Unzulässigkeit der Beschwerde gegen die Ablehnung einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die Aufrechnung einer Forderung
aus rückständigen Pflichtbeiträgen mit einer laufenden Rente wegen Erwerbsminderung
Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs im Hinblick auf den Nachweis von Hilfebedürftigkeit
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Aufrechnung einer Forderung der Antragsgegnerin
aus rückständigen Pflichtbeiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung mit seiner laufenden Rente wegen Erwerbsminderung und
begehrt die Aussetzung der Vollziehung.
Der 1965 geborene Antragsteller bezieht seit dem 1. Februar 2010 von der Antragsgegnerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung
auf Dauer (Bescheid vom 2. Oktober 2012). Nachdem die Antragsgegnerin seit 1. November 2012 davon ausging, dass der Antragsteller
nicht gesetzlich krankenversichert sei, teilte seine Krankenkasse, die AOK C., mit Schreiben vom 10. Mai 2017 der Antragsgegnerin
mit, dass seit dem 1. November 2012 bis laufend für den Antragsteller eine Pflichtversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung
bestehe.
Nach Anhörung des Antragstellers setzte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 13. Oktober 2017 für die Zeit vom 1. Januar 2013
bis 30. Juni 2017 rückständige Pflichtbeiträge zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR) i.H.v. 4.278,02 € und für denselben
Zeitraum Pflichtbeiträge zur sozialen Pflegeversicherung (PVdR) i.H.v. 1.161,72 €, insgesamt 5.439,74 €, fest, die nachträglich
von der laufenden Rente des Antragstellers einzubehalten seien. Zudem teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass
von seiner laufenden Rente ab dem 1. Juli 2017 monatlich 457,07 € einbehalten würden, so dass laufend noch ein Betrag von
457,07 € zur Auszahlung komme. Die angekündigte Einbehaltung führte die Antragsgegnerin ab dem 1. März 2018 durch. Von der
laufenden Rente behielt sie ab dem 1. Juli 2017 monatlich die laufenden Pflichtbeiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung
ein.
Die Antragsgegnerin erklärte sich in einem vor dem seinerzeit örtlich zuständigen Sozialgericht Koblenz geführten Verfahren
des einstweiligen Rechtsschutzes (S 16 R 197/18 ER) nach gerichtlichem Hinweis, dass es an einer nachweislichen Bekanntgabe des Bescheides vom 13. Oktober 2017 fehle, bereit,
dem Antragsteller die Rente wegen voller Erwerbsminderung wieder in voller Höhe auszuzahlen. Mit Beschluss vom 30. Mai 2018
lehnte das Sozialgericht Koblenz die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Wesentlichen aufgrund des weggefallenen Rechtsschutzbedürfnisses
daraufhin ab. Mit Bescheid vom 27. Juni 2018 hob die Antragsgegnerin dementsprechend den bisherigen Bescheid hinsichtlich
der Rentenhöhe mit Wirkung ab dem 1. März 2018 auf und berechnete die Rente wegen voller Erwerbsminderung ab diesem Zeitpunkt
neu. Der monatliche Auszahlungsbetrag belief sich nach Abzug der Beitragsanteile zur Kranken- und Pflegeversicherung auf 945,71
€. Für die Zeit vom 1. März 2018 bis zum 30. Juni 2018 zahlte die Antragsgegnerin dem Antragsteller 1.832,36 € nach.
Neben dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erhob der Antragsteller beim Sozialgericht Koblenz am 10. April 2018
Klage (S 16 R 196/18), die das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 28. Februar 2020 abwies. Ob über die hiergegen eingelegte Berufung zum Landessozialgericht
Rheinland-Pfalz (L 4 R 79/20) zwischenzeitlich entschieden worden ist, ist nicht bekannt.
