Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Übernahme der Kosten für die Behandlung mit dem Rezepturarzneimittel 4-Aminopyridin.
Der am 1938 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Am 07.11.2002 richtete Prof. Dr. P1 vom Universitätsklinikum
an der Technischen Universität (TU) D. ein Schreiben an die Beklagte. Danach leidet der Kläger, nachdem 1994 die ersten Symptome
einer Parese aufgetreten waren, mittlerweile unter einer ausgeprägten spastischen Tetraparese. Trotz umfangreicher Diagnostik
sei es nicht gelungen, deren Ursache zu klären. Versuchsweise sei dem Kläger das streitgegenständliche Medikament verabreicht
worden, woraufhin dieser die Treppenstufen in seinem Haus wieder allein bewältigt habe. Der Arzt bat die Beklagte, die Kosten
für das Arzneimittel zu übernehmen, dessen Zulassung in den USA angestrebt werde. Der Kläger bestätigte im Schreiben vom 30.11.2002,
dass sich sein Gesundheitszustand unter der regelmäßigen Therapie mit dem streitgegenständlichen Medikament erheblich verbessert
habe, ohne dass Nebenwirkungen aufgetreten seien. Im Auftrag der Beklagten erstellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung
(MDK) am 07.01.2003 ein Gutachten. Danach ist der Wirkstoff 4-Aminopyridin in Deutschland nicht zugelassen, sodass seine Anwendung
im Rahmen des off-label-use deshalb nicht in Betracht zu ziehen sei. Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers
ab (Bescheid vom 20.01.2003).
Auf den Widerspruch des Klägers vom 09.02.2003 legte der MDK das Gutachten vom 18.02.2003 vor. Danach handelt es sich bei
4-Aminopyridin nicht um ein Fertigarzneimittel, sondern um eine chemische Substanz, die nach dem Mitteilungsblatt der sächsischen
Apotheker (SLAK 1/03) zwischenzeitlich als Arzneistoff monografiert sei. Bezüglich der Wirksamkeitsbewertung werde in dieser
Mitteilung unter Bezug auf ein Cochrane-Review darauf hingewiesen, dass bisher keine eindeutige Aussage über Sicherheit und
Effektivität einer Aminopyridin-Anwendung bei Multipler Sklerose möglich sei. Der Arzneistoff 4-Aminopyridin werde nach einer
Mitteilung in der Pharmazeutischen Zeitung (Nr. 28 vom 12.07.2001) als Individualrezeptur auf ärztliche Verordnung in Hartgelantine-Steckkapseln
verarbeitet. Es handele sich dabei um ein Rezepturarzneimittel, das keiner arzneimittelrechtlichen Prüfung unterliege. Deshalb
sei der Erlaubnisvorbehalt gemäß §
135 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) anzuwenden. Eine Bewertung durch den Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkassen sei bisher nicht erfolgt und in nächster
Zeit auch nicht zu erwarten. Da es sich somit nicht um ein zugelassenes Fertigarzneimittel handele, seien die Voraussetzungen
für seine Verwendung im Rahmen des off-label-use nicht in Betracht zu ziehen. Beim Kläger bestehe eine ernsthafte Erkrankung
des zentralen Nervensystems. Eine zunehmende und schwere körperliche Behinderung oder der Eintritt der Pflegebedürftigkeit
im weiteren Krankheitsverlauf seien nicht auszuschließen. Trotz umfassender Diagnostik und Ausschöpfung der diagnostischen
Möglichkeiten sei die Krankheitsursache bisher nicht geklärt. Eine kausale Therapie sei deshalb nicht einsetzbar. Vertragliche
Behandlungsmöglichkeiten mit gesicherter Wirksamkeit stünden nicht zur Verfügung. Erkenntnisse über die Wirksamkeit von 4-Aminopyridin
bei spastischer Tetraparese ungeklärter Genese lägen nicht vor. Die von Prof. Dr. P1 mitgeteilten positiven Erfahrungen aus
