Sozialhilferecht: Ausschlussfrist bei Kostenerstattung zwischen Sozialhilfeträgern
Tatbestand:
Die Klägerin beansprucht von der Beklagten die Erstattung von Sozialhilfeleistungen, die sie in der Zeit vom 27. Juni 1993
bis zum 26. November 1997 für die Heimpflege der Frau E. S. aufgewandt hat.
Die Hilfeempfängerin wohnte zunächst im Stadtgebiet der Beklagten, bevor sie in einem Pflegeheim im Bereich der Klägerin untergebracht
wurde. Während ihres Aufenthalts in diesem Heim ging am 27. Juni 1993 die örtliche Zuständigkeit für die Hilfegewährung durch
Gesetzesänderung von der Klägerin auf die Beklagte über. Die Klägerin setzte ihre Hilfeleistung fort und machte ihren darauf
gestützten Anspruch auf Erstattung der erbrachten Leistungen mit dem bei der Beklagten am 27. November 1997 eingegangenen
Schreiben geltend, die diesem Verlangen jedoch entgegentrat.
Hinsichtlich des seinem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalts nimmt der Senat gemäß §
130 b Satz 1
VwGO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug, dessen tatsächliche Feststellungen er sich zu Eigen macht.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage insoweit stattgegeben, als die Klägerin Kosten aus der Zeit vom 27. November 1996 bis
zum 26. November 1997 beansprucht und hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Zwar sei ein Erstattungsanspruch der
Klägerin als der bisher zuständigen Behörde entstanden, die nach einem Zuständigkeitswechsel aufgrund einer entsprechenden
gesetzlichen Verpflichtung weitergeleistet habe. Für die Zeit vom 27. Juni 1993 bis zum 26. November 1996 sei dieser Anspruch
jedoch gemäß § 111 SGB X ausgeschlossen, weil er nicht spätestens 12 Monate nach Ablauf des letzten Tages der Leistungserbringung geltend gemacht
worden sei.
Gegen das Urteil hat die Klägerin im Umfang der erfolgten Klageabweisung die zuvor vom Senat zugelassene Berufung eingelegt
und vorgetragen, die in § 111 SGB X geregelte Ausschlussfrist gelte nicht für den auf § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X gestützten Erstattungsanspruch. Dies ergebe sich bereits aus § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X, der "nur" auf die Regelung des § 102 Abs. 2 SGB X verweise, also gerade nicht auf § 111 SGB X. Würden die Regelungen der §§ 102 ff. SGB X ohne weiteres für alle Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander gelten, hätte es des § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X nicht bedurft. Auch gesetzessystematische Gründe stünden der Anwendung des § 111 SGB X entgegen. Für eine analoge Anwendung dieser Vorschrift fehle es mit Rücksicht auf die erwähnte Vorschrift des § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X an der erforderlichen Gesetzeslücke. Im Übrigen könne die Geltung der Ausschlussfrist des § 111 SGB X zu einer nicht gerechtfertigten Begünstigung des zuständig gewordenen Sozialhilfeträgers führen, der für eine auch in seinem
Verantwortungsbereich liegende Verzögerung der Übernahme des Leistungsfalles gewissermaßen belohnt würde.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 7. Februar 2000 - 4 K 1893/99.NW - abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an sie, die Klägerin, auch die in der Zeit vom 27. Juni 1993 bis zum 26.
November 1996 entstandenen Sozialhilfeaufwendungen in Höhe von 90.337,22 DM zuzüglich 4 % Zinsen ab dem 19. Juli 1999 zu erstatten.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und bekräftigt ihre Ausführungen aus dem erstinstanzlichen Verfahren.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie die vorgelegten
Verwaltungsvorgänge verwiesen, die Gegenstand der Beratung waren.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, ist unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht insoweit abgewiesen, als die Klägerin die Erstattung von Kosten verlangt, die
von ihr für die stationäre Pflege der Frau S. in der Zeit vom 27. Juni 1993 bis zum 26. November 1996 aufgewandt wurden. In
diesem Umfang steht dem Erstattungsbegehren der Klägerin die Regelung des § 111 SGB X entgegen.
Wie in dem angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt wurde, ist § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X die Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch der Klägerin. Nach dieser Vorschrift hat die durch eine Änderung der
örtlichen Zuständigkeit zuständig gewordene Behörde der bisher zuständigen Behörde die nach dem Zuständigkeitswechsel von
dieser noch erbrachten Leistungen auf Anforderung zu erstatten. Ein solcher Zuständigkeitswechsel trat am 27. Juni 1993 durch
In-Kraft-Treten des Art. 7 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl.
