Verwaltungsprozeßrecht: Voraussetzungen für die Aufhebung einer rechtskräftigen einstweiligen Anordnung; Begriff der veränderten
Umstände; Sozialhilferecht: Vorläufige Leistungsverpflichtung nach Rechtsänderung
Gründe:
I.
Das Rubrum für das vorliegende Abänderungsverfahren ist zu ändern und der bisherigen Beteiligtenstellung in dem Ausgangsverfahren
4 VG 314/92 anzupassen. Diese in einem Verfahren gemäß §
927 ZPO zu ändern, besteht ebenso wie im Abänderungsverfahren gemäß §
80 Abs.
7 VwGO (vgl. insoweit etwa BVerwG, Beschluß v. 30.11.1976, Verw.Rspr. Bd. 28 Nr. 145; OVG Münster, Beschluß v. 29.4.1982, NVwZ 1983
S. 353) keine Veranlassung.
Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt für das Beschwerdeverfahren
ist unbeschadet dessen, daß der Antragsteller und Beschwerdeführer mit seinem Rechtsmittel Erfolg hat, abzulehnen, da die
Beiordnung nicht erforderlich erscheint (§
121 Abs.
2 Satz 1
ZPO i.V.m. §
166 VwGO). Sein Bevollmächtigter im Beschwerdeverfahren, ein Mitarbeiter der Beratungsstelle des Verbands sozialtherapeutischer Einrichtungen
e.V., vertritt den Antragsteller bereits sachgerecht. In gerichtskostenfreien Verfahren wie dem vorliegenden (§
188 Satz 2
VwGO) kann Prozeßkostenhilfe nur gewährt werden, wenn die Voraussetzungen des §
121 Abs.
2 Satz 1
ZPO erfüllt sind.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und führt auch in der Sache zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht hätte die im
Verfahren der einstweiligen Anordnung ergangenen Beschlüsse nicht aufheben dürfen. Bei dieser Rechtslage kommt es nicht mehr
darauf an, ob die Aufhebung rückwirkend erfolgen durfte.
Durch den Beschluß des Verwaltungsgerichts vom 2. März 1992 - 4 VG 314/92 - und den im Beschwerdeverfahren dazu ergangenen
Beschluß des Senats vom 27. Mai 1992 - OVG Bs IV 195/92 - ist die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet worden, dem Antragsteller längstens bis zum Ablauf
eines Monats nach Zustellung einer die I. Instanz abschließenden Hauptsacheentscheidung im - weiterhin anhängigen - Klageverfahren
4 VG 313/92 gemäß §
43 Abs.
1 SGB I Sozialhilfe zu leisten. Diese rechtskräftigen Entscheidungen können in entsprechender Anwendung der §§
927,
936 ZPO nur aufgehoben oder geändert werden, wenn sich die Sach- und/oder Rechtslage seitdem geändert hat (vgl. OVG Hamburg, Beschluß
v. 13.7.1993, NVwZ-RR 1994 S. 367, m.w.N.). Dies ist nicht der Fall. Weder die Rechtslage noch die Sachlage (Prozeßlage) haben sich geändert.
Die Bestimmung des §
43 Abs.
1 SGB I gilt in Fällen der vorliegenden Art nach wie vor; entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin hat die Änderung des § 97 BSHG durch Art. 7 Nr. 22 FKPG vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 944) keine Änderung der hier maßgeblichen Rechtslage herbeigeführt. Zwar ist durch § 97 Abs. 2 BSHG n.F. ein neuer Fall der örtlichen Zuständigkeit eines Sozialhilfeträgers geschaffen worden, der die früher notwendige Kostenerstattung
nach § 103 Abs. 1 BSHG a.F. teilweise überflüssig macht. Ferner sieht § 97 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. eine vorläufige Leistungsverpflichtung des Trägers vor, in dessen Bereich sich der Hilfeempfänger tatsächlich aufhält
(§ 97 Abs. 1 BSHG). Dieser neuartige Typus einer vorläufigen Leistungsverpflichtung eines Sozialhilfeträgers mag zwar der Regelung des §
43 Abs.
1 SGB I ähnlich sein; er hat indes weder ausdrücklich noch sinngemäß die weitere Anwendbarkeit des §
43 Abs.
1 SGB I auf Fälle der vorliegenden Art in Frage gestellt. Denn § 97 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. regelt in erster Linie eine örtliche Zuständigkeit - wenn auch eine örtliche Eilzuständigkeit -, aber nicht die hier
entscheidende Frage, wie zu gewährleisten ist, daß ein Hilfesuchender nicht Leidtragender eines Zuständigkeitsstreits zwischen
