehungsverfahrens
zu veranlassen. Schließlich bestehen nach der Aktenlage erhebliche Zweifel an einem Zugang des Schreibens vom 13. Oktober
2009 der Bevollmächtigten des Antragstellers bei der BA. Denn dieses Schreiben wurde "nur per Fax Nr.: 0371/9118-777" gesandt.
Nach der Zahlungsaufforderung vom 25. September 2009 ist dies die Nummer des Telefons der BA und lautet die richtige Telefax-Nummer:
0371/9118 697. Sonstige tatsächliche Anhaltspunkte für eine ordnungsgemäße Übertragung des Schreibens vom 13. Oktober 2009
sind weder vorgetragen noch erkennbar. Damit konnte die BA nicht auf dieses Schreiben reagieren. Daher bedarf es in diesem
Verfahren keiner Entscheidung über die bestehenden Unsicherheiten über die Zuordnung von Zuständigkeiten bei der Verwaltungsvollstreckung
(vgl. hierzu z.B. BVerfG, Urteil vom 20. Dezember 2007 - 2 BvR 2433/04 und 2 BvR 2434/04, Rn 193f) und die Rechtmäßigkeit der Beauftragung der BA zur Durchführung des Einziehungsverfahrens (vgl. hierzu z.B. Sozialgericht
Leipzig, Urteil vom 26. Mai 2009 - S 23 AS 457/08, Berufung anhängig unter dem Aktenzeichen L 2 AS 451/09).
Der Betrag (Geldwert) der zu erstattenden Kosten wird bei Bedarf auf Antrag im Verfahren nach §
197 SGG festgesetzt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§
101 Abs.
3 Satz 2,
177 SGG).