verschiedenen europäischen Ländern und den USA bezögen sich offensichtlich auf die Behandlung der Multiplen Sklerose und seien
daher nicht unmittelbar auf die Erkrankung des Klägers übertragbar. In einem Informationsblatt des Universitätsklinikums an
der TU D. vom 27.03.2000 werde u. a. darauf hingewiesen, dass der Wirkstoff als Arzneimittel nicht zugelassen sei und veröffentlichte
Langzeiterfahrungen zur kontinuierlichen Behandlung mit 4-Aminopyridin nicht zur Verfügung stünden. Aufgrund des bisher ausstehenden
Wirksamkeitsnachweises sei die Behandlung mit 4-Aminopyridin im Falle des Klägers sozialmedizinisch nicht zu empfehlen. Es
handele sich dabei nicht um ein verkehrsfähiges zugelassenes Arzneimittel. Beim Kläger liege eine schwerwiegende Erkrankung
vor. Die vertraglichen Untersuchungsmöglichkeiten seien ausgeschöpft. Gesicherte Therapiemaßnahmen und -mittel seien wegen
ungeklärter Krankheitsursachen nicht verfügbar. Die Behandlung müsse deshalb vorwiegend symptomatisch erfolgen. Eine arzneimittelrechtliche
Zulassung vom 4-Aminopyridin zur Behandlung einer spastischen Tetraparese ungeklärter Genese sei nicht zu erwarten. Die Anwendung
von 4-Aminopyridin sei deshalb im vorliegenden Einzelfall weiterhin als experimentelle Maßnahme zu bewerten. Die Beklagte
wies daraufhin den Widerspruch des Klägers unter Bezugnahme auf die Ausführungen im MDK-Gutachen vom 18.02.2003 zurück (Widerspruchsbescheid
vom 04.09.2003).
Dagegen hat sich die am 30.09.2003 vor dem Sozialgericht Chemnitz (SG) erhobene Klage gerichtet. Das SG hat eine Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 18.11.2004 eingeholt. Danach sei das Arzneimittel 3,4 Diaminopyridinphosphat
noch nicht zugelassen worden, sondern befinde sich im Stadium der Prüfung. Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit dieses
Arzneimittels seien daher noch nicht beurteilt worden. Ein Antrag auf Zulassung sei nach Informationen des Gemeinsamen Bundesausschusses
noch nicht gestellt worden. Der Kläger hat daraufhin am 06.04.2005 vorgetragen, dass das streitgegenständliche Medikament
kein zulassungsbedürftiges Arzneimittel, sondern eine handelsübliche Chemikalie sei, die durch ärztliche Individualrezeptur
zum Medikament entwickelt werde, und hierzu weitere Unterlagen überreicht. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 07.06.2007). Bei dem streitgegenständlichen Arzneimittel handle es sich um ein Rezepturarzneimittel,
auf das §
135 SGB V anzuwenden sei. Der Gemeinsame Bundesausschuss habe bisher jedoch nicht die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen
Nutzens dieser neuen Methode empfohlen. Ein Systemversagen bestehe nicht, da bereits kein für das Verfahren erforderlicher
Antrag zur Beratung über diese Therapie gestellt worden sei. Damit lägen bereits die formellen Voraussetzungen für ein Tätigwerden
des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht vor. Zudem seien dem Bundesausschuss keine Studien zugeleitet worden, sodass dieser
nicht zum selbstständigen Tätigwerden verpflichtet gewesen sei. Da der Kläger nicht an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig
tödlich verlaufenden Krankheit leide, könnten auf ihn auch nicht die Grundsätze des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98 - BverfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) angewendet werden.
Gegen das ihm am 11.06.2007 zugestellte Urteil hat der Kläger am 21.06.2007 Berufung zum Sächsischen Landessozialgericht eingelegt.
