Sozialhilferecht: Einsetzbarkeit des Vermögens durch den Hilfesuchenden
Tatbestand:
Die 1946 geborene Klägerin wendet sich gegen die darlehensweise Bewilligung von Sozialhilfe.
Die Klägerin hat drei Brüder. Ihre Eltern schlossen am 25.01.1961 einen Erbvertrag. Sie änderten an der gesetzlichen Erbfolgeregelung
nichts (§ 3 des Vertrages), bestimmten aber, daß der zuerst sterbende Ehegatte dem überlebenden Ehegatten den Anspruch auf
Einräumung des lebenslänglichen Nießbrauchs an den Erbteilen der Abkömmlinge vermache (§ 5 des Vertrages). Der zuerst sterbende
Ehegatte ordne für seinen Nachlaß Testamentsvollstreckung an und ernenne den überlebenden Ehegatten zu seinem Testamentsvollstrecker;
das Amt ende mit dem Tode des überlebenden Ehegatten oder mit dessen Wiederverheiratung (§ 6 des Vertrages). Ferner wurde
die Auseinandersetzung des Nachlasses des zuerst sterbenden Ehegatten ausgeschlossen, bis der überlebende Ehegatte eine Nachlaßauseinandersetzung
wünsche, sich wieder verheirate oder sterbe (§ 4 des Vertrages).
Der Vater der Klägerin verstarb am 10.09.1978. Die Klägerin sowie ihre Mutter und Brüder nahmen die Erbschaft am 18.10.1978
an. Der Nachlaßwert wurde mit 857 000,-- DM angegeben. Zum Nachlaß gehörten unter anderem das mit einem Haus bebaute Grundstück
in und das unbebaute Flurstück in. Am 01.10.1982 wurde der Mutter der Klägerin der Nießbrauch an den Erbteilen ihrer Kinder
eingeräumt.
Die Beklagte gewährte der Klägerin seit 1982 Hilfe zum Lebensunterhalt, und zwar bis zum 31.05.1988 als Beihilfe. Nachdem
die Beklagte erfahren hatte, daß die Klägerin 1978 zu 1/8 Erbin des Nachlasses ihres Vaters geworden war, bewilligte sie der
Klägerin mit Bescheid vom 27.05.1988 die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ab 01.06.1988 darlehensweise in Höhe von monatlich
808,-- DM. Die Beklagte bestimmte ferner, daß die Hilfe jährlich mit 2 % über dem jeweiligen Diskontsatz zu verzinsen sei
und zur Rückzahlung fällig werde, sobald die Erbteilsansprüche realisiert werden könnten. Außerdem ordnete sie die sofortige
Vollziehung des Bescheides an. Zur Begründung führte sie aus, gemäß § 88 BSHG sei das Vermögen vorrangig einzusetzen. Da die sofortige Verwertung des Erbteilsanspruchs nicht möglich sei, werde die Hilfe
zum Lebensunterhalt nach § 89 BSHG darlehensweise gewährt.
Die Klägerin erhob am 16.06.1988 Widerspruch und brachte vor, ihre Mutter lebe noch. Das Haus in könne nicht verkauft, sondern
höchstens vermietet werden.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 06.12.1988 nach Anhörung sozial erfahrener Personen als unbegründet zurück.
Sie führte aus, die Klägerin verfüge über einen Miteigentumsanteil aus der Erbschaft ihres verstorbenen Vaters in Höhe von
ca. 100 000,-- DM. Da das vorhandene Vermögen nicht vor dem Tod der Mutter der Klägerin verwertet werden könne, sei eine darlehensweise
Hilfegewährung geboten. - Der Widerspruchsbescheid wurde der Klägerin am 14.12.1988 zugestellt.
Am 13.01.1989 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage erhoben und beantragt, den Bescheid der Beklagten vom
27.05.1988 und deren Widerspruchsbescheid vom 06.12.1988 insoweit aufzuheben, als Sozialhilfe lediglich darlehensweise gewährt
wurde. Zur Begründung hat sie ausgeführt, es sei ungewiß, wann und wieviel sie einmal erben werde. Außerdem könne die Sozialhilfe
allenfalls insoweit darlehensweise gewährt werden, als es sich um echte Leistungen des Sozialamtes handele. Die Beklagte fordere
von ihrer Mutter aber einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 350,-- DM und behalte Wohngeld in Höhe von monatlich 257,--
DM ein.
Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt und ergänzend erwidert, die Mutter der Klägerin habe den Unterhaltsbeitrag erst im
Januar 1989 für das Jahr 1984 bezahlt. Es sei selbstverständlich, daß bei der Abrechnung des Sozialhilfeaufwandes gegenüber
eventuell vorhandenem Vermögen anderweitige Leistungen, zum Beispiel Unterhalt oder Wohngeld, abgezogen würden.
Durch Urteil vom 16.11.1989 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte
habe die Voraussetzungen des § 89 BSHG zu Recht bejaht. Da die Klägerin geerbt habe, sei sie im Besitz von Vermögen. Dessen Verbrauch bzw. sofortige Verwertung
sei im Moment nicht möglich, da eine Auseinandersetzung zur Zeit wegen des Erbvertrages ausgeschlossen sei. Daher habe die
Sozialhilfe darlehensweise bewilligt werden können. Sie sei auch in der den Bescheiden zugrunde gelegten Höhe gewährt worden.
Die Zahlung des Wohngeldes an die Beklagte sei als Tilgung der Darlehensschuld zu qualifizieren. Im übrigen habe auch die
Beklagte ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das Wohngeld und die Unterhaltszahlungen der Mutter bei einer späteren Abrechnung
voll abgezogen und berücksichtigt würden.
Gegen dieses ihr am 15.01.1990 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12.02.1990 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt
sie vor, der Bescheid vom 27.05.1988 sei unbestimmt, da die darlehensweise Gewährung der Sozialhilfe nur im "Betreff" enthalten
sei und auf die Modalitäten des Darlehens lediglich auf der Rückseite des Bescheides hingewiesen werde. Auch sei einzusetzendes
Vermögen im Sinne von § 88 BSHG nicht vorhanden. Sie beabsichtige, nach Verwirklichung ihres Erbanspruchs entweder die zum Hausgrundstück gehörende Einliegerwohnung
selbst zu beziehen oder sich von ihrem Erbteil eine kleine Wohnung zu kaufen. Zudem sei ein Darlehen zinslos zu gewähren,
und es sei auch auf den Teil der Sozialhilfezahlungen zu beschränken, welchen bei Eintritt der Realisierung der Erbansprüche
verwertbares Vermögen gegenüberstehe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 16.11.1989 - 9 K 110/89 - zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 27.05.1988 sowie deren Widerspruchsbescheid vom 06.12.1988 aufzuheben und die
Beklagte zu verpflichten, ihr laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ab 01.06.1988 fortlaufend als Beihilfe zu gewähren;
hilfsweise,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 16.11.1989 - 9 K 110/89 - zu ändern sowie den Bescheid der Beklagten vom 27.05.1988 und deren Widerspruchsbescheid vom 06.12.1988 insoweit aufzuheben,
als das ihr gewährte Darlehen zu verzinsen ist und das Darlehen der Höhe nach über das von ihr einzusetzende Vermögen hinausgeht
sowie die Beklagte zu verpflichten, ihr laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ab 01.06.1988 insoweit als Beihilfe zu gewähren,
als die Hilfe der Höhe nach über das ihr zur Verfügung stehende einzusetzende Vermögen hinausgeht.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie führt aus, auch Forderungen und sonstige Rechte stellten Vermögen im Sinne von § 88 BSHG dar. Die Voraussetzungen des § 89 BSHG seien gegeben.
Dem Senat liegen die zur Sache gehörenden Akten der Beklagten und des Verwaltungsgerichts Stuttgart vor. Auf sie wird wegen
der weiteren Einzelheiten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden, denn sie ist in der ordnungsgemäß
