Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger die Frist für die Gewährung von Insolvenzgeld versäumt hat.
Der 1964 geborene Kläger war als geringfügig beschäftigter Lagerhelfer bei der Firma I Transporte GmbH beschäftigt, über deren
Vermögen am 16.05.2007 das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Der Beigeladene ist zum Insolvenzverwalter bestellt worden.
Der Kläger suchte im Juni 2007 mit einem Antrag auf Insolvenzgeld das Büro des Beigeladenen auf. Im gleichen Gebäude befindet
sich das Steuerbüro K, in dem der Zeuge H beschäftigt ist, der für den Beigeladenen im Rahmen des Insolvenzverfahrens tätig
ist. Der Zeuge begab sich von seinem Arbeitsplatz in das Büro des Beigeladenen, um dem Kläger bei der Ausfüllung des Antrags
behilflich zu sein. Der Kläger füllte den Antrag mit den Angaben zur Person und zur Kontoverbindung aus und unterschrieb den
Antrag. Der Zeuge H bot dem Kläger dann an, den Antrag an die Beklagte weiterzuleiten. Nach seiner Darstellung will er den
Antrag sofort per Fax an die Agentur für Arbeit in N übermittelt haben. Ein Sendeprotokoll liegt nicht vor; bei der genannten
Agentur ist auch kein Eingang festzustellen. Bei späterer Nachfrage der Kläger erhielt er von dem Zeugen H die Auskunft, es
sei alles in Ordnung.
Mit Schreiben vom 12.09.2007, bei der Beklagten eingegangen am 17.09.2007, übersandte der Beigeladene "den noch fehlenden
Insolvenzgeldantrag" des Klägers. Beigefügt war der vom Kläger ausgefüllte Insolvenzgeldantrag. Die Übersendung erfolgte nach
einem Telefonat eines Mitarbeiters der Beklagten mit dem Büro des Beigeladenen, bei dem mitgeteilt worden war, dort liege
ein vom Kläger ausgefüllter Antrag vor. Der Kläger hatte nach dem Vermerk zuvor bei der Beklagten nachgefragt und erfahren,
dass kein Insolvenzgeldantrag von ihm vorliege. Mit Schreiben vom 24.09.2007 teilte der Beigeladene der Beklagten mit, nach
der Erinnerung von Herrn H habe dieser gemeinsam mit dem Kläger den Insolvenzgeldantrag ausgefüllt. Er habe diesen Antrag
sofort per Fax der Beklagten zugesandt. Es erscheine durchaus denkbar, dass der per Fax übersandte Insolvenzgeldantrag möglicherweise
auch im Hause der Beklagten verloren gegangen sei. Dies sei allerdings nicht aufklärbar. In jedem Fall sei die eingetretene
Fristversäumung nicht vom Kläger zu vertreten.
Mit Bescheid vom 02.10.2010 lehnte die Beklagte den Antrag auf Insolvenzgeld wegen Versäumung der Antragsfrist ab. Vom Kläger
nicht zu vertretende Gründe, aus denen die Antragsfrist versäumt worden sei, seien nicht erkennbar. Er habe den Antrag auf
Insolvenzgeld beim Insolvenzverwalter abgegeben, für die Einhaltung der Ausschlussfrist sei jedoch der tatsächliche Eingang
bei der Arbeitsagentur maßgebend. Eine Antragstellung per Fax könne nicht bestätigt werden. Somit könne eine Nachfrist im
Sinne des §
324 Abs.
3 Satz 2
SGB III nicht eingeräumt werden.
Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, nach dem Schreiben des Beigeladenen vom 24.09.2007 sei die Ursache für die
verspätete Abgabe des Antrags im Organisationsablauf des Büros des Insolvenzverwalters zu suchen. Diesen Umstand müsse er
sich nicht zurechnen lassen. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.01.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Eingang
des Antrags beim Insolvenzverwalter reiche zur Fristwahrung nicht aus. Ebenso wenig könne die versäumte Ergänzung und Weiterleitung
des Antrags seitens des Insolvenzverwalters eine Nachfrist auslösen.
