Gründe:
Die Beschwerde, mit welcher der Antragsgegner sich gegen die einstweilige Anordnung zur Übernahme der Kosten des Besuchs der
Privatschule D. in S. für den Zeitraum vom 1.11.2003 bis zum Ende des ersten Schulhalbjahres 2003/2004 wendet, ist unbegründet.
Die insoweit vom Antragsgegner vorgebrachten Beschwerdegründe überzeugen nicht.
Mit ihnen greift er nicht die vorläufige Feststellung der Vorinstanz an, auf Grund der gravierenden Folgen des beim überdurchschnittlich
intelligenten Antragsteller diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndroms mit einer bereits ausgeprägten
Störung des sozialen Verhaltens in Kombination mit einer Lese-Rechtsschreib-Schwäche sei der Antragsteller im Sinne des §
35a Abs. 1 SGB VIII, §
2 Abs.
1 SGB IX von einer seelischen Behinderung bedroht. Von dieser Feststellung ausgehend sind die Einwendungen des Antragsgegners gegen
die erstinstanzliche Beurteilung, der Antragsteller habe den fraglichen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, unbegründet.
Mit ihnen macht der Antragsgegner geltend: Die Mutter des Antragstellers habe nicht ohne Durchführung eines Hilfeplanverfahrens
eigenmächtig den Besuch der Privatschule D. herbeiführen dürfen. Die Beschulung dort sei ungeeignet und nicht erforderlich.
Der Antragsteller sei auf die Inanspruchnahme einer - durch ein schulrechtliches Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen
Förderbedarfs und zur Entscheidung über den schulischen Förderort zu ermittelnden - öffentlichen Schule und gegebenenfalls
ergänzender Hilfen zu verweisen.
Entgegen diesem Vorbringen dürfte die Aufrechterhaltung des Privatschulbesuchs im entscheidungserheblichen Zeitraum keine
unzulässige Selbstbeschaffung sein. Hinsichtlich der Selbstbeschaffung im Jugendhilferecht hat der Senat in seinen Urteilen
vom 14.3.2003 - 12 A 122/02 -, FEVS 55, 16 = ZFSH/SGB 2003, 475 = NVwZ-RR 2003, 867 = ZfJ 2003, 487 = JAmt 2003, 479 und - 12 A 1193/01 -, NVwZ-RR 2003, 864 = ZfJ 2003, 490 = JAmt 2003, 482 = ZFSH/SGB 2004, 541, ausgeführt:
"Der Hilfe Suchende ist nur dann zur Selbstbeschaffung einer Jugendhilfeleistung berechtigt, wenn er hierauf zur effektiven
Durchsetzung eines bestehenden Jugendhilfeanspruchs angewiesen ist, weil der öffentliche Jugendhilfeträger sie nicht rechtzeitig
erbracht oder zu Unrecht abgelehnt hat (vgl. auch die am 1.7.2001 in Kraft getretene Regelung des §
15 Abs.
1 Satz 3 und 4
SGB IX), das für die Leistungsgewährung vorgesehene System also versagt hat. Ein solches 'Systemversagen', vgl. hierzu: Stellungnahme
der ständigen Fachkonferenz 1 'Grund- und Strukturfragen' des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V.,
ZfJ 2003, 61 (62); Grube, ZfJ 2001, 288, 290; Stähr, ZfJ 2002, 449, 455, liegt vor, wenn die Leistung vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht erbracht wird, obwohl der Hilfe Suchende
die Leistungserbringung durch eine rechtzeitige Antragstellung und seine hinreichende Mitwirkung ermöglicht hat und auch die
übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung vorliegen. In dieser Situation darf sich der Leistungsberechtigte
die Leistung selbst beschaffen, wenn es ihm wegen der Dringlichkeit seines Bedarfs nicht zuzumuten ist, die Bedarfsdeckung
aufzuschieben."
Dem Antragsteller war es summarischer Prüfung zufolge jedenfalls nicht zuzumuten, die Deckung seines jugendhilferechtlichen
Bedarfs länger als bis Mitte Juni 2003, als dem Antragsgegner die (Ärztliche Stellungnahme( von Prof. Dr. I. vom 19.5.2003
schon seit drei Wochen vorlag, aufzuschieben.