Zuletzt mit Bescheid vom 23. Juli 2018 setzte die Antragsgegnerin die Beiträge des Antragstellers zur Kranken- und Pflegeversicherung
– nun für den Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis 30. Juni 2017 – in Höhe von insgesamt 4.292,14 € (3.363,14 € Pflichtbeiträge
zur Krankenversicherung der Rentner, 933,00 € Pflichtbeiträge zur sozialen Pflegeversicherung) fest und stellte fest, dass
diese nachträglich einzubehalten seien. Zudem teilte sie dem Antragsteller mit, dass sie zur Tilgung der Gesamtforderung ab
1. August 2018 monatlich 472,85 € von der laufenden Rentenzahlung einbehalte, so dass an den Antragsteller nur noch 472,86
€ ausbezahlt würden. Die Eigenanteile des Antragstellers zur Kranken- und Pflegeversicherung stellte sie der Höhe und für
die einzelnen Zeiträume tabellarisch dar. Sie sei zur Einbehaltung der Beitragsanteile des Antragstellers aus der weiterhin
zu zahlenden Rente gesetzlich verpflichtet. Die Nachforderung von Beiträgen für Zeiten vor dem 1. Januar 2014 erfolge aufgrund
der Verjährung der Ansprüche nicht. Unter Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens mache sie im Interesse der Versichertengemeinschaft
von der möglichen Aufrechnung in zulässigem Umfang Gebrauch. Insbesondere habe der Antragsteller nicht nachgewiesen, dass
er durch die Aufrechnung hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölftes Gesetzbuches des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) werde. Der Bescheid wurde dem Antragsteller mit Postzustellungsurkunde am 26. Juli 2018 zugestellt. Mit Widerspruchsbescheid
vom 4. Juni 2019 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23. Juli 2018 zurück.
Mit Schreiben vom 6. Januar 2020 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass sie ab dem 1. März 2020 die Aufrechnung,
wie im Bescheid vom 23. Juli 2018 angekündigt, durchführen werde.
Mit Schreiben vom 9. Januar 2020 beantragte der Antragsteller erneut bei dem örtlich zuständigen Sozialgericht Koblenz (S
16 R 20/20 ER) die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Mit Beschluss vom 10. März 2020 lehnte das Sozialgericht den Antrag ab. Es
führte insbesondere aus, dass der Bescheid vom 23. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2019 bestandskräftig
geworden sei. Von einer Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides sei nach § 37 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) mangels anderweitiger Anhaltspunkte auszugehen. Eine Klage sei nicht erhoben worden. Daher könne eine aufschiebende Wirkung
nicht angeordnet werden. Mit Beschluss vom 29. April 2020 änderte das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (L 4 R 78/20 B ER) in dem von dem Antragsteller angestrengten Beschwerdeverfahren den Beschluss des Sozialgerichts vom 10. März 2020 ab
und stellte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 23. Juli 2018 fest. Der Nachweis eines Zugangs
des Widerspruchbescheides vom 4. Juni 2019 habe nicht geführt werden können, so dass das Widerspruchsverfahren noch nicht
abgeschlossen sei. Das Begehren des Antragstellers sei im Kern auf die Auszahlung ungekürzter Rentenleistungen gerichtet.
Dies sei als Begehren der Feststellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs auszulegen. Während des laufenden Beschwerdeverfahrens
erklärte sich die Antragsgegnerin bereit, bis zum Nachweis der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2019 keine
Beträge zur Tilgung der Forderung der rückständigen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge von der Rente des Antragstellers
einzubehalten. Weiterhin erklärte sie sich bereit, von der laufenden Rente des Antragstellers nur einen Betrag von 213,00
€ anstatt von 472,85 € zur Tilgung einzubehalten.
Am 6. Juni 2020 übersandte die Antragsgegnerin den Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2019 erneut mit Einschreiben gegen Rückschein
an den Antragsteller, der den Empfang am 12. Juni 2020 bestätigte.