Zur Begründung der am 15.02.2008 erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, er habe Mitte Juni 2007 auf Veranlassung des
Insolvenzverwalters Herrn H beim Steuerbüro K aufgesucht. Mit diesem zusammen habe er den Antrag ausgefüllt, dieser sei dann
sofort per Fax an die Beklagte gesandt worden. Am 12.09.2007 habe er sich telefonisch bei der Beklagten erkundigt und nach
Erteilung der Auskunft, dass dort kein Antrag vorliege, sofort Rückfrage beim Insolvenzverwalter genommen. Daraufhin sei der
dort vorliegende Antrag umgehend an die Beklagte gesandt worden. Das Verhalten des Insolvenzverwalters habe er nicht vertreten,
da ihm nur das Verschulden eines rechtsgeschäftlich bestellten Vertreters zuzurechnen sei. Dazu zähle der Insolvenzverwalter
nicht. Ein eigenes Verschulden liege nicht vor. Der Insolvenzverwalter habe "vertragswidrig" die rechtzeitige Geltendmachung
versäumt, obwohl er sich zunächst gegenüber dem Kläger verpflichtet habe, für die rechtzeitige Antragstellung zu sorgen. Er
kenne sich mit Insolvenzverfahren nicht aus und habe darauf vertraut, dass Herr Günther den Antrag weiterleite. Er habe auch
später mehrfach beim Insolvenzverwalter nachgefragt und sei bei diesen Anrufen vertröstet worden.
Das Sozialgericht hat in der Sitzung am 05.07.2007 den Zeugen H vernommen. Dieser hat ausgesagt, er erinnere sich noch an
den Kläger. Dieser sei im Anwaltsbüro gewesen und er sei aus dem Steuerbüro herunter gekommen. Man habe dann den Antrag mit
den notwendigen Informationen wie Name, Anschrift und Bankverbindung ausgefüllt. Über eines der Faxgeräte im Anwaltsbüro sei
der Antrag an die Agentur in N gefaxt worden. Er habe die Nummer eingegeben und sei wieder in sein Büro gegangen, den Vorgang
habe er nicht weiter kontrolliert. Den Antrag habe er der von ihm geführten Akte des Klägers beigefügt.
Mit Urteil vom gleichen Tag hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat die Auffassung vertreten, der Antrag sei verspätet
gestellt worden. Eine Absendung per Fax belege nicht den Zugang, zumal noch nicht einmal anhand eines Absendeprotokolls überprüft
werden könne, ob tatsächlich eine Sendung erfolgt sei. Dem Kläger sei auch keine Nachfrist einzuräumen, da die nicht fristgemäße
Weiterleitung durch den Zeugen H dem Kläger zuzurechnen sei. Eine Zurechnung komme auch dann in Betracht, wenn der Arbeitnehmer
eine Person ausdrücklich mit der Vornahme einer fristwahrenden Handlung beauftragt habe. Eine andere Auslegung komme auch
unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH nicht in Betracht. Da §
324 Abs.
3 Satz 2
SGB III eine spezialgesetzliche Ausprägung des Instituts der Wiedereinsetzung darstelle, müsse dem Kläger entsprechend § 27 Abs. 1 SGB X jegliches Verschulden eines Vertreters im Sinne des § 13 SGB X zugerechnet werden. Auch die Beauftragung des Zeugen H mit der Vornahme der fristwahrenden Antragstellung sei dem Kläger
als Handlung eines Vertreters zuzurechnen.
Gegen das den früheren Bevollmächtigten am 13.08.2010 zugestellte Urteil haben die jetzigen Bevollmächtigten am 13.09.2010
für den Kläger ohne Vollmacht Berufung eingelegt. Die früheren Bevollmächtigten haben ihnen am 07.04.2011 (Unter-) Vollmacht
erteilt.
Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger vor, es fehle an einer Norm für die Zurechnung der Handlung des Zeugen H, wobei
es unerheblich sei, ob er diesen persönlich, den Steuerberater K oder den Insolvenzverwalter beauftragt habe. Soweit das Sozialgericht
auf die Rechtsprechung des BSG zur Zurechnung von Vertreterverschulden verweise, müsse unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH eine europarechtskonforme