Das SG sei gehalten gewesen, in medizinischer Hinsicht zu ermitteln. Selbst wenn keine lebensbedrohende Erkrankung vorliegen sollte,
sei zu erwägen, ob die Beklagte nicht deshalb zur Übernahme der Kosten für das streitgegenständliche Medikament verpflichtet
sei, weil er, der Kläger, der Pflegestufe II zugeordnet sei und einen Grad der Behinderung von 80 vorweisen könne.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 07. Juni 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 20. Januar
2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 04. September 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten
für das Arzneimittel 4-Aminopyridin zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat Befundberichte von Professor Dr. P1 vom 11.11.2007 und von Dr. R1 (Hausärztin) vom 19.12.2007 sowie eine gutachtliche
Stellungnahme bei Prof. Dr. P1 vom 27.08.2008 eingeholt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten
beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der Beratung des Senats gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, denn der Kläger ist durch den Bescheid vom 20.01.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom
04.09.2003 nicht in rechtswidriger Weise beschwert. Er hat keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für das streitgegenständliche
Arzneimittel, da dieses nicht zugelassen ist (1), kein Anspruch nach den Grundsätzen über den off-label-use von Arzneimitteln
besteht (2), kein Systemversagen vorliegt (3) und die Grundsätze des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005
(Az.: 1 BvR 347/98 - BverfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) nicht herangezogen werden können, da das vom Kläger begehrte Arzneimittel weder
geeignet ist eine tödliche oder lebensbedrohliche Erkrankung zu heilen, zu verlangsamen oder in erheblichem Umfang zu lindern
(4). 1. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§
2 Abs.
1 Satz 1, §
12 Abs.
1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
1 und
3, §
31 Abs.
1 Satz 1
SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz - AMG) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl. BSG, Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 12/04 R - SozR 4 - 2500 § 27 Nr. 7 Rn. 22 mit weiteren Nachweisen - D-Ribose; Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 7/05 R - SozR 4 - 2500 § 31 Nr. 4 Rn. 15 - Tomudex). Weder in Deutschland, EU-weit noch in den USA ist das streitgegenständliche
Arzneimittel zugelassen, wie aus dem Gutachten des MDK vom 18.02.2003 hervorgeht. Auch Prof. Dr. P1 hat in seiner gutachtlichen
Stellungnahme vom 27.08.2008 bestätigt, dass 4-Aminopyridin kein zugelassenes Medikament ist, und auch in dem vom Kläger übersandten
Artikel von Dr. Koch in der Österreichischen Apothekenzeitung von Dezember 2004 heißt es, dass dieser Wirkstoff in Österreich
und Deutschland als Fertigarzneimittel nicht zugelassen sei, dieser aber als Rezepturarzneimittel zubereitet werden könne.
Auch als Rezepturarzneimittel kann der Kläger die Übernahme der Kosten für das streitgegenständliche Medikament nicht beanspruchen.
Nach der Rechtssprechung des BSG dürfen Krankenkassen ihren Versicherten eine neuartige Therapie mit einem Rezepturarzneimittel,
die - wie hier - vom Gemeinsamen Bundesausschuss bisher nicht empfohlen ist, grundsätzlich nicht gewähren, da sie an das Verbot
des §
135 Abs.
1 Satz 1
SGB V und die das Verbot konkretisierenden Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gebunden sind (ständige Rechtssprechung,
vgl. Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 30/06 R - juris Rn. 12 = SGb 2007, 287, 288-Cannabinol; Urteil vom 19.11.1996 - 1 RK 15/06 - BSGE 82, 233, 237 f. = SozR 3 - 2500 § 31 Nr. 5 Seite 18 ff. - Jomol). Für die neuartige, vom Kläger begehrte Therapie fehlt es aber an
der erforderlichen Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Dabei ist es dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des
BVerfG nicht verwehrt, zur Sicherung der Qualität der Leistungserbringung, im Interesse der Gleichbehandlung der Versicherten
und zum Zweck der Ausrichtung der Leistungen am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Verfahren vorzusehen, in dem neue
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen
sowie ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse
sachverständig überprüft werden, um die Anwendung dieser Methoden zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung auf eine
fachlich-medizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen (Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25, 46 f. = SozR 4-2500 § 27 Nr. 5 Rn. 28).