Nachdem der Antragsteller der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 8. Juni 2020, eingegangen am 9. Juni 2020, mitgeteilt hatte,
dass er nun unter der Anschrift A-Straße in A-Stadt/Hessen wohnhaft sei, hat er gegen den Widerspruchsbescheid vom 4. Juni
2019 am 1. Juli 2020 Klage (S 6 R 210/20) bei dem Sozialgericht Gießen und Klage bei dem Sozialgericht Koblenz Klage (S 11 R 336/20) erhoben. Das Sozialgericht Koblenz verwies das Klageverfahren mit Beschluss vom 17. August 2020 an das örtlich zuständige
Sozialgericht Gießen (S 6 R 282/20).
Überdies hat der Antragsteller unter Verweis auf den Beschluss des LSG Rheinland-Pfalz L 4 R 78/20 B ER ebenfalls am 1. Juli 2020 bei dem Sozialgericht Gießen erneut die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ( ) beantragt.
Begründend hat er insbesondere ausgeführt, dass ihm ein Nachforderungsbescheid der AOK C. nicht zugegangen sei. Die AOK habe
keine Forderung gegenüber ihm geltend gemacht. Im Übrigen seien die Bescheide der Antragsgegnerin nicht formgerecht bekannt
gegeben worden. Die Bekanntgabe müsse per E-Mail erfolgen. Dies ergebe sich aus einem gerichtlichen Vergleich, den er mit
der AOK C. am 13. Februar 2014 vor dem Sozialgericht Detmold in dem Verfahren S 24 KR 13/14 ER geschlossen habe. Wenn die Antragsgegnerin ihm gegenüber eine Forderung der AOK geltend machen wolle, würden auch für
sie die Vereinbarungen des Vergleichs gelten. Darüber hinaus greife zu seinen Gunsten Vertrauensschutz ein. Ihn treffe kein
Verschulden an der Überzahlung. Er habe keinen Einfluss auf die Rentenhöhe und es sei ihm keine Zahlungshöhe aufgefallen,
die ihn misstrauisch gemacht hätte. Er habe die Überzahlungen überdies verbraucht.
Mit Bescheid vom 22. Juli 2020 hat die Antragsgegnerin die Rente wegen voller Erwerbsminderung des Antragstellers ab 1. August
2020 neu berechnet. Vom Nettozahlbetrag von 1.008,92 € zahlt die Antragsgegnerin unter Verweis auf den Bescheid vom 23. Juli
2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2019 unter Einbehalt von monatlich 213,00 € nun noch 795,92 € an den
Antragsteller aus.
Mit Beschluss vom 30. September 2020 lehnte das Sozialgericht die Gewährung einstweiligen Rechtschutzes ab. Der Antrag des
Antragstellers sei auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage in der Hauptsache gerichtet. Die Klage habe nach
summarischer Prüfung keine Aussicht auf Erfolg. Zwischenzeitlich sei der Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2019 dem Antragsteller
bekannt gegeben worden. Die Aufrechnungsvoraussetzungen lägen vor. Insbesondere habe der Antragsteller trotz Aufforderung
keinen Nachweis über eine bei ihm bei Durchführung der Aufrechnung eintretende Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII erbracht. Ein Auszahlungsbetrag i.H.v. 795,92 € lasse keine Hilfebedürftigkeit erkennen. Zudem sei die gesetzliche Anordnung
des §
86a Abs.
2 Nr.
1 SGG zu beachten, wonach die aufschiebende Wirkung im vorliegenden Fall entfalle.
Gegen den am 5. Oktober 2020 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 13. Oktober 2020 (Eingang beim Sozialgericht
Gießen) Beschwerde zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt, mit dem er sein Begehren weiterverfolgt und insbesondere
erneut auf die mangelnde Beachtung des zu seinen Gunsten zu beachtenden Vertrauensschutzes hinweist.