I, S. 944) ein: Für die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung wurde der Träger der Sozialhilfe örtlich
zuständig, in dessen Bereich der Hilfeempfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme oder in den zwei
Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hatte (§ 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG n.F.). Die örtliche Zuständigkeit ging dadurch von der Klägerin, die zuvor aufgrund des tatsächlichen Aufenthalts der Hilfeempfängerin
für die Gewährung der Hilfe zuständig war, auf die Beklagte über, in deren Stadtgebiet die Hilfeempfängerin vor der Heimaufnahme
gewohnt hatte.
Weitere Voraussetzung des Erstattungsanspruchs nach § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X ist die Fortführung der Hilfe durch die zuständig gewesene Behörde bis zur Übernahme der Leistungsgewährung seitens des nunmehr
zuständigen Trägers. Zwar hat die Klägerin über den 27. Juni 1993 hinaus Leistungen der Hilfe zur Pflege an Frau S. erbracht.
Ob damit bereits von einer Weiterleistung i.S.d. § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X auszugehen oder ob ergänzend erforderlich ist, dass die Klägerin diese Hilfe in dem Bewusstsein gewährt hat, hierfür örtlich
nicht mehr zuständig zu sein, kann auf sich beruhen. Gegen die Abhängigkeit des Erstattungsanspruchs von bestimmten Umständen
oder Vorstellungen auf Seiten der Klägerin spricht allerdings die Änderung des § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X durch Art. II § 17 des Gesetzes vom 4. November 1982 (BGBl. I, S. 1450). Seinerzeit trat der Verweis des § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X auf § 102 Abs. 2 SGB X an die Stelle des bis dahin geltenden Verweises dieser Vorschrift auf §
43 Abs.
3 SGB I, also auf eine Fallgestaltung, in der - wie §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I zu entnehmen ist - die Leistungspflicht zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist. Besteht aber Streit (über die Zuständigkeit),
erfolgt die Weiterleistung regelmäßig in der Überzeugung, selbst nicht zuständig zu sein. Die Abkehr des Gesetzgebers von
der entsprechenden Geltung des §
43 Abs.
3 SGB I lässt sich daher als Hinweis deuten, dass die Erstattung im Falle der Weiterleistung nach Zuständigkeitsänderung nicht von
einem bestimmten Bewusstsein, insbesondere nicht von einem Streit, abhängig sein soll.
Dies bedarf jedoch ebenso wenig einer abschließenden Entscheidung wie die Frage, ob der Erstattungsanspruch erst von dem Zeitpunkt
ab besteht, in dem dem (eigentlich) zuständigen Leistungsträger bekannt ist, dass die Voraussetzungen für seine Leistungspflicht
vorliegen. Eine solche Regelung enthält § 105 Abs. 3 SGB X für den Fall, dass ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbringt, ohne dass die Voraussetzungen des § 102 Abs. 1 SGB X gegeben sind. Wie jedoch bereits aus dieser Formulierung hervorgeht, ist der in § 105 SGB X normierte Erstattungsanspruch von demjenigen des § 102 SGB X abzugrenzen. Durch die ausdrückliche Verweisung des § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X auf § 102 Abs. 2 SGB X wird aber deutlich, dass der Gesetzgeber den hier vorliegenden Fall eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit nicht als
solchen des § 105 SGB X, sondern des § 102 SGB X qualifiziert. Dies wird durch die Regierungsbegründung zu der bereits erwähnten Änderung des § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X bestätigt, wonach damit eine "Anpassung an die Konzeption des Dritten Kapitels" erfolgte (BT-Drucks. 9/1753, Begründung zu
§ 14 Nr. 2, S. 48; so auch von Maydell/Schellhorn, Gemeinschaftskommentar SGB X/3, 1984, § 102 Rz. 46; Eichenhofer in: Wannagat,
SGB, Stand 8/1999, § 102 Rz. 5; Hauck, SGB X/3, Stand 3/1999, K § 102 Rz. 35, a.A. Schroeder-Printzen/Engelmann, SGB X, 3. Aufl. 1996, § 102 Rz. 10).