2. Auch ein Ausnahmefall, in dem ein off-label-use beansprucht werden kann, liegt nicht vor. Ob es sich bei der Erkrankung
des Klägers um einen sogenannten Seltenheitsfall handelt, der sich systematischer Erforschung entzieht, kann dahingestellt
bleiben. Zwar konnte für den Kläger ausweislich der Berichte von Prof. Dr. P1 vom 11.11.2007 und vom 27.08.2008 keine Diagnose
gestellt werden. Denn die Krankheitsursache ist unklar. Zu beobachten ist jedenfalls eine Muskelschwäche sowie eine Lähmung
aller vier Extremitäten bei deutlicher Muskelatrophie. Nur noch die Muskelbewegung im rechten Arm könne täglich für einige
Stunden aufrecht erhalten werden (Befundbericht der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. R1 vom 19.12.2007). Da das streitige
Arzneimittel nicht zugelassen ist, kommt die Anwendung der Grundsätze des off-label-use nicht in Betracht, sondern nur die
Anwendung der unter 4. dargestellten Grundsätze (vgl. dazu BSG, Urteil vom 19.10.2004 - B 1 KR 14/06 R - SozR 4 - 2500 § 31 Nr. 6 Rn. 10 - Cabaseril).
3. Auch die Voraussetzungen für die Annahme eines Systemversagens bestehen nicht (vgl. dazu BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R - SozR 4-2500 § 27 Nr. 12 = BSGE 97, 190, jeweils Rn. 18; Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 3/06 R - SozR 4-2500 § 27 Nr. 10 Rn. 24 m.w.N.). Danach kann ungeachtet des in §
135 Abs.
1 SGB V aufgestellten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt eine Leistungspflicht der Krankenkasse ausnahmsweise dann bestehen, wenn die
fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor
dem Gemeinsamen Bundesausschuss trotz Erfüllung der notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht
zeitgerecht durchgeführt wurde. In solchen Fällen ist die in §
135 Abs.
1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtswidrig unterblieben. Deshalb muss die Möglichkeit bestehen, das Anwendungsverbot
erforderlichenfalls auf andere Weise zu überwinden Ein - vom Gesetz vorgesehener - Prüfantrag für das streitgegenständliche
Rezepturarzneimittel beim Gemeinsamen Bundesausschuss nicht gestellt worden. Anhaltspunkte dafür, dass sich die antragsberechtigten
Stellen oder der Gemeinsame Bundesausschuss aus sachfremden oder willkürlichen Erwägungen mit der Materie nicht oder zögerlich
befasst haben, hat der Kläger nicht vorgetragen. Sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Ausweislich der vom SG eingeholten Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses befindet sich der Einsatz des streitgegenständlichen Arzneimittels
noch im Erprobungsstadium. Dies hat auch der Kläger selbst nicht bezweifelt. Vielmehr bestätigt der von ihm überreichte Aufsatz
von Dr. Koch in der Österreichischen Apothekenzeitung diese Ansicht. Der Autor fasst darin seine Ergebnisse wie folgt zusammen:
"Positive Erfahrungen liegen für 3,4 Aminopyridin bei der Behandlung des Lambert-Eaton-Syndroms und für 4-Aminopyridin bei
der Behandlung der Multiplen Sklerose vor. Obwohl die entsprechenden Cochrane-Meta-Analysen diese Indikationen zurückhaltend
beurteilen, kann ein individueller Heilversuch eine Hilfe für den Patienten bedeuten. In Bezug auf die Behandlung von Rückenmarksverletzungen
oder des Downbeat-Nystagmus gibt es ebenfalls günstige Beobachtungen, wobei eine endgültige Bewertung auf der Basis der bisherigen
Studien nicht möglich ist." Diese Ausführungen hat Prof. Dr. P1 in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 27.08.2008 bestätigt.