Sozialhilfeträgern wird (vgl. BVerwG, Beschluß v. 29.10.1992, Buchholz 435.11 §
43 SGB I Nr. 4 zu der vorläufigen Leistungsverpflichtung nach § 8 Nds. AG BSHG).
Gerade dieser Streit dauert hier indes bis heute an. Mag auch die Antragsgegnerin meinen, die Vorschrift des § 97 Abs. 2 Satz 3 BSHG sei eindeutig, so schließt dies, wie der vorliegende Fall erweist - auch die in Niedersachsen in Betracht kommenden Sozialhilfeträger
verneinen weiterhin ihre Zuständigkeit -, nicht aus, daß die betreffenden Sozialhilfeträger trotz der vermeintlich eindeutigen
Zuständigkeitsvorschrift über ihre Zuständigkeit streiten. Ohne die Regelung des §
43 Abs.
1 SGB I hätte auch gegenwärtig ein Hilfesuchender keine Möglichkeit, schnell und unter relativ einfachen Voraussetzungen, wenigstens
von einem Sozialhilfeträger vorläufige Leistungen zu erhalten (vgl. auch Amtl.Begr. zum FKPG zur Änd. des § 97 u. des Kostenerstattungsrechts
- BT-Drucks. 12/4401 S. 84, wo ausdrücklich auch §
43 Abs.
1 SGB I als ein Fall der Kostenerstattung nach neuem Recht aufgeführt ist). Dies erweist, daß die Änderung des § 97 BSHG zu einer die Rechtskraft der früheren Beschlüsse berührenden Änderung der Rechtslage nicht geführt hat. Daher kann offenbleiben,
ob der Antragsteller überhaupt der Hilfe in einer Einrichtung bedarf; allein unter dieser Voraussetzung wäre § 97 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. ohnehin hier nur einschlägig.
Auch die Sachlage hat sich nicht geändert. Weder haben sich im Hauptsacheverfahren neue durchgreifende Gesichtspunkte ergeben
noch ist der Streit zwischen den beteiligten Sozialhilfeträgern beigelegt. Die Einstellung der Hilfe durch die Antragsgegnerin
zum 1. Oktober 1993 hat keine neue Sachlage herbeiführen können. Dieser Entscheidung steht die Rechtskraft (entspr. §
121 VwGO) und Rechtswirkung der durch die gerichtlichen Beschlüsse erlassenen einstweiligen Anordnung entgegen (vgl. OVG Hamburg,
Beschluß v. 13.7.1993, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 8.12.1992, BVerwGE Bd. 91 S. 256 = JZ 1993 S. 572 mit Anm. Maurer). Die Antragsgegnerin kann nur durch den hier zu bescheidenden Abänderungsantrag gemäß §
927 ZPO, nicht jedoch durch den Erlaß eines zu der ihr durch die einstweilige Anordnung auferlegten Verpflichtung im Widerspruch
stehenden Bescheids die Rechtswirkungen der rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung beseitigen. Hat sie dennoch insoweit
rechtswidrigerweise faktische Verhältnisse geschaffen, hat dies - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - hier auch
nicht deshalb zu einer neuen Sachlage geführt, weil sich der Antragsteller deshalb wieder - wie seinerzeit im November 1991
- vor die Frage gestellt sah, an welchen Träger er sich nunmehr wegen der Weitergewährung der Hilfe wenden solle. Wenn er
sich im Oktober 1993 an die gewandt hat, ist damit wegen der nach wie vor Geltung beanspruchenden einstweiligen Anordnung
weder eine Änderung der Sachlage im Hinblick auf die Voraussetzungen des §
43 Abs.
1 SGB I eingetreten noch hat der Antragsteller damit etwa auf seine Rechte aus der einstweiligen Anordnung verzichtet. Wegen der
rechtswidrigen Einstellung der Hilfe durch die Antragsgegnerin war er lediglich gezwungen, schnell und ortsnah seinen Lebensunterhalt
gesichert zu erhalten. Es wäre mit den Prinzipien der Rechtskraft und der Rechtssicherheit unvereinbar, wenn es die Antragsgegnerin
in der Hand hätte, durch Schaffung rechtswidriger faktischer Zustände ihrer Verpflichtung aus der einstweiligen Anordnung
zu entgehen und den Antragsteller damit gleichsam in den Rechts- und Sachstand vom November 1991 zurückzuwerfen.
Es kann offenbleiben, wie die Rechtslage zu beurteilen wäre, wenn der "Bescheid" vom 30. September 1993 als Einstellungsentscheidung
zu qualifizieren - was zweifelhaft erscheint, weil ein Regelungsausspruch darin nicht enthalten ist - und bestandskräftig
geworden wäre. Davon kann nämlich gegenwärtig nicht ausgegangen werden. Die Antragsgegnerin, die im Abänderungsverfahren insoweit
eine Nachweispflicht trifft, hat bisher nicht nachweisen können, daß der Bescheid unanfechtbar geworden ist.