Auslegung des §
324 Abs.
3 SGB III erfolgen. Die für die Zurechnung eines Verschuldens von bestellten Prozessbevollmächtigten geltenden Grundsätze seien nicht
auf jedwede Person, die der Arbeitnehmer in das Verfahren eingeschaltet habe, zu übertragen. Er habe auf die Rechtskunde des
Zeugen H vertrauen dürfen, der seit Jahren Insolvenzgeldbescheinigungen ausfülle und an die Beklagte vermittle. Ein eigenes
Verschulden sei zu verneinen, er habe keinerlei Anlass gehabt, daran zu zweifeln, dass der Antrag rechtzeitig gestellt worden
sei. Auf Nachfrage habe ihm der Zeuge erklärt, es sei alles in Ordnung. Ein eigenes Verschulden sei erst anzunehmen, wenn
der Arbeitnehmer aufgrund sonstiger Umstände nicht mehr habe davon ausgehen können, dass der Beauftragte alle gebotenen Handlungen
für die Wahrnehmung der von ihm übernommenen Insolvenzgeldantragstellung rechtzeitig vornehme.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.07.2010 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.10.2007
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2008 zu verurteilen, ihm Insolvenzgeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend, insbesondere ist sie der Auffassung, dass sich der Kläger das Verschulden
des Zeugen H zurechnen lassen müsse.
Im Berufungsverfahren sind im Erörterungstermin am 06.10.2011 der Zeuge H vernommen und der Kläger und der Beigeladene angehört
worden. Wegen ihrer Aussage wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der
Beklagten verwiesen, der Gegenstand der Entscheidung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
I. Die fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Zwar erfolgte die Einlegung der Berufung durch die jetzigen Bevollmächtigten
ausdrücklich als vollmachtlose Vertreter, jedoch haben die erstinstanzlichen Bevollmächtigten, die auch berechtigt waren,
Dritten Vollmacht zu erteilen, den jetzigen Bevollmächtigten Vollmacht erteilt, so dass die Berufungseinlegung rückwirkend
wirksam ist. Zudem ist von einer Genehmigung der Prozessführung durch den Kläger auszugehen, der im Erörterungstermin anwesend
war und sich nicht gegen die für ihn eingelegte Berufung gewendet hat.
II. Die Berufung ist auch begründet, denn das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid vom 02.10.2007
ist rechtswidrig, denn die Beklagte hat fehlerhaft die Gewährung von Insolvenzgeld wegen Versäumung der Antragsfrist abgelehnt.
1. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Insolvenzgeld nach §
183 Abs.
1 Satz 1
SGB III liegen vor: Der Kläger war im Inland beschäftigt und hatte nach der Entgeltbescheinigung des Beigeladenen bei Eröffnung des
Insolvenzverfahrens noch für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses Ansprüche auf Arbeitsentgelt.
2. Der Kläger hat zwar die Frist für die Stellung des Insolvenzgeldantrags versäumt (dazu a). Ihm muss jedoch eine Nachfrist
eingeräumt werden, da er unverschuldet die Frist versäumt hat (dazu b).
a) Ausgehend von einem Insolvenzereignis vom 16.05.2007 (Eröffnung des Insolvenzverfahrens) ist der Antrag auf Insolvenzgeld
außerhalb der Ausschlussfrist von 2 Monaten (§
324 Abs.
1 Satz 1
SGB III) gestellt worden. Der Antrag ist der Beklagten erst am 17.09.2007 zugegangen. Eine frühere Antragstellung lässt sich nicht
feststellen. Soweit der Zeuge H behauptet hat, er habe noch im Juni 2007 den vom Kläger gemeinsam mit ihm ausgefüllten Antrag
an die Dienststelle der Beklagten in Marsberg gefaxt, fehlt es hierfür an jeglichen Anhaltspunkten. Ein Eingang bei der Beklagten
ist nicht verzeichnet, ein Sendeprotokoll gibt es nicht. Der Kläger kann sich nicht daran erinnern, dass in seinem Beisein
die Übermittlung per Fax erfolgte. Gegen die Darstellung des Zeugen spricht auch, dass der Antrag vom Kläger nur unvollständig
ausgefüllt worden war. Vom Kläger mit blauer Farbe eingetragen waren lediglich Name und Kontoverbindung. Die mit schwarzer
Farbe vorgenommenen Eintragungen von Name und Anschrift des insolventen Arbeitgebers, dem Tag der Eröffnung des Insolvenzverfahrens
und zum Arbeitsverhältnis sind erst später vorgenommen worden (nach den Ausführungen im Widerspruchsbescheid zur Unvollständigkeit
des am 17.09.2007 eingegangenen Antrags offenbar erst später am 27.09.2007). Es ist daher unwahrscheinlich, dass ein in Bezug
auf Insolvenzgeld Sachkundiger wie der Zeuge H einen solch unvollständigen Antrag schon weitergeleitet hat. Ohne Angabe des
insolventen Arbeitgebers konnte die Beklagte den Antrag keinem Insolvenzfall zuordnen. Es spricht daher mehr dafür, dass der
Zeuge den Antrag nicht sofort übersandt hat, sondern diesen erst vervollständigen und dann weiterleiten wollte.