Zur Wirkungsweise des Medikaments hat er angegeben, dass damit Effekte auf besondere Ionenkanäle an entmarkten Nervenverbindungen
erzielt werden sollen. Bisher gebe es keine Hinweise darauf, dass die Substanz das Fortschreiten der behandelten Krankheiten
verhindern könnte. Es seien jeweils nur kurz dauernde funktionelle Verbesserungen beschrieben worden, die für die Patienten
aber im Alltag relevant sein könnten. Es sei somit prinzipiell nicht davon auszugehen, dass der Krankheitsverlauf durch die
Einnahme von 4-Aminopyridin wesentlich zu beeinflussen sei. Seit längerer Zeit biete das Universitätsklinikum D. diese Substanz
nur noch sehr selten an, z. B bei der Kleinhirnfunktionsstörung der "Episodischen Ataxie Typ 2". Systematische Untersuchungen
erfolgten an seiner Klinik nicht. Ausweislich des Berichts von Prof. Dr. P1 ist dem Kläger 4-Aminopyridin auch nur im Rahmen
eines Therapieversuchs angeboten worden.
Damit fehlt der streitgegenständlichen Substanz nach wie vor die wissenschaftliche Anerkennung. In einem solchen Fall ist
in Würdigung der gesetzlichen Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der Leistungen (vgl. §
2 Abs.
3 SGB V) kein Raum für die Annahme, es liege ein Systemversagen vor.
4. Zu keinem anderem Ergebnis führt aufgrund des Beschlusses des BVerfG vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 = SozR 4 - 2500 §
27 Nr. 5) die verfassungskonforme Auslegung derjenigen Normen des
SGB V, die einem verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf Arzneimittelversorgung entgegenstehen (vgl. dazu BSG, Urteil vom
04.04.2006 - B 1 KR 7/05 R - SozR 4 - 2500 § 31 Nr. 4 Rn. 23 - Tomudex; Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - SozR 4-2500 § 31 Nr. 8 Rn. 16 - Mnesis). Die grundrechtsorientierte Auslegung, dass die generelle Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit
(§
12 Abs.
1 SGB V) eines Arzneimittels ausnahmsweise bejaht werden muss, obwohl es an sich von der Versorgung ausgeschlossen ist. Dafür müssen
drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25, 49 f. = SozR 4-2500 § 27 Nr. 5 Rn. 33 ff.).:
a) Es muss eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare
Erkrankung vorliegen (zur letztgenannten Variante BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - SozR 4-2500 § 31 Nr. 8 Rn. 16 f. - Mnesis), b) bezüglich dieser Krankheit darf eine allgemein anerkannte, medizinischem
Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stehen und c) bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten Behandlung
muss eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive
Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen.
Dadurch soll verfassungsrechtlich verhindert werden, dass die den Versicherten durch Gesetz eingeräumten Leistungsansprüche
in einer dem Zweck des Art.
2 GG zuwiderlaufenden Weise eingeschränkt werden. Allerdings begrenzt das Verfassungsrecht zugleich das Leistungsbegehren von
Versicherten selbst in Fällen regelmäßig tödlich verlaufender Erkrankungen. Denn die aufgrund des Art.
2 GG bestehenden Schutzpflichten sollen die Versicherten auch in solchen Fällen davor bewahren, auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung
mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden, wenn auf diese Weise eine naheliegende, medizinischem Standard entsprechende
Behandlung nicht wahrgenommen wird. Erst wenn feststeht, dass derartige, dem allgemeinen Standard entsprechende Behandlungsmethoden
nicht existieren oder im konkreten Fall nicht anwendbar sind, weil der Versicherte diese nachgewiesenermaßen nicht verträgt,
ist der vom BVerfG geforderte Bereich einer weiten, verfassungskonformen Auslegung der Vorschriften des
SGB V eröffnet, in welchem auf den exakten wissenschaftlichen Nachweis des Nutzens und der Wirtschaftlichkeit einer bestimmten
Behandlungsmethode verzichtet werden darf und stattdessen ein der notstandsähnlichen Situation angemessener geringerer Wahrscheinlichkeitsmaßstab
heranzuziehen ist. Die demnach anzuwendende Methode muss jedoch im Allgemeinen wie auch im konkret zu beurteilenden Fall überwiegend
positive Wirkungen haben und es muss feststehen, dass sie mehr nützt als schadet (BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R - BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 12, jeweils Rn. 22 - LITT).