Unabhängig von diesen Fragen scheitert der im Berufungsrechtszug (noch) weiterverfolgte Anspruch der Klägerin an der Regelung
des § 111 Satz 1 SGB X. Danach ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens 12 Monate nach
Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Da das Erstattungsbegehren der Klägerin erst
am 27. November 1997 bei der Beklagten einging, verlangt sie die Erstattung von Leistungen, die länger als 12 Monate zuvor
an die Hilfeempfängerin gewährt wurden. Dass diese Ausschlussfrist des § 111 SGB X auch auf den Erstattungsanspruch aus § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X anzuwenden ist, hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil bereits zutreffend ausgeführt. Dies ergibt sich schon
aus dem Wortlaut des § 111 Satz 1 SGB X, der den "Anspruch auf Erstattung" ausschließt, und zwar ohne Einschränkung auf bestimmte Erstattungsansprüche oder gar auf
diejenigen des Zweiten Abschnitts des Dritten Kapitels des SGB X. Dies wird bestätigt durch den vom Gesetzgeber mit dieser Regelung verfolgten Zweck, der sich aus der Regierungsbegründung
(BT-Drucks. 9/95 S. 17, 26) entnehmen lässt. Danach soll mit der Geltendmachung von Erstattungsansprüchen nicht unbegrenzte
Zeit gewartet werden dürfen, wobei die Regelungen in den §§ 113 bis 120 (nach derzeitiger Zählung: §§ 107 bis 114) SGB X für sämtliche Erstattungsansprüche - auch die in den besonderen Teilen dieses Gesetzbuchs - gelten (vgl. hierzu auch Schroeder-Printzen,
a.a.O., vor § 102, Rz. 19; § 111 Rz. 3).
Demgegenüber greifen die von der Klägerin erhobenen gesetzessystematischen Einwände nicht durch. Zwar findet sich § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X im Ersten Kapitel des SGB X, während § 111 im Dritten Kapitel geregelt ist und zwar in dem Abschnitt über die Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander.
In inhaltlicher Hinsicht stellt der Kostenerstattungsanspruch des § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X aber einen solchen eines Leistungsträgers gegen einen anderen dar, der deshalb unter systematischen Gesichtspunkten ebenfalls
im Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels seinen Platz hätte finden können. Dass er im Übrigen, was den Umfang des Erstattungsanspruchs
betrifft, durch den Verweis des § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X auf § 102 Abs. 2 SGB X dem Erstattungsanspruch des vorläufig leistenden Leistungsträgers gleichgestellt wurde, belegt, dass er materiell-rechtlich
zu den Regelungen der §§ 102 ff. SGB X gehört. Dies bestätigt die bereits erwähnte gesetzgeberische Intention, die mit der Änderung des § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X im Jahre 1982 verfolgt wurde, nämlich eine "Anpassung an die Konzeption des Dritten Kapitels" (BT-Drucks. 9/1753, S. 48).
Soweit die Klägerin aus der Verweisung des § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X auf § 102 Abs. 2 SGB X den Schluss zieht, diese Regelung sei insoweit abschließend, als nur § 102 Abs. 2 SGB X, nicht aber auch § 111 SGB X gelten soll, folgt dem der Senat nicht. Zwar wird dadurch abschließend der Umfang des Erstattungsanspruchs festgelegt, so
dass § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X nicht - wie die Klägerin meint - überflüssig ist, wenn man § 111 SGB X auf den Erstattungsanspruch des § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X auch ohne ausdrückliche Verweisung anwendet. Die entsprechende Geltung des § 102 Abs. 2 SGB X bedeutet nämlich, dass der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den für den bisher zuständigen Leistungsträger geltenden
Rechtsvorschriften bestimmt wird. Diese Privilegierung des vorläufig leistenden Leistungsträgers durch § 102 Abs. 2 SGB X kommt gemäß § 2 Abs. 3 Satz 3 SGB X auch der weiter leistenden Behörde zugute, deren örtliche Zuständigkeit weggefallen ist. Demgegenüber ist der Umfang des
Erstattungsanspruchs in § 103 Abs. 2 SGB X, in § 104 Abs. 3 SGB X und in § 105 Abs. 2 SGB X für den Erstattungsberechtigten ungünstiger geregelt (vgl. die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 9/95, S. 24). Die Anwendbarkeit
dieser Vorschriften über den Anspruchsumfang ist durch den Verweis auf § 102 Abs. 2 SGB X ausgeschlossen, nicht aber die Geltung der "allgemeinen" Vorschriften der §§ 107 ff. SGB X. Schließlich bestehen auch unter Berücksichtigung der Interessenlage des die Sozialhilfeleistung fortführenden, bisher zuständig
gewesenen Trägers einerseits und der in §§ 102 ff. SGB X genannten Erstattungsberechtigten andererseits keine Veranlassung zu einer unterschiedlichen Handhabung der Ausschlussfrist
des § 111 SGB X. Auch hier besteht das Bedürfnis nach "schneller Klarstellung der Verhältnisse" (so die Regierungsbegründung, BT-Drucks.
9/95, S. 26). Demgegenüber ist ein besonderes Schutzbedürfnis der Klägerin, das für eine Geltendmachung des Erstattungsanspruchs
unabhängig von einer Ausschlussfrist sprechen könnte, nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §
154 Abs.
2 VwGO. Gemäß §
188 Satz 2
VwGO werden Gerichtskosten nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §
167 VwGO i.V.m. §
708 Nr.
10 ZPO. Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht (§
132 Abs.
2 VwGO).