b) Nach §
324 Abs.
3 Satz2
SGB III ist dem Arbeitnehmer eine Nachfrist von zwei Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes einzuräumen, wenn er die Antragsfrist
aus Gründen versäumt hat, die er nicht zu vertreten hat. Zu vertreten hat nach Satz 3 der Arbeitnehmer die Versäumung der
Frist, wenn er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat.
aa) Ein eigenes Verschulden an der Versäumung der Frist ist dem Kläger nicht vorzuwerfen. Er hat das Büro des Beigeladenen
aufgesucht, um Hilfe bei der Ausfüllung des Antrags zu erlangen. Der Zeuge H hat ihm bei diesem Anlass ausdrücklich angeboten,
den Antrag an die Beklagte weiterzuleiten. Dem Kläger kann nicht vorgeworfen werden, dass er sich darauf eingelassen und nicht
selbst den Antrag an die Beklagte übermittelt hat. Er durfte den mit der Materie vertrauten Mitarbeiter des Insolvenzverwalters
als geeigneten und zuverlässigen Boten ansehen, der auch um die Bedeutung einer fristgemäßen Antragstellung wusste. Der Kläger
hat zudem nach seiner vom Zeugen H bestätigten Angabe später nochmals bei diesem nachgefragt und die Auskunft erhalten, es
sei alles in Ordnung. Damit hat der Kläger alles Erforderliche zur Durchsetzung seines Anspruchs unternommen. Dass er sich
erst im August oder September 2007 unmittelbar an die Beklagte gewandt hat, kann ihm nicht angelastet werden, denn er konnte
und durfte sich zunächst auf die "beruhigende" Auskunft des Zeugen verlassen.
bb) Das Verschulden an der Versäumung der Antragsfrist liegt allein bei dem Zeugen H. Dieses Verschulden ist dem Kläger aber
nicht zuzurechnen.
(1) Der 9. Senat des LSG NRW hat allerdings in einem vergleichbaren Fall gemeint, die nicht rechtzeitige Weiterleitung eines
Antrags durch den Insolvenzverwalter sei dem Arbeitnehmer zuzurechnen, denn wenn der Insolvenzverwalter eine im Interesse
des Arbeitnehmers liegende Aufgabe übernehme, müsse dieser sich etwaiges Verschulden des Insolvenzverwalters wie bei einem
anderen Vertreter zurechnen lassen ( Urteil vom 22.07.2004 - L 9 AL 3/04; im Ergebnis anders mit freilich widersprüchlicher Begründung SG Kassel, Urteil vom 07.11.2007 - S 7 AL 2474/04, das zwar zunächst davon ausgeht, dass sich der Arbeitnehmer das Verschulden des Insolvenzverwalters zurechnen lassen müsse,
dann aber im Rahmen des §
324 Abs.
3 Satz 2
SGB III offenbar doch nur eigenes Verschulden des Arbeitnehmers berücksichtigen will). In seiner Entscheidung geht der 9. Senat des
LSG NRW ohne nähere Begründung von einer Vertreterstellung des Insolvenzverwalters aus.