Speziell bei der Behandlung mit dafür nicht zugelassenen Arzneimitteln müssen folgende weitere Voraussetzungen erfüllt sein
(BSG, Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 4; jeweils Rn. 27 - Tomudex): - Es darf kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen, - unter
Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes muss bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten
als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche
Nutzen überwiegen, - die - in erster Linie fachärztliche - Behandlung muss auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst
entsprechend durchgeführt und ausreichend dokumentiert werden.
Zusätzlich muss - im Sinne einer allgemeinen Voraussetzung - sichergestellt sein, dass der Versicherte nach der erforderlichen
ärztlichen Aufklärung ausdrücklich in die beabsichtigte Behandlung eingewilligt hat (BSG, Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 4, jeweils Rn. 28 - Tomudex).
Im Falle des Klägers besteht keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung.
Nach den Ausführungen von Prof. Dr. P1 im Befundbericht vom 11.11.2007 besteht beim Kläger eine dauerhafte, die Lebensqualität
des Klägers nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Dass diese Erkrankung mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich
verlaufenden Erkrankung vergleichbar sei, vermochte Prof. Dr. P1 jedoch nicht festzustellen. Er hat dargelegt, dass die Beantwortung
dieser Frage schwierig sei und ein erhöhtes Risiko für möglicherweise lebensbedrohliche Infektionen aufgrund der ausgeprägten
Lähmungen angenommen. Zu der gutachtlichen Stellungnahme vom 27.08.2008 hat er auf diese Ausführungen verwiesen. Damit steht
zur Überzeugung des Senats fest, dass die Erkrankung des Klägers zwar unbekannter Genese und sehr schwerwiegend ist, aber
von dieser, eben weil sie unbekannter Genese ist und einen damit unbekannten Verlauf hat, nicht gesagt werden kann, dass sie
lebensbedrohlich ist oder regelmäßig einen tödlichen Verlauf nimmt, sondern nur gesichert ist dass, ein solches Risiko nur
besteht, sofern lebensbedrohliche Infektionen auftreten.
Der Senat hat ferner in Betracht gezogen, die Tetraparese mit einem nicht-kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans
oder einer herausgehobenen Körperfunktion gleichzustellen, da der Kläger nach dem Befundbericht von Dr. R1 vom 19.12.2007
nur noch seinen rechten Arm zeitweise zu bewegen vermag.
Es spricht viel dafür, eine derart ausgeprägte Tetraparese wie beim Kläger als einen wertungsmäßig mit einer lebensbedrohlichen
Erkrankung vergleichbaren Zustand anzusehen. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben. Denn selbst wenn man hiervon ausgeht,
vermag das streitgegenständliche Arzneimittel die progrediente Entwicklung der mit ihr behandelten Erkrankungen nicht aufzuhalten.
Es hat allenfalls sehr kurzfristige funktionelle Effekte. Damit ist eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
zu verneinen.
Nach der Rechtssprechung des BSG ist mit dem Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig
tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa
mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des off-label-use formuliert ist. Denn hieran knüpfen
weitergehende Folgen. Ohne einschränkende Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten.