Der Antragsteller beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 30. September 2020 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klagen S 6 R 210/20 und S 6 R 282/20 sowie die Aufhebung der Vollziehung anzuordnen, soweit die Antragsgegnerin ab August 2020 einen Betrag in Höhe von 213,00
€ einbehält.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde des Antragstellers zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens, die Gerichtsakten des Sozialgerichts
Gießen S 6 R 210/20 und S 6 R 282/20 sowie auf die Verwaltungsakten der Antragsgegnerin über den Antragsteller (Band I-III) Bezug genommen.
II.
Die gemäß §
172, §
173 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg. Das Sozialgericht hat es zu Recht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung
der am 1. Juli 2020 bei dem Sozialgericht Gießen erhobenen Klage S 6 R 210/20 bzw. der verwiesenen Klage S 6 R 282/20 anzuordnen, mit denen sich der Antragsteller sinngemäß jeweils gegen den Bescheid vom 23. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 4. Juni 2019 wendet. Zudem war auch nicht die Vollziehung des Bescheides vom 22. Juli 2020 auszusetzen.
Es kann dahinstehen, ob der Antragsteller gesondert Widerspruch gegen den die Aufrechnung umsetzenden Bescheid vom 22. Juli
2020 erhoben hat. Wäre dies nicht der Fall, würde bereits die eingetretene Bestandskraft der Anordnung der aufschiebenden
Wirkung der aktuellen Einbehaltung entgegenstehen, denn der Bescheid stellt einen eigenständigen Verwaltungsakt (§ 31 SGB X) dar, denn er enthält jedenfalls die Regelung, dass dem Antragsteller ab 1. August 2020 nur noch ein Zahlbetrag i.H.v. 795,92
€ ausgezahlt wird. Jedoch kommt es vorliegend hierauf nicht an, da bereits im Hinblick auf den Bescheid vom 23. Juli 2018
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2019, der dem Antragsteller ausweislich des Rückscheins jedenfalls am 12.
Juni 2020 bekannt gegeben worden ist und der die Aufrechnung an sich regelt, die aufschiebende Wirkung nicht anzuordnen ist.
Rechtlicher Maßstab für die Beurteilung des vorliegenden Antrages ist §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG. Gemäß §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung
haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ebenso kann es, wenn der angegriffene Verwaltungsakt bereits
vollzogen ist, die Aufhebung der Vollziehung anordnen (§
86b Abs.
1 Satz 2
SGG).
Widerspruch und Klage haben nach §
86a Abs.
1 Satz 1
SGG grundsätzlich aufschiebende Wirkung, die allerdings unter anderem bei Verwaltungsakten über Versicherungs-, Beitrags- und
Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf
entfallenden Nebenkosten entfällt (§
86a Abs.
2 Nr.
1 SGG). Die Aufrechnung der Forderung der Antragsgegnerin aus rückständigen Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung
für den Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis 30. Juni 2017 i.H.v. insgesamt 4.292,14 € gegen die dem Antragsteller zuerkannte Erwerbsminderungsrente
unterfällt der Anforderung von Beiträgen im Sinne dieser Vorschrift. Denn der Begriff „Anforderung“ erfasst nicht nur die
Geltendmachung einer Geldforderung, sondern alle Verwaltungsakte, die zur Realisierung des behördlichen Anspruchs auf öffentliche
Abgaben ergehen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
86a Rdnr. 13a; Wahrendorf, in: BeckOKG, Hrsg. Roos/Wahrendorf,
SGG, Stand: 1. September 2019, § 86a Rdnr. 43). Hierzu zählt auch die Aufrechnung gemäß §
51 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (
SGB I) (vgl. LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14. Februar 2011, L 5 R 17/11 B ER; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29. April 2019, L 5 R 429/18 B ER; Beschluss vom 26. August 2019, L 5 R 110/19 B ER).