Zu der inhaltlich gleich lautenden Vorgängerregelung des § 141e Abs. 1 Satz 3 AFG hat das BSG im Urteil vom 29.10.1992 (BSGE 71, 213) darauf hingewiesen, dass diese Vorschrift eine spezialgesetzliche Ausprägung des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand sei und somit das Vertretenmüssen nach den gleichen Grundsätzen zu beurteilen sei. Dem Betroffenen sei nur
das Verschulden eines Vertreters zuzurechnen, wobei nicht jede Person, an die sich der Betroffene rechtsuchend wende, in diesem
Sinne ihr Vertreter sei. Es sei in der Regel ein Wiedereinsetzungsgrund, wenn der Betroffene von einer fachkundigen Person,
die er nicht mit der Wahrnehmung seiner Interessen betraut habe, eine falsche Auskunft erhalte. Zuzurechnen ist danach dem
Betroffenen jedenfalls immer das Verschulden einer Person, die er ausdrücklich mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt
hat und in deren Aufgabenbereich die Vornahme der fristwahrenden Handlung fällt. Nach diesen Maßstäben ist somit das Verschulden
eines mit der Durchsetzung der offenen Entgeltansprüche beauftragten Rechtsanwalts (vgl. LSG NRW, Urteil vom 25.09.2003 -
L 9 AL 171/01) oder gewerkschaftlichen Bevollmächtigten (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 29.04.2006 - L 9 AL 118/04) zuzurechnen. Dem gegenüber ist der Insolvenzverwalter, an den sich der Arbeitnehmer zwecks Auskunft über die Voraussetzungen
eines Insolvenzgeldantrages gewandt hat, nicht als "Vertreter" des Arbeitnehmers anzusehen, so dass bei einer unzutreffenden
Auskunft ein Wiedereinsetzungsgrund gegeben ist (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 17.04.2007 - L 1 AL 282/04). Hätte also hier der Zeuge H dem Kläger erklärt, er habe nunmehr einen wirksamen Antrag gestellt und ihm damit vermittelt,
er brauche nichts weiter zu tun, wäre dem Kläger die Nachfrist nach §
324 Abs.
3 Satz 2
SGB III einzuräumen gewesen.
(2) Für eine zurückhaltende Zurechnung fremden Verschuldens spricht die Überlegung einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung
des §
324 Abs.
2 SGB III. Der EuGH hat zwar im Urteil vom 18.09.2003 (SozR 4 - 4300 § 324 Nr. 1) die Anwendung einer Ausschlussfrist für die Stellung
eines Antrags auf Insolvenzgeld für grundsätzlich vereinbar mit der Richtlinie 987/80 EWG gehalten, jedoch unter der Voraussetzung,
dass die betreffende Frist nicht weniger günstig ist als bei gleichartigen innerstaatlichen Anträgen und nicht so ausgestaltet
ist, dass sie die Ausübung der von der Gemeinschaftsrechtsordnung eingeräumten Rechte praktisch unmöglich macht (a.a.O. Randziffer
46). Im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Einräumung einer Nachfrist hat er darauf hingewiesen, dass eine solche Ausnahmeklausel
die praktische Wirksamkeit des mit der Richtlinie gewährten Schutzes nur dann gewährleisten könne, wenn die zuständigen Stellen
nicht übermäßig streng beurteilten, ob der Betroffene sich mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche
bemüht habe (a.a.O., Randziffer 44). Dies spricht dafür, die Zurechnung des Verschuldens Dritter nur dann vorzunehmen, wenn
der Dritte ausdrücklich mit der Stellung und Aussetzung des Antrags beauftragt worden ist, nicht aber schon dann, wenn - wie
hier - dieser bei Gelegenheit der Ausfüllung des Antrages anbietet, den Antrag an die Beklagte weiterzuleiten.