Entscheidend ist, dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, da nahezu jede schwere
Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann aber
ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des
SGB V und die dazu bestehenden untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche
der Versicherten anzusehen. Deshalb hat das BSG bei einer Entscheidung darüber, ob im Rahmen verfassungskonforme Auslegungen
der Einzelimport eines in Deutschland überhaupt nicht zugelassenen Mittels nach § 73 AMG zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung möglich ist, in die Beurteilung einbezogen, ob sich die Gefahr eines tödlichen
Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu konkretisieren droht und
eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik gefordert (vgl.
zum Ganzen BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - SozR 4-2500 § 31 Nr. 8 Rn. 16 ff. Mnesis). Es hat Ähnliches für den ggf. gleich zu stellenden, nicht kompensierbaren Verlust
eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion erwogen. Von einer zwar durchaus schwerwiegenden, aber
nicht eine notstandsähnliche Situation begründenden Krankheit ist das BSG etwa bei einer Myopathie ausgegangen, die zu belastungsabhängigen,
muskelkaterähnlichen Schmerzen, schmerzhaften Muskelversteifungen und sehr selten zu einem Untergang von Muskelgewebe führt
(BSG, Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 12/04 R - SozR 4 - 2500 § 27 Nr. 7 Rn. 31 f. - D-Ribose). Auch ein in schwerwiegender Form bestehendes Restless-Legs-Syndrom mit
ganz massiven Schlafstörungen und daraus resultierenden erheblichen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen hat das
BSG zwar als eine schwerwiegende, nicht aber als eine Krankheit angesehen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig
tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden kann (Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 14/06 R - SozR 4-2500 § 31 Nr. 6 Rn. 11 und 18 - Cabaseril). In diesem Zusammenhang hat das BSG darauf hingewiesen, dass selbst hochgradige
akute Suizidgefahr bei Versicherten grundsätzlich nicht bewirkt, dass sie Leistungen außerhalb des Katalogs der gesetzlichen
Krankenversicherung beanspruchen können, sondern nur spezifische Behandlung etwa mit dem Mittel der Psychiatrie. Auch ein
Prostatakarzinom im Anfangsstadium ohne metastatische Absiedelungen hat das BSG nicht als ausreichend angesehen, um eine verfassungskonforme
Leistungsausweitung zu rechtfertigen (vgl. Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 12/05 R - SozR 4 - 2500 § 27 Nr. 8 Rn. 36 - interstitielle Brachytherapie).
Es fehlt mithin zumindest an der dritten Voraussetzung im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG. Nach den Ausführungen von Prof.
Dr. P1 besteht bei der Behandlung des Klägers mit dem streitgegenständlichen Arzneimittel weder eine Aussicht auf Heilung,
noch ist überhaupt bisher eine dauerhafte positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf zu verzeichnen. Die anspruchsbegründende
notstandsähnliche Situation rechtfertigt eine Leistungsgewährung bei einer progredienten Erkrankung aber nur dann, wenn die
Möglichkeit besteht, durch eine frühzeitige, aber noch nicht wissenschaftlich gesicherte Behandlung den Verlauf zu stoppen
oder zu verlangsamen. Die Möglichkeit, durch die Einnahme des Rezepturarzneimittels lediglich aktuell und nur vorübergehend
die Lebensqualität in einem sehr eingeschränkten Bereich zu erhöhen, genügt nicht, um eine notstandsähnliche Situation anzunehmen.
Der Zeitablauf allein rechtfertigt nicht den Notstand, sondern nur eine Situation, die jetzt noch, aber nicht mehr zukünftig
dauerhaft beeinflussbar ist. Damit kann auch nicht festgestellt werden, dass in Abwägung der Chancen und Risiken der Nutzen
des streitgegenständlichen Medikaments überwiegt.
Die Zuordnung des Klägers zur Pflegestufe II und der bestehende Grad der Behinderung von 80 führten zu keiner anderen Bewertung,
da es darauf nach den dargestellten gesetzlichen Voraussetzungen, die an die Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln
zu stellen sind, nicht ankommt.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf 193 Abs.
1 SGG, die Nichtzulassung der Revision folgt aus §
160 Abs.
2 SGG.