Die Mutter des Antragstellers beantragte bereits am 3.6.2002, also rechtzeitig, Leistungen der Jugendhilfe. Obwohl dieser
Antrag ausdrücklich auf die Übernahme der Kosten des Besuchs der Privatschule D. in S. als Hilfe zur Erziehung beschränkt
war, durfte es nicht damit sein Bewenden haben, die Mutter des Antragstellers auf die schulrechtliche Zuständigkeit zu verweisen.
Wegen der in diesem Antrag und ergänzend mit dem Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid mitgeteilten Tatsachen über die
gravierenden Fehlentwicklungen in der Person und in der Situation des Antragstellers hätte ein jugendhilferechtliches Verfahren
zur Aufklärung des Hilfebedarfs durchgeführt werden müssen. In dem Antrag ist von "meinem seelisch-psychisch kranken Sohn"
die Rede, dessen häusliche und schulische Umstände ausführlich geschildert werden. Dem Widerspruchsschreiben war ein zumindest
auf eine drohende seelische Behinderung hindeutender ärztlicher Bericht beigefügt. Schließlich war dem Antrag nicht etwa zu
entnehmen, dass die Mutter des Antragstellers sich gegen eine umfassende Aufklärung des Hilfebedarfs und gegebenenfalls die
Entwicklung alternativer Hilfemöglichkeiten im Rahmen eines Hilfeplanverfahrens nach § 36 SGB VIII sperren würde. Eine fehlende Mitwirkungsbereitschaft lässt sich auch nicht etwa aus früherem Verhalten folgern, insbesondere
entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht daraus, dass die Mutter des Antragstellers im Jahre 1996 im Rahmen der Trennungs-
und Scheidungsberatung nach §§ 17, 18 SGB VIII das Angebot des Antragsgegners abgelehnt hat, sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII mit dem Ziel zu leisten, ein für die Kinder förderliches Familiensystem wieder zu stabilisieren. Dieses damalige Verhalten
steht weder in einem zeitlichen noch in einem sachlichen Zusammenhang mit dem durch den Antrag vom 3.6.2002 eröffneten jugendhilferechtlichen
Verfahren.
Die Aufklärung des Hilfebedarfs war nach überschlägiger Prüfung nicht etwa deshalb entbehrlich, weil der Antragsteller noch
schulpflichtig war und seine Mutter noch keinen schulrechtlichen Antrag auf Eröffnung des Verfahrens zur Feststellung des
sonderpädagogischen Förderbedarfs gestellt hatte.
Allerdings lassen die Regelungen des Kinder- und Jugendhilferechts im Achten Buch des Sozialgesetzbuchs nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die Verpflichtungen anderer unberührt. Hierzu gehört die Verpflichtung der öffentlichen Schulen, der Schulträger und der
Schulaufsichtsbehörden, lernbeeinträchtigte, behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Schüler schulisch angemessen zu
fördern. Als eine Fördermaßnahme sieht § 7 Abs. 1 des Gesetzes über die Schulpflicht im Lande Nordrhein-Westfalen (SchpflG)
vor, dass Schulpflichtige, die wegen körperlicher, seelischer oder geistiger Behinderung oder wegen erheblicher Beeinträchtigung
des Lernvermögens im Unterricht an der Grundschule oder einer weiterführenden Schule nicht hinreichend gefördert werden können,
ihrem individuellen Förderbedarf entsprechend sonderpädagogisch gefördert werden. Nach § 7 Abs. 4 SchpflG i.V.m. der Verordnung
über die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Entscheidung über den schulischen Förderort vom 22.5.1995
(VO-SF) - GV. NRW. S. 496 - entscheidet die zuständige Schulaufsichtsbehörde auf Antrag der Erziehungsberechtigten oder der
allgemeinen Schule über den sonderpädagogischen Förderbedarf und über den schulischen Förderort.