Ob die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG anzuordnen ist, hat das Gericht nach Ermessen auf der Grundlage einer Interessenabwägung zu entscheiden. Abzuwägen sind dabei
das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens
verschont zu bleiben, und das öffentliche Interesse an der Vollziehung der behördlichen Entscheidung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
86a Rdnr. 12e ff.). Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache eine
wesentliche Bedeutung zu: Ist der angefochtene Bescheid ersichtlich rechtmäßig, kommt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung
nicht in Betracht; andererseits ist die aufschiebende Wirkung dann auszusprechen, wenn der angefochtene Bescheid ersichtlich
rechtswidrig ist oder zumindest ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen und der Betroffene dadurch in seinen
subjektiven Rechten verletzt wird. In diesem Fall ist ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes
nicht erkennbar. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage
im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Interesse
bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Vorrang einzuräumen ist. Dabei darf in die Abwägung einfließen, dass der Gesetzgeber
für den Regelfall die sofortige Vollziehbarkeit vorgesehen hat, solange das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers unter
Beachtung seiner Rechte aus Art.
19 Abs.
4 Satz 1
Grundgesetz (
GG) berücksichtigt bleibt, insbesondere mit einer sofortigen Vollziehung keine schwere, unzumutbare Härte für ihn verbunden
ist. Im Übrigen gilt der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten, umso geringere Anforderungen sind an das Aussetzungsinteresse
zu stellen (vgl. Keller, a.a.O., § 86b Rdnr. 12e).
Ausgehend hiervon ist die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen den Bescheid vom 23. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 4. Juni 2019 gemäß §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG nicht anzuordnen, da das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt.
Die Klage S 6 R 282/20 kann bereits keinen Erfolg haben, weil sie aufgrund doppelter Rechtshängigkeit unzulässig ist (§
202 Satz 1
SGG i.Vm. §
17 Abs.
1 Satz 2
Gerichtsverfassungsgesetz [GVG]; vgl. B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
94 Rdnr. 7).
Auch die Klage S 6 R 210/20 hat keine Erfolgsaussicht, weil der angegriffene Bescheid nach summarischer Prüfung rechtmäßig ist.
Die Voraussetzungen für eine Aufrechnung nach §
51 Abs.
2 SGB I sind erfüllt.
Gemäß §
51 Abs.
2 SGB I kann der zuständige Leistungsträger mit Ansprüchen auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Geldleistungen und mit Beitragsansprüchen
nach diesem Gesetzbuch gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte
nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des SGB XII über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II wird. Dies gilt entsprechend für den Einbehalt rückständiger Beiträge bzw. Beitragsanteile durch den Träger der Rentenversicherung
aus der weiterhin zu zahlenden Rente, wenn bei der Zahlung der Rente die Einbehaltung von Beiträgen nach §
255 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (
SGB V) unterblieben ist (§
255 Abs.
2 Satz 1, 2. Halbs.
SGB V). Diese gesetzlichen Regelungen gelten über §
60 Abs.
1 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch (
SGB XI) auch für die Beiträge bzw. den Beitragsanteil zur sozialen Pflegeversicherung.
Die Voraussetzungen des §
51 Abs.
2 SGB I sind vorliegend erfüllt. Gegen die Aufrechnungserklärung der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 23. Juli 2018 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2019 bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Die Antragsgegnerin war insbesondere berechtigt,
die Aufrechnung in Form eines Verwaltungsaktes nach § 31 Satz 1 SGB X nach durchgeführter Anhörung zu verfügen (vgl. BSG, Urteil vom 31. Mai 2016, B 1 KR 38/15 R; BSG, Urteil vom 7. Februar 2012, B 13 R 85/09 R).