erfolgten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (vgl. §§
102 Abs.
2,
125 Abs.
1 VwGO).
Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte der Klage stattgeben müssen, da die Klägerin Anspruch
auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt vom 01.06.1988 bis zum 31.12.1988 als Beihilfe hat. Die Bescheide der Beklagten vom
27.05.1988 und 06.12.1988 sind daher rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Der Senat kann nur über den Zeitraum bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides entscheiden, da laufend geleistete Sozialhilfe
keine rentengleiche wirtschaftliche Dauerleistung mit Versorgungscharakter ist, sondern Hilfe in einer gegenwärtigen Notlage,
deren Notwendigkeit ständig überprüft werden muß. Sie ist auf ständigen Wechsel angelegt. Daraus folgt, daß Gegenstand der
gerichtlichen Nachprüfung nur der Sachverhalt ist, wie er sich bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides darstellt (ständige
Rechtsprechung des BVerwG, vgl. z. B. Urt. v. 16.01.1986 - 5 C 36.84 -, NDV 1986, 291; ebenfalls ständige Rechtsprechung des Senats). Der Senat legt den Antrag der Klägerin dementsprechend so aus, daß ihr Begehren
sich ausschließlich auf den genannten Zeitraum bezieht.
Die Beklagte muß der Klägerin laufende Hilfe zum Lebensunterhalt deshalb als Beihilfe gewähren, weil die Voraussetzungen des
§ 89 Satz 1 BSHG für eine darlehensweise Bewilligung der Hilfe nicht gegeben sind. Diese Vorschrift setzt unter anderem voraus, daß der Hilfesuchende
für seinen Bedarf Vermögen nach § 88 BSHG einzusetzen hat. Vermögen ist aber gemäß § 88 Abs. 1 BSHG nur das verwertbare Vermögen. Die Verwertbarkeit kann aus wirtschaftlichen und aus rechtlichen Gründen ausgeschlossen sein
(vgl. LPK-BSHG, 3. Aufl., § 88 RdNrn. 10 und 11). Rechtliche Unverwertbarkeit liegt unter anderem dann vor, wenn der Hilfesuchende einer - jedenfalls nicht
nur vorübergehenden - Verfügungsbeschränkung unterliegt. Eine von der Zeitdauer her absehbare und damit nur vorübergehende
Beschränkung dürfte die rechtliche Verwertbarkeit hingegen nicht ausschließen, weil § 89 Satz 1 BSHG gerade den Fall betrifft, daß die sofortige Verwertung des Vermögens nicht möglich ist und die Regelung bei zeitlich befristeten
Verfügungsbeschränkungen sonst leerliefe (vgl. Hess.VGH, Urt. v. 14.06.1988 - 9 UE 779/84 -, NDV 1989, 209).
Die Frage, was im Falle einer nur vorübergehenden Verfügungsbeschränkung gilt, kann aber im vorliegenden Fall offenbleiben,
da die Klägerin über ihr Vermögen, nämlich über ihr Erbe, auf unabsehbare Zeit, also gerade nicht nur vorübergehend, nicht
verfügen kann. Ihre Verfügungsbeschränkung ergibt sich aus §
2211 Abs.
1 BGB, weil ihre Mutter gemäß § 6 des Vertrages vom 25.01.1961 bis zu ihrem Tod oder ihrer Wiederverheiratung Testamentsvollstreckerin über den Nachlaß des
Vaters der Klägerin ist. Die Klägerin kann von ihrer Mutter auch keine Freigabe von Nachlaßgegenständen oder Nutzungen aus
Nachlaßgegenständen nach §§
2216 Abs.
1,
2217 Abs.
1 BGB verlangen, da die Auseinandersetzung des Nachlasses ausgeschlossen ist, bis die Mutter der Klägerin eine Nachlaßauseinandersetzung
wünscht, sich wieder verheiratet oder stirbt (vgl. § 4 Abs. 1 des Vertrages). Auch hat die Mutter einen Nießbrauch an den
Erbteilen ihrer Kinder. Zudem müßten alle Erben einen Freigabeanspruch gemeinsam geltend machen (vgl. Münchener Kommentar
zum
BGB, 2. Aufl., §
2217 RdNr. 5).
Da die übrigen Voraussetzungen für die Bewilligung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt unstreitig gegeben sind, ist die
Hilfe als Beihilfe zu gewähren.
Eine andere - hier aber nicht zu entscheidende Frage - ist es allerdings, ob die Klägerin dann, wenn sie tatsächlich einmal
über ihr Erbe wird verfügen können, dieses einzusetzen hat mit der Folge, daß ein weiterer Anspruch auf Sozialhilfe von diesem
Zeitpunkt an entfällt.