Ob der von einem jungen Menschen, der seelisch behindert oder von einer seelischen Behinderung bedroht ist, um Hilfe ersuchte
Jugendhilfeträger vor einer umfassenden Aufklärung des Hilfebedarfs die Erziehungsberechtigten darauf verweisen darf, zunächst
ein Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs zu betreiben, hängt von den Umständen des Einzelfalls
ab.
Zur Rechtslage unter dem Gesichtspunkt des sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatzes vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.6.1996
- 8 B 122/96 -, OVGE 46, 11.
Dem VG ist darin zuzustimmen, dass die Umstände des vorliegenden Falls summarischer Prüfung nach ein solches Vorgehen nicht
zuließen. Zunächst gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass für Schüler, denen wegen der Folgen eines Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms
eine seelische Behinderung droht, eine ähnlich institutionalisierte intensive Förderung im öffentlichen Schulwesen des Landes
Nordrhein-Westfalen stattfindet wie bei Schülern mit besonderer Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie).
Vgl. zur Förderung von Schülern mit Legasthenie aus dem Blickwinkel des sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatzes OVG NRW,
Urteil vom 14.4.1999 - 24 A 118/96 -, FEVS 51, 120.
Eine derartige institutionalisierte Förderung zeigt auch die vom Antragsgegner im Beschwerdeverfahren vorgelegte Stellungnahme
des Schulamts für den Kreis B. nicht auf. Hier kommt hinzu, dass, worauf die Vorinstanz schon zu Recht hingewiesen hat, der
Antragsteller die (schulische) Erprobungsstufe, die nach § 5a des Schulverwaltungsgesetzes die Klassen 5 und 6 umfasst, bereits
seit langem abgeschlossen hatte. Nach Abschluss der Erprobungsstufe ist indes gemäß § 1 Abs. 4 VO-SF ein Verfahren nach dieser
Verordnung nur noch in Ausnahmefällen durchzuführen. Indem die über die persönliche Situation des Antragstellers informierte
öffentliche Schule, die er besuchte, keinen Antrag nach § 7 Abs. 4 SchpflG stellte, begründete sie die Vermutung, sie halte
die Voraussetzungen eines Ausnahmefalls bei diesem nicht für gegeben. Hierauf wird in der zitierten Stellungnahme des Schulamts
für den Kreis B. nicht eingegangen. Die dort vorgenommene Qualifizierung der H. in T. als möglicherweise geeignete Schule
vermag deshalb diese Vermutung nicht zu entkräften. Unter diesen Umständen hätte es die Anforderungen an die Mitwirkung des
Antragstellers bzw. seiner Mutter im jugendhilferechtlichen Verfahren überspannt, vor einer Kontaktaufnahme des Antragsgegners
mit dieser Schule und vor einem Erstgespräch mit dem Antragsteller und seiner Mutter zu verlangen, dass diese von sich aus
die Eröffnung des schulrechtlichen Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs beantragte. Von der -
nicht an die vorherige Stellung eines solchen Antrags gekoppelten - Durchführung eines Verfahrens zur Aufklärung des Hilfebedarfs
beim Antragsteller durfte ferner deshalb nicht abgesehen werden, weil insbesondere angesichts der Schwere der Fehlentwicklung
beim Antragsteller auch die Notwendigkeit über den schulischen Bereich hinausgehender Hilfen nicht ausgeschlossen werden konnte.
Bei dieser Sachlage brauchte die Mutter des Antragstellers angesichts der weiteren Zuspitzung in der Situation des Antragstellers
jedenfalls nicht länger als drei Wochen nach Übermittlung der (Ärztlichen Stellungnahme( von Prof. Dr. I. vom 19.5.2003 zu
warten, selbst einen Schulwechsel herbeizuführen. Dass sie ihren Sohn, den Antragsteller, tatsächlich bereits zum 1.4.2003
in der Privatschule D. in S. unterbrachte, obwohl sie den Antragsgegner mit Schreiben vom 27.1.2003 gebeten hatte, die Entscheidung
über ihren Widerspruch bis zum Vorliegen der Äußerung von Prof. Dr. I. hinauszuschieben, dürfte einer Bewertung der Selbstbeschaffung
als zulässig spätestens drei Wochen nach Übermittlung der Äußerung nicht entgegen stehen. Nach dem vorgelegten Schulvertrag
galten die ersten drei dem 1.4.2003 folgenden Monate als Probezeit, während der beide Vertragsseiten das Recht zur sofortigen
Kündigung hatten. Demnach wäre es der Mutter des Antragstellers möglich gewesen, sich in dieser Phase jederzeit vom Schulvertrag
zu lösen, so dass auch nach Beginn des Schulbesuchs am 1.4.2003 ein maßnahmeoffenes Hilfeplanverfahren nicht ausgeschlossen
war.