Hinsichtlich der Einbehaltung der rückständigen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ist im Übrigen auch eine Aufrechnungslage
gegeben. Denn die Forderung der Antragsgegnerin ist nach summarischer Prüfung entstanden und fällig. Nach §
255 Abs.
1 Satz 1
SGB V sind Beiträge, die Versicherungspflichtige aus ihrer Rente nach §
228 Abs.
1 Satz
SGB V zu tragen haben, von den Trägern der Rentenversicherung bei der Zahlung der Rente einzubehalten und zusammen mit den von
den Trägern der Rentenversicherung zu tragenden Beiträgen an die Deutsche Rentenversicherung Bund für die Krankenkassen zu
zahlen. Nach § 255 Abs. 2 Satz 1 SGB Vsind rückständige Beiträge durch den Träger der Rentenversicherung aus der weiterhin
zu zahlenden Rente einzubehalten. Die Antragsgegnerin ist für die Einbehaltung und für die Feststellung der Beitragspflicht,
der Beitragshöhe und der Beitragstragung sachlich zuständig (vgl. BSG, Urteil vom 31. März 2017, B 12 R 6 /14 R, juris Rdnr. 29, m.w.N.; Peters in jurisPK-
SGB V, 4. Aufl. 2020, §
255, Rdnr. 45 unter Verweis auf Rdnr. 39-40), so dass es keiner Festsetzung der Beiträge durch die Krankenkasse des Antragstellers
bedurfte. Die Bekanntgabe der maßgeblichen Bescheide i.S.v. § 37 SGB X ist zwischenzeitlich nachweislich erfolgt. Auch verdrängt die spezielle Regelung des §
255 Abs.
2 Satz 1
SGB V die allgemeinen Aufhebungs- und Erstattungsvorschriften der §§ 44 ff. SGB X. Die Nacherhebung von Beiträgen unterliegt daher nicht den Einschränkungen der §§ 45, 48 SGB X für die Rücknahme oder eine Änderung von Rentenbescheiden. Die beitragspflichtigen Rentner können sich gegen die nachträgliche
Einbehaltung der Beiträge daher nicht unter Berufung auf ein schutzwürdiges Vertrauen wehren (vgl. BSG, Urteil vom 23. Mai 1989, 12 RK 66/87, juris Rdnr. 22; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14. April 2005, L 7 R 952/04, juris). Auf die Frage, ob den Versicherten oder den Rentenversicherungsträger hinsichtlich der nachträglichen Erhebung der
Beiträge ein Verschulden trifft, kommt es nicht an (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. November 2017, L 1 R 484/15, juris Rdnr. 30, m.w.N.). Die Antragsgegnerin hat überdies die Vorschriften über die Verjährung von Beiträgen (§ 25 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Viertes Buch [SGB IV]) beachtet und lediglich Beiträge ab 1. Januar 2014 festgestellt. Anhaltspunkte für
eine Verwirkung sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Im Übrigen hat der Antragsteller auch keine Einwendung gegen die
Berechnung und die Höhe der Beitragszahlungen vorgebracht. Der Forderung der Antragsgegnerin steht überdies eine gleichartige
Forderung des Antragstellers, gegen die aufgerechnet wird (Hauptforderung), gegenüber. Der Anspruch auf Rente wegen voller
Erwerbsminderung auf Dauer ist zwar nicht insgesamt fällig, aber bereits entstanden und in monatlich zu erfüllenden Einzelansprüchen
zu erbringen.
Der Antragsteller hat zudem nicht glaubhaft gemacht, dass eine Aufrechnung - weder in Höhe der Hälfte der Rente, wie ursprünglich
verfügt, noch durch die zuletzt mit Bescheid vom 22. Juli 2020 vorgenommene monatliche Verrechnung i.H.v. 213,00 € - seine
Hilfebedürftigkeit im Sinne von §
51 Abs.
2 SGB I zur Folge hat.
Der von §
51 Abs.
2 SGB I geforderte Nachweis der Hilfebedürftigkeit ist durch den Leistungsberechtigten zu erbringen. Den Leistungsberechtigten trifft
eine Obliegenheit im Sinne einer verstärkten Mitwirkungspflicht (vgl. Siefert, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht,
111. EL September 2020, §
51 SGB I, Rdnr. 19). Die schlichte Erklärung des Leistungsberechtigten über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse ist dabei
für die Beweisführung grundsätzlich nicht ausreichend (Urteil des Senats vom 27. Januar 2012, L 5 R 40/11). Der Nachweis über den Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit kann im Rahmen des §
51 SGB I in der Regel ohne großen Aufwand durch eine Bedarfsbescheinigung des örtlich für diese Leistung zuständigen Trägers geführt
werden (vgl. Hessisches Landesozialgericht, Urteil vom 8. April 2014, unter Bezugnahme auf den Beschluss des Senats vom 31.