(3) Eine Zurechnung kommt somit nur in Betracht, wenn der Dritte sich rechtlich bindend zur Erledigung der Antragstellung
verpflichten will und somit von einem Auftrag im Sinne des §
662 BGB auszugehen ist. Dabei ist aber im Lichte der Rechtsprechung des EuGH die Annahme eines Rechtsbindungswillens zurückhaltend
zu beurteilen, weil bei Bejahung eines Auftrags das Verschulden des Auftragnehmers dem Arbeitnehmer zuzurechnen ist. Dieser
würde damit bei einer vom Auftragnehmer verschuldeten Versäumung der Antragsfrist den "Primäranspruch" auf Insolvenzgeld verlieren
und auf den "sekundären" Schadensersatzanspruch gegen den Auftragnehmer verwiesen, dessen Realisierung unter Umständen schwierig
sein könnte. Dies zeigt auch der vorliegende Fall, in dem schon zweifelhaft wäre, ob hier der Zeuge H persönlich einen Auftrag
übernehmen oder für den Beigeladenen handeln wollte, so dass dementsprechend die Haftung des einen oder des anderen in Betracht
käme. Der Senat hält es daher für die Annahme eines Rechtsbindungswillens nicht für ausreichend, dass die fristgemäße Weiterleitung
des Antrags an die Beklagte für den Kläger von nicht unerheblicher wirtschaftlicher Bedeutung war (anders wohl OLG Hamm, NZA
- RR 2008, 685), sondern es müssen sonstige objektive Umstände hinzutreten, die erkennbar machen, dass der Dritte sich verpflichten will,
(unentgeltlich) für den Arbeitnehmer dessen Anspruch auf Insolvenzgeld zu verfolgen. Hiervon könnte etwa ausgegangen werden,
wenn ein Insolvenzverwalter ausdrücklich die Arbeitnehmer des insolventen Arbeitgebers auffordert, bei ihm die Anträge auf
Insolvenzgeld abzugeben. In diesem Fall würde der Insolvenzverwalter deutlich erkennbar die Verantwortung für die Stellung
der Anträge übernehmen wollen. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Der Kläger hat zwar behauptet, er habe mit einem ihm
vom Beigeladenen übersandten Antrag auf dessen Aufforderung dessen Büro aufgesucht. Dieser Vortrag lässt sich aber nicht bestätigen.
Der Zeuge H hat bei seiner Vernehmung am 06.10.2011 ausdrücklich verneint, dass Anträge vom Insolvenzverwalter übersandt worden
seien. Auch der Beigeladene hat bekundet, er könne sich nicht erklären, dass dem Kläger von seinem Büro ein Antrag zugesandt
worden sei. Seine Darstellung, dass er nur dann selbst Anträge auf Insolvenzgeld sammle und weiterleite, wenn das Insolvenzgeld
vorfinanziert werde, ist plausibel und einleuchtend, so dass es wenig verständlich wäre, warum er in anderen Fällen (und auch
hier) den Arbeitnehmern Anträge auf Insolvenzgeld zusenden sollte. Die Verfolgung von Ansprüchen auf Insolvenzgeld zählt nicht
zu den Aufgaben eines Insolvenzverwalters (vgl. OLG Hamm, a.a.O.). Auch der Umstand, dass der Zeuge H bekundet hat, er sei
nicht für weitere Arbeitnehmer bei der Stellung von Insolvenzgeldanträgen tätig geworden, spricht gegen die Darstellung des
Klägers, denn es wäre kaum verständlich, warum bei genereller Übersendung von Anträgen durch den Beigeladenen nicht noch weitere
Arbeitnehmer dessen Büro aufgesucht hätten. Somit ist davon auszugehen, dass hier nur einmalig der Zeuge bei Gelegenheit der
Hilfesuche des Klägers diesem angeboten hat, den Antrag an die Beklagte zu übermitteln. Dabei hat es sich um eine reine Gefälligkeit
des täglichen Lebens gehandelt, ein Rechtsbindungswille des Zeugen kann nicht angenommen werden.
Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass dem Kläger kein eigenes Verschulden vorgeworfen werden kann, wenn er sich auf
das Angebot des Zeugen H eingelassen hat, für ihn den Antrag an die Beklagte weiterzuleiten. Ebenso wenig kommt eine Zurechnung
des Verschuldens des Zeugen H in Betracht, da dieser nicht als Vertreter anzusehen ist.
cc) Demgemäß war dem Kläger entgegen der Auffassung der Beklagten eine Nachfrist gemäß §
324 Abs.
3 Satz 2
SGB III einzuräumen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Kläger schon im August 2007 Kenntnis davon erlangt hat, dass kein Antrag
bei der Beklagten vorlag, hat er die 2-monatige Nachfrist gewahrt, denn sein Antrag auf Insolvenzgeld ist am 17.09.2007 bei
der Beklagten eingegangen und am 27.09.2007 ergänzt worden. Somit hat die Beklagte dem Kläger Insolvenzgeld nach Maßgabe des
§
185 SGB III zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Da der Beigeladene keinen Antrag gestellt hat, ist es sachgerecht, wenn er seine Kosten selbst zu tragen hat.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, da im Einzelfall die Frage des Verschuldens des Klägers bzw. der Zurechnung
des Handelns eines Dritten zu beurteilen war.