Vgl. zu der Möglichkeit, dass eine zu Beginn unzulässige Selbstbeschaffung im Laufe der Zeit zulässig werden kann: OVG NRW,
Urteil vom 14.3.2003 - 12 A 1193/01 -, a.a.O.
Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit liegen darüber hinaus die weiteren Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs vor.
Die Unterbringung in der Privatschule D. in S. genügt nämlich bei summarischer Prüfung auch unter Würdigung des Beschwerdevorbringens
den Anforderungen an eine Maßnahme, die mangels behördlich aufgezeigter Alternative beschafft worden ist. Hat ein Jugendhilfeträger
in einem von ihm durchzuführenden jugendhilferechtlichen Verfahren keine Alternative aufgezeigt, ist es ihm verwehrt, sich
auf die eigene Kompetenz für die Entscheidung über die im Fall des Hilfe Suchenden angezeigte Hilfeart zu berufen und diesem
entgegen zu halten, er selbst hätte eine andere Hilfe für geeignet und notwendig erachtet. Vielmehr genügt es in einem solchen
Fall, dass die selbstbeschaffte Maßnahme zur Förderung der Wiedereingliederung in die Gesellschaft geeignet ist und sich die
selbstbeschaffte Leistung nicht als eine unwirtschaftlich anzusehende Hilfe erweist.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.3.2003 - 12 A 122/02 -, a.a.O.
Dass die vom Antragsteller besuchte Privatschule D. in S. geeignet ist, die Wiedereingliederung des Antragstellers in die
Gesellschaft zu fördern, hält der Senat nach überschlägiger Überprüfung der Stellungnahme des Schulleiters bzw. Schulträgers
dieser Schule, der der Antragsgegner nicht substantiiert entgegen getreten ist, für überwiegend wahrscheinlich. Diese Schule
erfüllt, soweit im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ersichtlich, die Kriterien, denen nach der (Ärztlichen Stellungnahme(
von Prof. Dr. I. eine (Therapie( möglichst genügen sollte. Es handelt sich um eine Ganztagsschule mit kleinen Klassen. Der
vom Antragsgegner unter Bezugnahme auf die einzelfallbezogenen Ausführungen des OVG NRW in seinem Beschluss vom 25.1.2001
- 22 B 1292/00 - vorgebrachte Einwand, der Vorteil kleiner Klassen werde durch das Zusammenkommen von Schülern mit je eigener Problematik
deutlich relativiert, wird dadurch entkräftet, dass der Schulleiter unwidersprochen mitgeteilt hat, in der Lerngruppe, welcher
der Antragsteller zugewiesen sei, sei er der einzige Schüler mit einer seelischen Behinderung. Auch begegnen die Angaben des
Schulleiters zur Fachkompetenz seiner Mitarbeiter nach dem Akteninhalt keinen durchgreifenden Zweifeln. Eine abschließende
Klärung der Eignung dieser Schule wird allerdings erst im Hauptsacheverfahren durchgeführt werden können.
Dafür, dass die Inanspruchnahme dieser Privatschule als unwirtschaftlich zu beurteilen wäre, insbesondere die aufgewendeten
Kosten im Hinblick auf den Bedarf des Antragstellers nicht angemessen sein könnten, fehlen hinreichende Anhaltspunkte. Der
Hinweis des Antragsgegners auf den sogenannten Mehrkostenvorbehalt nach § 5 Abs. 2 SGB VIII verfängt hier nicht, da eine Maßnahme, die mangels behördlich entwickelter Alternative zulässig selbst beschafft werden durfte,
nicht an diesem Maßstab zu messen ist.