März 2011, L 5 R 95/11 B).
Der Antragteller hat trotz wiederholter Aufforderung weder eine Bedarfsbescheinigung des zuständigen Grundsicherungsträgers
beigebracht, noch hat er sonstige Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen gemacht, so dass es an der Glaubhaftmachung
einer eintretenden Hilfebedürftigkeit im Fall der Aufrechnung fehlt.
Schließlich hat die Antragsgegnerin im Übrigen auch in hinreichendem Umfang das ihr zustehende und im Rahmen von §
51 Abs.
2 SGB I grundsätzlich auch auszuübende Ermessen betätigt. Für eine fehlerfreie Ermessensentscheidung ist es gemäß §
39 Abs.
1 Satz 1
SGB I erforderlich, dass der Verwaltungsträger sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung (überhaupt) ausübt und dass
er dabei im Übrigen auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhält. Der gemäß §
39 Abs.
1 SGB I von der Ermessensentscheidung Betroffene hat einen korrespondierenden Anspruch auf die pflichtgemäße Ausübung fehlerfreien
Ermessens (§
39 Abs.
1 Satz 2
SGB I). Nur in diesem - eingeschränkten - Umfang unterliegt nach Maßgabe des §
54 Abs.
2 Satz 2
SGG die Ermessensentscheidung einer gerichtlichen Kontrolle. Rechtswidrig können Verwaltungsakte demnach nur in Fällen des Ermessensfehlgebrauchs
(entweder in Gestalt des Ermessensnichtgebrauchs oder in Gestalt der Ermessensüberschreitung) sein (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 1994, 4 RA 42/94). Die Frage, ob überhaupt eine Ermessensentscheidung ergangen ist und ob diese gegebenenfalls rechtmäßig war, beurteilt sich
dabei nach dem Inhalt des Aufrechnungsbescheides, insbesondere nach seiner Begründung. Diese muss erkennen lassen, dass eine
Ermessensentscheidung getroffen wurde, und sie muss darüber hinaus grundsätzlich auch diejenigen Gesichtspunkte aufzeigen,
von denen der Verwaltungsträger bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist.
Vorliegend hat die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 23. Juli 2018 eine diesen Grundsätzen entsprechende und damit hinreichende
Ermessensentscheidung getroffen. Ihre Erwägungen, die Interessen der Versichertengemeinschaft hätten Vorrang vor dem Interesse
des Antragstellers und es seien keine besonderen Umstände ersichtlich, welche die Interessen der Versichertengemeinschaft
zurücktreten ließen, begegnen im Sinne der gemäß §
54 Abs.
2 Satz 2
SGG eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung keinen durchgreifenden Bedenken. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Antragsgegnerin
zugunsten des Antragstellers den monatlichen Einbehaltungsbetrag mit Bescheid vom 22. Juli 2020 auf 213,00 € reduziert hat,
obwohl nach §
51 Abs.
2 SGB I grundsätzlich ein Aufrechnungsbetrag bis zur Hälfte der laufenden Geldleistung möglich gewesen wäre.
Da sich die Aufrechnung nach summarischer Prüfung als rechtmäßig erweist und eine aufschiebende Wirkung nicht anzuordnen ist,
kommt auch eine Aufhebung der Vollziehung gemäß §
86b Abs.
1 Satz 2
SGG nicht in Betracht.
Vor diesem Hintergrund war dem Antragsteller der begehrte einstweilige Rechtsschutz nicht zu gewähren.
Die Kostentscheidung ergibt sich aus einer analogen Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.